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§ 3 Grundentscheidungen der Verfassung

Autor:innen: Valentina Chiofalo, Louisa Linke, Johannes Siegel, Patrick Vrielmann, Jan-Louis Wiedmann

Bevor die verschiedenen Verbürgungen (Kapitel §§ 4 - 8 und § 9) und Akteure (Kapitel §§ 10 - 14) der Verfassung im Einzelnen vorgestellt werden, soll ein kurzer „Streifzug durch das Grundgesetz“ gewagt werden, der einen Überblick über die prägenden Entscheidungen der deutschen Verfassung gibt. Dabei werden vor allem

  • die Staatsstrukturprinzipien und Staatszielbestimmungen,

  • die Grundrechte,

  • die Grundzüge des Staatskirchenrechts und

  • die internationale Bezüge des Grundgesetzes

in den Blick genommen.

§ 3.1 Staatsstrukturprinzipien und Staatszielbestimmungen

Notwendiges Vorwissen: Die Verfassung als Grundlage des staatlichen Handelns

Lernziel: Verstehen des Unterschiedes zwischen Staatszielbestimmungen und Staatsstrukturprinzipien

Eine der wichtigsten Normen des Grundgesetzes, die am Beginn dieses Überblicks stehen soll, ist Art. 20 GG. Sie wird als „Verfassung in Kurzform“, als „Visitenkarte“ der Verfassung oder als Ausdruck des „Verfassungskern[s]“bezeichnet, da sie wichtige Grundentscheidungen der Verfassung trifft. Die in Art. 20 I bis III GG festgehaltenen Verfassungsprinzipien (sog. Staatsstrukturprinzipien) sind prägend für die Funktionsweise des deutschen Staates. Die Staatsstrukturprinzipien sind sehr generell gefasst und daher auf Konkretisierung durch speziellere Verfassungsvoschriften angewiesen. In ihrer Generalität prägen die Staatsstrukturprinzipien aber (nahezu) alle anderen Vorschriften des Grundgesetzes bzw. determinieren deren Inhalt.

Beispiel: In Art. 20 I, II GG ist das Demokratieprinzipniedergelegt. Diese Grundentscheidung des Art. 20 GG zur „Herrschaft des Volkes“ wird durch viele andere Verfassungsnormen konkretisiert, die ihrerseits Ausprägungen des Demokratieprinzips sind. So bringen etwa die Regeln über die Bundestagswahl (Art. 38 GG) oder über die Wahl der Bundeskanzler:innen (Art. 63 GG) das Demokratieprinzip bereichsspezifisch zum Ausdruck.

Weiterführendes Wissen Bindung der Länder

Die Staatsstrukturprinzipien prägen den deutschen Staat nicht nur auf der Ebene des Bundes. Über das in Art. 28 I 1 GG enthaltene Homogenitätsprinzip binden sie auch die einzelnen Bundesländer. Deren verfassungsmäßige Ordnungen müssen den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne des Grundgesetzes entsprechen. Auch die Staatszielbestimmungen (hierzu unten) gelten – jedenfalls soweit die Landesverfassungen keine vergleichbaren Zielbestimmungen enthalten – für die Länder.

Die einzelnen Staatsstrukturprinzipien

Art. 20 GG lassen sich fünf solcher Staatsstrukturprinzipien entnehmen. Die ersten vier, das Demokratie-, das Bundesstaats-, das Republik- und das Sozialstaatsprinzip, lassen sich ohne Weiteres aus Abs. 1 („Die Bundesrepublik ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.“) herauslesen. Das fünfte Statsstrukturprinzip, das Rechtsstaatsprinzip, ist nicht so einfach aus der Verfassung herauszulesen. Es wird üblicherweise aber auf Art. 20 III GG („Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.“) gestützt.

Mit diesen fünf Prinzipien trifft das Grundgesetz – stark verkürzt – die Grundentscheidung für eine staatliche Ordnung, die sich (1.) an Recht und Gesetz hält, (2.) vom Willen der Bevölkerung getragen ist, (3.) ihre Macht zwischen Bund und Ländern aufteilt (= Bundesstaatlichkeit/Föderalismus), (4.) sich von der Staatsform der Monarchie abgewendet hat (= Republik) und (5.) sozial ausgestaltet ist. Diese Grundentscheidungen sind natürlich noch sehr vage. Konkrete Rechtsfragen können nur selten unter Rückgriff auf die „allgemeinen“ Staatsstrukturprinzipien beantwortet werden. Daher werden die Staatsstrukturprinzipien durch weitere (Spezial-)Vorschriften konkretisiert.

Beispiel: Das Bundesstaatsprinzip sagt nichts darüber aus, ob das Schulwesen von den Bundesländern oder vom Bund geregelt werden darf. Hierfür bedarf es konkretisierender Kompetenzvorschriften. Es sagt lediglich aus, dass Bund und Ländern verschiedene Kompetenzen verliehen werden. In gleicher Weise gibt das Demokratieprinzip keine Auskunft darüber, durch welches Gremium Bundeskanzler:innen gewählt werden. Auch hierfür bedarf es einer konkreten Regelung. Das Demokratieprinzip gibt nur vor, dass die Besetzung des Kanzler:innenamts (mindestens mittelbar) auf den Willen des Volkes zurückführbar sein muss.

In der Regel werden die allgemeinen Staatsstrukturprinzipien daher nur herangezogen, um (im Rahmen einer systematischen Auslegung) den Inhalt der sie konkretisierenden (Spezial-)Vorschriften näher zu bestimmen. Sie haben aber durchaus auch einen eigenständigen normativen Gehalt. Dieser wird einerseits relevant, wenn es keine Spezialregelungen im Grundgesetz gibt; dann muss unmittelbar auf die Staatsstrukturprinzipien zurückgegriffen werden. Andererseits wird der eigenständige Gehalt der Staatsstrukturprinzipien bedeutsam, wenn die Verfassung geändert werden soll. Gemäß Art. 79 III GG, der sog. Ewigkeitsklausel, ist eine Verfassungsänderung nämlich unzulässig, wenn sie die in Art. 20 GG festgehaltenen Grundsätze (die Staatsstrukturprinzipien) berührt. Verfassungsänderungen sind also nur dann zulässig, wenn sie den Staatsstrukturprinzipien „im [A]llgemeinen Rechnung [tragen]“. Insoweit sind die Staatsstrukturprinzipien Maßstab der gesamten Rechtsordnung.

Beispiel: Ein (verfassungsänderndes) Gesetz, welches vorsähe, dass das Bundeskanzler:innenamt fortan nicht mehr durch Wahl, sondern durch Erbfolge erworben wird, wäre mit dem Republik- und dem Demokratieprinzip unvereinbar und daher gem. Art. 79 III i.V.m. Art. 20 I GG nichtig. Denn während das Demokratieprinzip zwar nicht vorgibt, wie genau das Kanzler:innenamt zu besetzen ist – diese Funktion übernimmt Art. 63 GG –, gibt es doch vor, dass die Bestimmung auf demokratischen Wege erfolgen muss (s.o.).

Weiterführendes Wissen

Zu bestimmen, worin der eigenständige normative Gehalt der Staatsstrukturprinzipien konkret liegt, bereitet erhebliche Probleme. Denn dieDemokratie, den Rechtsstaat oder den Bundesstaat gibt es schlicht nicht. Vielmehr gibt es ganz verschiedene Verständnisse von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und so weiter. Gemeint sein können in Art. 20 GG daher nur das Demokratie-, Rechtsstaats-, Republik-, Bundesstaats- und Sozialstaatsprinzip grundgesetzlicher Prägung. Doch wie ist dieses grundgesetzliche Verständnis der jeweiligen Prinzipien zu bestimmen?

Zunächst stehen die Staatsstrukturprinzipien und die sie konkretisierenden Einzelbestimmungen des Grundgesetzes in einem Verhältnis der wechselseitigen Beeinflussung: Einerseits verdeutlicht erst die Summe der Einzelregelungen, was das Grundgesetz unter „Demokratie“, „Rechtsstaat“ und Co. versteht; andererseits muss das so gewonnene übergeordnete Verständnis auch wieder in die Einzelvorschriften „hineingelesen“ werden. Hinzu kommt, dass die Staatsstrukturprinzipien maßgeblich durch das historisches Verfassungsverständnis, aber auch durch „neuere“ Impulse der Rechtsprechung und der Rechtswissenschaft geprägt werden. Zuletzt darf nicht übersehen werden, dass die Staatsstrukturprinzipien gerade wegen ihrer abstrakten Formulierung von einer Entwicklungsoffenheit geprägt sind. Die Interpretation der Staatsstrukturprinzipien ist daher nie abgeschlossen, sondern ein stetiger Prozess, der zwar von historischen, politischen und kulturellen Vorstellungen geprägt ist, aber auch einem Bedeutungswandel in der Zeit zugänglich ist.

Diese hoch-komplexe Normstruktur der Staatsstrukturprinzipien soll nicht abschreckend wirken. Klausurkonstellationen können ohne Weiteres gemeistert werden, wenn die gefestigten Einzelausprägungen der Staatsstrukturprinzipien (die in diesem Lehrbuch in Kapitel 2 behandelt werden) beherrscht werden. Die Entwicklungsoffenheit der Staatsstrukturprinzipien soll hier aber dennoch betont werden, um dem Missverständnis vorzubeugen, das hergebrachte Verständnis der Staatsprinzipien sei „in Stein gemeißelt“. Zwar darf die Entwicklungsoffenheit der in Art. 20 GG niedergelegten Prinzipien nicht mit Beliebigkeit verwechselt werden; sicherlich gibt es einige Kernelemente, die für die einzelnen Prinzipien unabdingbar sind. Gerade in den zahlreichen „Graubereichen“ darf es mit dem Verweis auf überkommene Verständnisse der Staatsstrukturprinzipien aber nicht sein Bewenden haben. Hier kann es vielmehr geboten sein, die den Staatsstrukturprinzipien zugrundeliegenden Erwägungen auf neue Situationen anzuwenden. Insoweit sollte die Entwicklungsoffenheit der in Art. 20 GG niedergelegten Staatsstrukturprinzipien (und der Verfassung im Allgemeinen) auch stets als Einladung zum kreativen Denken und Fortentwickeln der Verfassung verstanden werden.

Abgrenzung zu Staatszielbestimmungen

Eine gewisse Ähnlichkeit zu den Staatsstrukturprinzipien weisen die Staatszielbestimmungen auf. Auch hierbei handelt es sich um Bestimmungen, die von großer Bedeutung für das staatliche Handeln sind. Gleichwohl prägen die Staatszielbestimmungen die deutsche Staatlichkeit auf anderem Weg. Während die Staatsstrukturprinzipien Aussagen über die Art und Weise der staatlichen Aufgabenerfüllung treffen, geben die Staatszielbestimmungen dem Staat lediglich Ziele vor, die dieser (unter Wahrung der Staatsstrukturprinzipien) zu verfolgen hat. Zugespitzt könnte man sagen: Die Staatszielbestimmungen geben dem Staat auf, waser zu tun hat, während die Staatsstrukturprinzipien vorgeben wie er es zu tun hat.

Beispiel: Das Grundgesetz legt die Bundesrepublik Deutschland insbesondere auf den Schutz der Umwelt und der Tiere (Art. 20a GG), die Verwirklichung der Gleichberechtigung von Mann und Frau (Art. 3 Abs. 2 GG) und die europäische Integration (Art. 23 GG) fest.

Die Staatszielbestimmungen sind zwar verbindliche Verfassungsnormen, belassen dem Staat aber einen großen Spielraum bei der Erfüllung der Ziele.

Weiterführendes Wissen zur Abgrenzung von Staatsstrukturprinzipien und Staatszielbestimmungen

Trotz dieser klaren Unterschiede zwischen Staatsstrukturprinzipien und Staatszielbestimmungen ist die Einordnung nicht immer klar. So ist etwa umstritten, ob Art. 20 I GG („sozialer [Staat]“) ein Staatsstrukturprinzip oder ein Staatsziel der Sozialstaatlichkeit postuliert. Entscheidender als die theoretische Einordnung ist letztlich aber, dass man sich den normativen Gehalt der konkreten Verfassungsvorschrift vor Augen führt. Diese werden in den nächsten Kapiteln eingehend behandelt.

Weiterführende Studienliteratur

Kees, Die Staatsstrukturprinzipien in der Klausurbearbeitung, JA 2008, 795.

Schladebach, Staatszielbestimmungen im Verfassungsrecht, JuS 2018, 118.

Zusammenfassung: Die wichtigsten Punkte

  • Die Staatsstrukturprinzipien bilden die fundamentale Grundstruktur oder das Wesen des Staates. Sie lassen sich aus Art. 20 I-III GG herleiten.

  • Staatsstrukturprinzipien sind das Demokratieprinzip, das Rechtsstaatsprinzip, das Bundesstaatsprinzip, das Republikprinzip und das Sozialstaatsprinzip.

  • Auch Staatszielbestimmungen sind verbindliches Verfassungsrecht. Sie geben dem Staat aber nur bestimmte Ziele vor, bei deren Erreichung diesem ein großer Spielraum zukommt.

  • Als Staatsziele sind insbesondere der Umwelt- und Tierschutzauftrag (Art. 20a GG), das Gebot der Verwirklichung der Gleichberechtigung von Mann und Frau (Art. 3 II GG), sowie der Auftrag zur europäischen Integration (Art. 23 GG) zu nennen.

§ 3.2 Grundrechte

Notwendiges Vorwissen: Die Verfassung als Grundlage des staatlichen Handelns

Lernziel: Überblick über die Funktion der Grundrechte erhalten

Das Grundgesetz gewährt natürlichen und juristischen Personen wesentliche subjektiv-öffentliche Rechte, die Grundrechte, die dem ersten Abschnitt des Grundgesetzes, folglich den Grundrechtsbestimmungen der Art. 1 bis 19 GG, zu entnehmen sind. Der Staat darf dabei nur unter festgelegten Voraussetzungen in diese Rechte eingreifen.

Die Grundrechte werden unterschieden in Freiheits- und Gleichheitsrechte. Freiheitsrechte sind etwa die Meinungsfreiheit (Art. 5 I 1 HS 1 GG) oder die Berufsfreiheit (Art. 12 I 1 GG). Als Gleichheitsrecht kann der allgemeine Gleichheitssatz in Art. 3 I GG angeführt werden. Den Grundrechten kommt primär eine individualschützende Funktion zu, weisen aber auch eine objektiv-rechtliche Dimension auf, sie bilden etwa eine objektive Werteordnung. Die Grundrechte binden die Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung, Art. 1 III GG. Sie gelten aber auch mittelbar innerhalb eines Privatrechtsverhältnis.

Darüber hinaus verbirgt das Grundgesetz auch grundrechtsgleiche Rechte, die entsprechend den Grundrechten einzelne Rechte enthalten aber nicht im ersten Abschnitt des Grundgesetzes zu entnehmen sind. Als Beispiel können hier die Garantie des gesetzlichen Richters (Art. 101 I 2 GG), die Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 I GG) oder das Wahlrecht (Art. 38 I 1 GG) angeführt werden.

Vertieft werden die Grundrechte sowie die grundrechtsgleichen Rechte erst im Rahmen der Grundrechte-Vorlesung gelehrt. Dennoch können sie durch ihre grundlegende Bedeutung auch eine Relevanz im Staatsorganisations- oder Verwaltungsrecht beziehungsweise in anderen Rechtsgebieten entfalten. In staatsorganisationsrechtlichen Klausuren bietet sich dies an, da die verschiedenen Fragestellungen leicht miteinander kombiniert werden können. Als Beispiel kann hier das Wahlrecht genannt werden. Im Rahmen dieses Lehrbuches wird in den einzelnen Kapiteln noch näher auf die Kombinationsmöglichkeiten eingegangen. Für Erstsemester reicht zunächst ein allgemeiner Überblick über die Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte.

Weiterführende Studienliteratur

Zusammenfassung: Die wichtigsten Punkte

  • Das Grundgesetz enthält Grundrechte sowie grundrechtsgleiche Rechte. Es handelt sich hierbei um wesentliche subjektiv-öffentliche Rechte der natürlichen und juristischen Personen. Die Grundrechtsbestimmungen sind dem ersten Abschnitt des Grundgesetzes zu entnehmen, die grundrechtsgleichen Rechte finden sich verteilt im Grundgesetz wieder.

  • Grundrechte weisen neben einem individual-schützenden Charakter auch eine objektiv-rechtliche Dimension auf.

§ 3.3 Grundzüge des Staatskirchenrechts

Notwendiges Vorwissen: Grundkenntnisse zur Religionsfreiheit sind hilfreich

Lernziel: Verhältnis zwischen Staat und Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaften verstehen

Das Staatskirchenrecht bezeichnet den Rechtsbereich, der das Verhältnis zwischen dem Staat und der Religion regelt. Es beruht im Wesentlichen auf zwei Säulen: Die durch Art. 140 GG inkorporierten Vorschriften der Weimarer Reichsverfassung und der Religionsfreiheit aus Art. 4 I, II GG. Daneben sind in Art. 3 III GG und Art. 33 III GG besondere Gleichbehandlungsrechte bzw. Differenzierungsverbote geregelt. Für den Religionsunterricht in öffentlichen Schulen gibt es die Spezialnormen Art. 7 II, III GG und Art. 141 GG. Daneben bestehen landesverfassungsrechtliche Normen, einfache Gesetze auf Bundes- wie auf Landesebene und staatskirchenrechtliche Verträge sowie völkerrechtliche Regelungen, die in dieser Betrachtung allesamt ausgeklammert werden sollen.

Begriff des Staatskirchenrechts

Der traditionelle Begriff des „Staatskirchenrechts“ entwickelte sich zur Bezeichnung des Rechts, das sich mit dem Verhältnis von Staat und Kirchen beschäftigt. Es zeigt, dass sich dieses Rechtsgebiet in Europa nach der neuzeitlichen Trennung von Staat und christlicher Kirche durch ein Nebeneinander, ein Mit- und Gegeneinander von weltlicher Gewalt (imperium) und geistlicher Gewalt (sacerdotium) herausgebildet hat. Das heutige Staatskirchenrecht ist aber offen gegenüber allen Religionen und setzt auch die Weltanschauungsgemeinschaften mit den Religionsgemeinschaften gleich (Art. 137 VII WRV i.V.m. Art. 140 GG).

Dennoch wird schon länger vorgeschlagen, den Begriff des Staatskirchenrechts durch den des „Religionsverfassungsrechts“ oder des „Religionsrechts“ zu ersetzen, um der zunehmenden Entkirchlichung und religiös-weltanschaulichen Pluralisierung der Gesellschaft gerecht zu werden. Das BVerfG sprach anfangs nur von Staatskirchenrecht verwendet mittlerweile aber beide Begriffe parallel. Mit dem Begriff des Religionsverfassungsrechts wird zusätzlich eine stärkere Betonung der grundrechtlichen Seite des Verhältnisses von Staat und Religion verbunden, während der Begriff Staatskirchenrecht die institutionellen Aspekte der durch Art. 140 GG inkorporierten Normen herausstellt.

Der Streit muss und kann hier nicht entschieden werden. Es sei insofern darauf hingewiesen, dass diese Begriffe in etwa dasselbe meinen können, dass Begriffe im Allgemeinen aber nicht beliebige Bezeichnungen sind, sondern durchaus den Begriffsinhalt bestimmen, zumindest beeinflussen können. Hier soll im Folgenden vom Staatskirchenrecht gesprochen werden. Erstens ist die Missverständlichkeit und Ungenauigkeit von Religions(verfassungs)recht als Begriff größer als die der Bezeichnung Staatskirchenrecht, sodass ein Abweichen von tradierten Begriffen nicht notwendig erscheint. Zweitens verbleibt nach hier vertretener Auffassung ein eigenständiger institutioneller Bereich der durch Art. 140 GG in das Grundgesetz aufgenommenen – und zweifelsohne durch Art. 4 I, II GG stark geprägten – Regelungen. Gerade wegen dieser institutionellen Komponente sollte das Staatskirchenrecht nicht nur in einem Lehrbuch zu den Grundrechten als Randnotiz zu Art. 4 GG erörtert werden, sondern gehört auch zum Staatsorganisationsrecht.

Einordnung von Art. 140 GG

Regelungstechnik

Die Regelungstechnik des Art. 140 GG ist im Grundgesetz einzigartig. Die Norm wurde in die Übergangs- und Schlussbestimmungen des Grundgesetzes eingefügt und lässt die „Bestimmungen der Artikel 136, 137, 138, 139 und 141 der deutschen Verfassung vom 11. August 1919 [...] Bestandteil dieses Grundgesetzes“ werden.

Weiterführendes Wissen

Ursprünglich waren über Art. 4 I, II GG hinausgehende, institutionelle Regelungen über das Verhältnis von Staat und Kirche nicht vorgesehen. Auf Drängen der beiden großen Kirchen und auf Antrag der Deutschen Partei (DP) sollten solche Regelungen doch aufgenommen werden. Weil sich die Abgeordneten des Parlamentarischen Rates nicht einigen konnten, wurde als Kompromiss diese spezielle Regelungstechnik gewählt. Bereits in der Weimarer Nationalversammlung traten deutliche weltanschauliche Gegensätze zutage, weswegen auch die „Kirchenartikel“ der WRV das Ergebnis eines Kompromisses darstellen. Insofern wird die Inkorporation der Weimarer Kirchenartikel heute als doppelter Kompromiss bezeichnet.

Normstatus

Es besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass die aus der WRV übernommenen Artikel vollgültiges Verfassungsrecht („Bestandteil dieses Grundgesetzes“) und damit gegenüber den anderen Normen des Grundgesetzes gleichrangig sind. Sie bilden mit den Normen des Grundgesetzes ein „organisches Ganzes“. Wie schon der Parlamentarische Rat festgestellt hat, sind die inkorporierten Artikel der Reichsverfassung entsprechend im Lichte des Grundgesetzes und nicht als Teil der Weimarer Verfassung auszulegen.

Verhältnis zu Art. 4 I, II GG

Vor diesem Hintergrund besteht eine starke Wechselwirkung zwischen Art. 4 I, II GG und den Gewährleistungen durch Art. 140 GG, die bei der Auslegung zu berücksichtigen ist. Art. 4 I, II GG garantiert dem Einzelnen sowie Glaubensgemeinschaften religiöse und weltanschauliche Freiheiten. Die über Art. 140 GG inkorporierten Vorschriften betreffen vor allem das institutionelle Verhältnis von Staat und Religions- bzw. Weltanschauungsgemeinschaften, enthalten aber auch einzelne freiheitsrechtliche Elemente für diese, sodass Überschneidungen vorgezeichnet sind, vor allem vor dem Hintergrund der extensiven Auslegung der Religions(ausübungs)freiheit. „Die Gewährleistungen der Weimarer Kirchenartikel sind funktional auf die Inanspruchnahme und Verwirklichung des Grundrechts der Religionsfreiheit angelegt“, umgekehrt sind die Institute des Staatskirchenrechts nach Art. 140 GG ergänzende und konkretisierende „Mittel zur Erleichterung und Entfaltung der Religionsfreiheit“.

Verfassungsprozessuale Durchsetzung

Unterschiedlich wird beurteilt, ob insbesondere die Gewährleistungen der Weimarer Kirchenartikel mit freiheitsrechtlichem Charakter direkt über eine Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden können. Dies wird überwiegend abgelehnt, weil Art. 140 GG nicht vom Grundrechtsabschnitt am Anfang des Grundgesetzes umfasst ist und darüber hinaus nicht in der Aufzählung der grundrechtsgleichen Rechte in Art. 93 I Nr. 4a GG genannt wird. Andererseits wird angeführt, dass die inkorporierten Vorschriften dem Grundrechtsteil der Weimarer Verfassung entstammen. Zum Teil wird den freiheitsrechtlich gestalteten Gewährleistungen der aus der WRV übernommenen Vorschriften ein grundrechtsgleicher oder grundrechtsähnlicher Charakter zugesprochen. Wegen der weiten Auslegung des Art. 4 I, II GG wird in der Praxis aber bei Verstößen gegen Art. 140 GG regelmäßig die Behauptung, im Recht auf Religionsfreiheit verletzt zu sein, zur Begründung der Beschwerdebefugnis (§ 90 BVerfGG) ausreichen. Wenn die Verfassungsbeschwerde über Art. 4 GG „als Einfallstor oder als prozessualer Hebel“ zulässig ist, überprüft das BVerfG üblicherweise in der Begründetheit auf jeglichen Verfassungsverstoß, sodass auch oder sogar ausschließlich die Gewährleistungen des Art. 140 GG überprüft werden.

Verhältnis des Staates zur Religion

Weltliche und geistliche Sphäre sind im deutschen Staat nicht streng laizistisch getrennt, sondern man spricht vielmehr vom säkularen Staat. Das Verhältnis zwischen Staat und Kirche nach dem Grundgesetz ist ein deutsches Proprium: Man könnte es mit freundlich-kooperativer Trennung beschreiben, mit negativer Konnotation wird auch von „hinkender Trennung“ gesprochen. Dieses System der Trennung funktioniert nur, wenn der Staat den einzelnen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften gegenüber neutral ist und sie gleich behandelt.

Trennung und Kooperation

Zentral für das Verhältnis des deutschen Staates zur Religion ist das Verbot der Staatskirche (Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 I WRV). Der deutsche Staat unter dem Grundgesetz ist säkular, d.h. eine institutionelle Verflechtung von Staat und Kirche ist grundsätzlich unzulässig. Der Staat darf nicht in die Religionsgemeinschaften hineinwirken und umgekehrt.

Weiterführendes Wissen

Was heute selbstverständlich ist, war lange anders: Staat und Kirche waren im gesamten Mittelalter eng verbunden, im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation war die Verbindung bereits im Namen angelegt. Die Reformation wirbelte das Verhältnis von geistlicher und weltlicher Macht durcheinander, bildete aber auch eine eigene (evangelische) Verbindung von Staat und Kirche heraus: das landesherrliche Kirchenregiment, bei dem die bischöflichen Herrschaftsrechte direkt beim Landesherrn lagen.

Ausprägung der Trennung von Staat und Kirche sind auch die in Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 WRV niedergelegten Grundsätze: Die staatsbürgerlichen Rechte und der Zugang zu öffentlichen Ämtern sind unabhängig vom religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnis (Abs. 1 und 2). Niemand kann verpflichtet werden, seine religiöse Überzeugung zu offenbaren (Abs. 3) oder an einer religiösen Handlung teilzunehmen (Abs. 4). Diese Gewährleistungen sind aber auch ganz überwiegend Ausformungen der individuellen (positiven wie negativen) Religionsfreiheit und bereits von Art. 4 I, II GG sowie von den Gleichheitsrechten in Art. 3 I, III 1, 33 III GG erfasst. Art. 136 WRV sichert, ergänzt und effektuiert damit lediglich die genannten Rechte.

Das Grundgesetz sieht an einigen Stellen Ausnahmen vom Grundsatz der Säkularität vor und gibt dem Staat sogar explizit auf, mit den Religionsgemeinschaften zusammenzuarbeiten. Dies betrifft vor allem den Religionsunterricht in staatlichen Schulen (Art. 7 II, III GG). Daneben ist auch die sog. Anstaltsseelsorge betroffen (Art. 140 GG i.V.m. Art. 141 WRV): Die Religionsgemeinschaften dürfen im Heer, in Krankenhäusern, Strafanstalten und sonstigen öffentlichen Anstalten religiöse Handlungen vornehmen, soweit das Bedürfnis dazu besteht. Zudem darf der Staat für die Religionsgemeinschaften die Kirchensteuer einziehen (Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 VI WRV) und es werden nach wie vor Staatsleistungen an die Kirchen erbracht (Art. 140 GG i.V.m. Art. 138 I WRV).

Weiterführendes Wissen

Die Staatsleistungen der Länder an die Kirchen sind Entschädigungsleistungen infolge der Säkularisation von Kirchengütern insbesondere im Zusammenhang mit dem Reichsdeputationshauptschluss 1803. Bereits die Weimarer Nationalversammlung hat sich darauf geeinigt, dass diese Staatsleistungen schonend abgelöst, die Kirchen also einmalig entschädigt werden sollen, um so eine stärkere Entflechtung von Staat und Kirche zu erreichen. Der Gesetzgeber ist diesem Verfassungsauftrag über 100 Jahre nicht nachgekommen. 2020 lag ein Gesetzentwurf der Fraktionen FDP, DIE LINKE und Bündnis 90/DIE GRÜNEN sowie einer der AfD-Fraktion vor; beide wurden abgelehnt.

Neutralität

Aus der Säkularität folgt zwingendermaßen ein Gebot zur religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates. „Der Staat, in dem Anhänger unterschiedlicher oder gar gegensätzlicher religiöser und weltanschaulicher Überzeugungen zusammenleben, kann die friedliche Koexistenz nur gewährleisten, wenn er selber in Glaubensfragen Neutralität bewahrt.“ Das Gebot stützt sich neben dem Verbot der Staatskirche auch noch auf Normen der Religionsfreiheit (Art. 4 I, II, 140 GG i.V.m. Art. 136 I, IV WRV) und spezielle Gleichheitsrechte (Art. 3 III 1, 33 III GG). Dem Staat ist es also strikt verboten, sich in die internen Angelegenheiten der Religionsgemeinschaften einzumischen (Interventionsverbot), sei es durch Rechtsakt oder durch informale Tätigkeiten. Neutralität bedeutet zudem, dass der Staat nicht für einzelne Religionsgemeinschaften Partei ergreifen, sich nicht mit ihnen identifizieren darf. Dieses Identifikationsverbot ist nicht sehr trennscharf. Vor allem folgt daraus nicht, dass der Staat sich Religion gegenüber stets indifferent verhalten müsste oder religiöse Aktivitäten seiner Bürger nicht fördern dürfte.

Beispiel zum Identifikationsverbot: Gerade öffentliche Bereichen, die Menschen sowohl als Staatsbürger als auch als Gläubige betreffen, sind konfliktträchtig. Beispielsweise das öffentliche Schulwesen ist religiösen Bezügen gegenüber durch Art 7 GG geöffnet.

Das Anbringen eines Kreuzes oder Kruzifixes in staatlichen Pflichtschulen verstößt beispielsweise gegen das Identifikationsverbot. Zwar gibt es kein Recht, im öffentlichen Raum von fremden Glaubensbekundungen und religiösen Symbolen verschont zu bleiben, aber Art. 4 I GG verbietet in seiner negativen Ausprägung, dass der Staat selbst ein Lage schafft, in der der oder die Einzelne einem bestimmten Glauben nicht mehr ausweichen kann. Auch dort, wo der Staat mit einzelnen Glaubensrichtungen zusammenarbeitet, darf es wegen des Neutralitätsgebotes nicht zu einer Identifikation des Staates mit dieser Glaubensrichtung kommen.

Auf der anderen Seite kann die Neutralitätspflicht des Staates ohne spezialgesetzliche Grundlage kein Verbot für Lehrkräftebegründen, in Schule und Unterricht ein Kopftuch zu tragen, weil die Neutralität „nicht als eine distanzierende im Sinne einer strikten Trennung von Staat und Kirche, sondern als eine offene und übergreifende, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung zu verstehen“ ist.

Hier ist das Kopftuch weniger Ausdruck einer religiösen Gesinnung des Staates als vielmehr der einzelnen Lehrerin, während ein an der Wand hängendes Kreuz unmittelbar und vollumfänglich dem Staat zuzurechnen ist. Letzterem ausgesetzt zu sein, muss der:die Bürger:in nicht akzeptieren, wohingegen man die Religionsbekundungen einzelner Personen in einem gewissen Maß aushalten muss (Toleranz im eigentlichen Wortsinn).

Parität

Nicht zuletzt leitet sich aus dem Verbot der Staatskirche sowie aus dem allgemeinen Gleichheitssatz in Art. 3 I GG das Gebot für den Staat ab, alle Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften gleich zu behandeln. Das Prinzip der Parität meint jedoch keine schematische Gleichbehandlung, sondern es gilt der Grundsatz der allgemeinen Verfassungsdogmatik, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln, wenn nicht ein sachlicher Grund eine andere Behandlung rechtfertigt. Demnach kann beispielsweise anhand der Größe und Verbreitung der Religionsgemeinschaft differenziert werden, keinesfalls aber anhand ihres Bekenntnisinhalts oder aufgrund von Traditionen.

Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften

Der Begriff der „Religionsgesellschaft“ ist für das Staatskirchenrecht und die korporative Religionsfreiheit von zentraler Bedeutung. Den Religionsgesellschaften bzw. -gemeinschaften gleichgestellt sind die Weltanschauungsgemeinschaften(Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 VII WRV). Dies entspricht auch der Wertung in Art. 4 I GG. Alles was bisher und im Folgenden über die Religionsgemeinschaften gesagt wurde, gilt also ebenso für die Vereinigungen, „die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Weltanschauung zur Aufgabe machen“.

Natürliche wie juristische Personen können sich gem. Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 II WRV frei und ohne staatliche Beschränkungen zu solchen Vereinigungenzusammenfinden. Ein solcher Zusammenschluss ist bereits Ausdruck der kollektiven Bekenntnis- und Religionsausübungsfreiheit aus Art. 4 I, II GG und von dieser vollständig umfasst, sodass Art. 137 II WRV kein eigener Regelungsgehalt verbleibt.

Das Grundgesetz verwendet mit Religionsgemeinschaften in Art. 7 III GG und mit Religionsgesellschaften in den durch Art. 140 GG inkorporierten Vorschriften zwei unterschiedliche Begriffe, deren unterschiedliche Verwendung allein aus der Entstehungsgeschichte zu verstehen ist, die aber dieselbe Bedeutung haben. Im Allgemeinen wird der neuere Begriff der Religionsgemeinschaft heute als vorzugswürdig angesehen.

Voraussetzungen einer Religionsgemeinschaft

Eine Religionsgemeinschaften ist nach der immer noch verwendeten, „klassischen“ Definition „ein die Angehörigen eines und desselben Glaubensbekenntnisses – oder mehrerer verwandter Glaubensbekenntnisse [...] – für ein Gebiet [...] zusammenfassender Verband zu allseitiger Erfüllung der durch das gemeinsame Bekenntnis gestellten Aufgaben.“ Bei der Frage, ob es sich um eine Religionsgemeinschaft handelt, muss vor dem Hintergrund der Religionsfreiheit und des Gebotes religiös-weltanschaulicher Neutralität des Staates das Selbstverständnis der Gemeinschaft berücksichtigt werden; allerdings reicht die bloße Behauptung nicht aus, „vielmehr muß es sich auch tatsächlich, nach geistigem Gehalt und äußerem Erscheinungsbild, um eine Religion und Religionsgemeinschaft handeln“. Diese Frage unterliegt der staatlichen Letztentscheidung.

Weiterführendes Wissen

Man kann die Merkmale der Definition noch etwas präzisieren:

  • Ein auf Dauer angelegter Zusammenschluss von mindestens zwei Personen mit einem „Minimum an organisatorischer Struktur“ ist erforderlich.

  • Innerhalb der Vereinigung muss ein religiöser oder weltanschaulicher Konsens i.S.d. Art. 4 I, II GG bestehen, der dem Grunde nach homogen ist und in der Praxis bestätigt wird.

  • Die Vereinigung muss auf die umfassende Erfüllung der aus dem gemeinsamen Bekenntnis folgenden Aufgaben gerichtet sein. Dieses Merkmal dient der Abgrenzung zu religiösen Vereinen, die auch in Art. 140 GG i.V.m. Art. 138 II WRV von den Religionsgemeinschaften unterschieden werden. Religiöse Vereine bezwecken lediglich die Erfüllung einzelner, z.B. karitativer oder wirtschaftlicher Aufgaben der Religion.

  • Grundsätzlich dürfen sich Religionsgemeinschaften auch wirtschaftlich, politisch oder gesellschaftlich betätigen. Die Grenze, ab der es sich dann aber nicht mehr um eine Religionsgemeinschaft handelt, ist jedenfalls dort anzusetzen, wo die Religion nur als Vorwand dient. Teils wird auch vertreten die Religion müsse überwiegen, den Schwerpunkt der Gemeinschaft bilden, zentral sein.

Beispiel: In Bezug auf islamische Vereine und Verbände ist es beispielsweise höchst umstritten, ob diese Religionsgemeinschaften darstellen. Probleme hierbei stellen u.a. unklare Mitgliedschaftsregelungen, ein möglicherweise fehlendes personales Substrat bei Dachverbänden und eventuelle politische Lenkung einzelner Vereinigungen aus dem Ausland dar.

Arten von Religionsgemeinschaften

Es gibt unterschiedliche Arten von Religionsgemeinschaften.

Privatrechtliche Religionsgemeinschaften

Grundsätzlich erwerben die Religionsgemeinschaften ihre Rechtsfähigkeit nach dem bürgerlichen Recht (Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 IV WRV). Das bedeutet, es kann rechtsfähige und nicht rechtsfähige Gemeinschaften geben. Von praktischer Bedeutung für die Teilnahme am Rechtsverkehr sind damit im Wesentlichen das BGB und das VereinsG. Die Religionsgemeinschaften können sich also als Verein i.S.d. § 21 BGB ins Vereinsregister eintragen lassen.

Öffentlich-rechtliche Religionsgemeinschaften

Neben den privatrechtlich organisierten Religionsgemeinschaften gibt es auch solche, die den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts erlangt oder innehaben (Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 V WRV). Wenn eine Religionsgemeinschaft diesen Status bereits vor dem Inkrafttreten der WRV innehatte, gilt sie als geborene Körperschaft des öffentlichen Rechts (S. 1). Allen anderen Religionsgemeinschaften ist auf Antrag der gleiche Status zu gewähren, „wenn sie durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr der Dauer bieten“ (S. 2); in diesem Fall spricht man von einer gekorenen Körperschaft des öffentlichen Rechts. Schließen sich mehrere solcher öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaften zu einem Verband zusammen, so ist dieser ebenfalls eine Körperschaft des öffentlichen Rechts (S. 3).

Der öffentlich-rechtliche Status einer Religionsgemeinschaft bedeutet nicht, dass sie nicht mehr grundrechtsberechtigt, sondern grundrechtsverpflichtet wäre. Vielmehr ist der besondere Status ein „Mittel zur Entfaltung der Religionsfreiheit“. Öffentlich-rechtlich organisierte Religionsgemeinschaften sind nicht in die staatliche Gewalt eingeordnet, sondern ihr vielmehr nach wie vor unterworfen, sodass ihnen dieselben Grundrechte zustehen wie privatrechtlich organisierten Religionsgemeinschaften.

Zudem kommen den öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaften besondere Befugnisse zu, von denen manche als Privilegienbündel zusammengefasst werden. Dazu gehören u.a.:

  • Gem. Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 VI WRV können sie von ihren Mitgliedern Steuern erheben, die der Staat für sie einzieht.

  • Sie besitzen Dienstherrenfähigkeit, d.h. sie können öffentlich-rechtliche Dienstverhältnisse begründen, die nicht dem Arbeits- oder Sozialversicherungsrecht unterliegen.

  • Ihnen kommen gewisse Vorteile im Steuer-, Gebühren- und Kostenrecht zu.

  • Sie können amtliche Beglaubigungen vornehmen und öffentliche Urkunden ausstellen.

Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften

Unabhängig von ihrem privat- oder öffentlich-rechtlichen Status kommt jeder Religionsgemeinschaft das Recht zu, ihre Angelegenheiten selbständig zu ordnen und verwalten (Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 III 1 WRV). „Die Garantie freier Ordnung und Verwaltung der eigenen Angelegenheiten (Art. 137 Abs. 3 WRV) erweist sich als notwendige, wenngleich rechtlich selbständige Gewährleistung, die der Freiheit des religiösen Lebens und Wirkens der Kirchen und Religionsgemeinschaften die zur Wahrnehmung dieser Aufgaben unerläßliche Freiheit der Bestimmung über Organisation, Normsetzung und Verwaltung hinzufügt“. Das selbständige Ordnender eigenen Angelegenheiten verbietet jegliche staatliche Einflussnahme auf die kirchliche Rechtsetzung. Das Recht auf selbständige Verwaltung sichert die freie Betätigung der Organe einer Religionsgemeinschaft zur Bewältigung aller vom Bekenntnis gesetzten Aufgaben. Hiervon sind nur die eigenen Angelegenheitenbetroffen, also nicht allein staatliche oder gemeinsame Angelegenheiten.

Beispiel eigene Angelegenheiten:

  • Verfassung und Organisation der Religionsgemeinschaft

  • Ausgestaltung und Durchführung kultischer Handlungen

  • freie Ämterbesetzung (deklaratorisch in Art. 137 III 2 WRV)

  • Mitgliedschaft in der Religionsgemeinschaft (Ein-/Austritt, Rechte und Pflichten)

  • eigene Rechtsprechung

Beispiel staatliche Angelegenheit: Die Strafverfolgung ist genuine staatliche Aufgabe. Insofern steht es beispielsweise bei Vorwürfen sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen durch kirchliche Amtsträger den Kirchen zwar frei, von ihrem Selbstveraltungsrecht Gebrauch zu machen und eigene Disziplinar- und Strafmaßnahmen zu erlassen. Das Recht auf kirchliche Selbstverwaltung hindert jedoch nicht staatliche Strafverfolgung im durch die StPO vorgegebenen Rahmen, auch wenn zum Teil dieser Eindruck erweckt wird.

Das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften unterliegt den „Schranken des für alle geltenden Gesetzes“. Dieser Gesetzesvorbehalt „hat die gleiche Funktion und Bedeutung wie die Schrankenklausel in Art. 5 II GG“, der der Meinungs- und Pressefreiheit die Schranke der allgemeinen Gesetze setzt. Die Schranke dient dazu, zwei Rechtsgüter zu einem schonenden Ausgleich bei gleichzeitig optimaler Wirksamkeit zu bringen.

Weiterführende Studienliteratur

Komplexer Fall, aber gutes Beispiel für Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde und gutes Anwendungsbeispiel: Hauptstadtfall „Wem die Stunde schlägt“.

von Campenhausen/de Wall, Staatskirchenrecht, 5. Aufl. 2022 (im Erscheinen).

Zusammenfassung: Die wichtigsten Punkte

  • Durch die Inkorporation der sog. Weimarer Kirchenartikel durch Art. 140 GG in das Grundgesetz werden diese zu vollgültigem Verfassungsrecht.

  • „Religionsverfassungsrecht“ betont den Schutz von Individualrechten, „Staatskirchenrecht“ die institutionellen Garantien. Beide Begriffe dienen aber zur Bezeichnung desselben Rechtsgebietes, das das Verhältnis des Staates zu allen Religionen und Weltanschauungen insgesamt umfasst.

  • Entsprechend besteht eine Wechselwirkung zwischen der Religionsfreiheit in Art. 4 I, II GG und den Gewährleistungen des Art. 140 GG. Das Verhältnis der Normen ist immer im Einzelnen zu bestimmen.

  • Die Gewährleistungen des Art. 140 GG können über eine mögliche Verletzung der Religionsfreiheit im Zuge einer Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden.

  • Staat und Religionsgemeinschaften sind freundlich-kooperativ voneinander getrennt. Deshalb hat der Staat sich neutral gegenüber allen Religionsgemeinschaften zu verhalten und muss sie grundsätzlich gleich behandeln.

  • Religionsgemeinschaften können neben der privatrechtlichen Organisationsform auch den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts wählen.

  • Den Religionsgemeinschaften steht ein umfassendes Selbstbestimmungsrechtfür ihre eigenen Angelegenheiten zu (Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 III WRV).

§ 3.4 Internationale Bezüge des GG

Notwendiges Vorwissen: Keins.

Lernziel: kurze Darstellung der rechtlichen Verknüpfungen des Staatsorganisationsrecht über das Verfassungsrecht hinaus zur internationalen Ebene kennenlernen

In den bisherigen Kapiteln beschäftigten wir uns ausschließlich damit, wie das Grundgesetz das Recht im Staat selbst organisiert. Darüber hinaus kennt das Grundgesetz auch Regelungen dazu, wie die Bundesrepublik Deutschland im internationalen Rechtsverkehr auftreten kann und vor allem auch, wie internationales Recht seinen Weg in die deutsche Rechtsordnung finden kann. Man spricht dabei auch von der auswärtigen Gewalt und dem offenen Verfassungsstaat. Damit soll die Öffnung der nationalen Souveränität zu Gunsten des Völkerrechts beschrieben werden. Völkerrecht ist das Recht, das die Beziehungen zwischen den Staaten beschreibt. Aus dem Völkerrecht hat sich als Sonderform das Unionsrecht, das Recht der Europäischen Union, entwickelt. Neben der Europäischen Union soll auch der davon streng abzugrenzende Europarat dargestellt werden und die mit ihm verbundene Europäische Menschrechtskonvention (EMRK).

Die relevante Normen

Das Grundgesetz äußert sich nicht nur zum deutschen Verfassungsrecht. Es ordnet dieses auch in das internationale Staaten- und Rechtsgefüge ein. Bereits die Präambel des Grundgesetzes spricht davon, dass es einem vereinten Europa und dem Frieden der Welt dienen solle. Art. 23 GG beschreibt die Europäische Integration, Art. 24 I GG ermöglicht die Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Organisationen, Art. 25 GG ordnet das Verhältnis der allgemeinen Regeln des Völkerrechts zum Bundesrecht, Art. 26 GG verbietet Handlungen, wie den Angriffskrieg, die das friedliche Zusammenleben der Völker gefährden können, Art. 32 I GG weist dem Bund die Zuständigkeit der Pflege internationaler Beziehungen zu, Art. 59 I GG erklärt weiter, dass der:die Bundspräsident:in den Bund völkerrechtlich vertritt sowie dass gem. Art. 59 II GG Verträge, welche die politischen Beziehungen des Bundes regeln oder sich auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung beziehen, der Zustimmung oder der Mitwirkung der jeweils für die Bundesgesetzgebung zuständigen Körperschaften in der Form eines Bundesgesetzes bedürfen.

Das Grundgesetz und Völkerrecht

Das Grundgesetz regelt die Öffnung der Verfassung für das Völkerrecht. In diesem Zusammenhang wird auch von der auswärtigen Gewalt gesprochen. Dabei ist zu unterscheiden zwischen der rechtlichen Wirkung nach außen und der innerstaatlichen Willensbildung.

Verbandskompetenz

Die Kompetenzverteilung ist im Grundgesetz selbst ausdrücklich normiert. Gem. Art. 32 I GG liegt die Kompetenz für die auswärtigen Beziehungen beim Bund. Er ist für die Pflege internationaler Beziehungen verantwortlich und hat die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz für auswärtige Angelegenheiten (Art. 73 I Nr. 1 GG). Dennoch sind die Länder völkerrechtlich nicht ohne Handlungsmöglichkeiten. Gem. Art. 32 III GG können sie im Rahmen der eigenen Gesetzgebungskompetenz mit Zustimmung der Bundesregierung völkerrechtliche Verträge abschließen. Wie Art. 32 III GG genau auszulegen ist, ist in der Wissenschaft weiterhin umstritten. Es bestehen zwei sich entgegenstehende Auslegungsmöglichkeiten. Zum einen die föderalistische Theorie, wonach die Kompetenz nur bei den Ländern liegt und zum anderen die zentralistische Theorie, wonach im Fall von Kompetenzfeldern der Länder diese lediglich auch die Kompetenz für völkerrechtliche Verträge haben. Die Rechtspraxis fand dagegen in Form des Lindauer Abkommens eine pragmatische Lösung. Demnach muss der Bund im Rahmen der auswärtigen Gewalt in den Bereichen, in denen den Ländern eine Gesetzgebungskompetenz zusteht, diese auch am Verfahren beteiligen.

Weiterführendes Wissen zum Lindauer Abkommen

Die Folge aus der pragmatischen Praxislösung ist jedoch, dass keine der beiden Auslegungsvarianten zum Zug kommt. Unter der Annahme, dass entweder die föderalistische oder die zentralistische Theorie richtig ist, ist die Lösung in der Praxis stets verfassungswidrig, da sie keiner der beiden Ansichten folgt.

Organkompetenz

Wenn der Bund die Kompetenz zum Abschluss eines völkerrechtlichen Vertrages hat, dann besteht weiterhin die Frage welches Organ des Bundes im konkreten Fall handlungsbefugt ist. Die in Art. 59 I GG an den:die Bundespräsident:in übertragenen Kompetenzen beschreiben zum einen repräsentative Elemente. Zum anderen übernimmt der:die Bundespräsident:in die Rolle der:des Staatsnotar:in und muss daher formalen Aufgaben, wie der Ratifikation von völkerrechtlichen Verträgen, nachkommen. Das Aushandeln der Verträge wird dagegen der Exekutive zugeschrieben. Konkret für die Exekutive handelt dabei regelmäßig das Auswärtige Amt und das Bundeskanzleramt im Rahmen der Richtlinienkompetenz aus Art. 65 S.1 GG. Zu Gunsten des Bundestags besteht dagegen im Sinne der Gewaltenteilung gem. Art. 59 II GG ein Zustimmungserfordernis als Kontrollfunktion für besondere Vertragskonstellationen, wie beispielweise Verträge, die die politischen Beziehungen des Bundes betreffen. Im Fall einer Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche, also internationale, Einrichtungen muss gem. Art. 24 I GG ebenso der Bundestag in Form eines Gesetzes beteiligt werden.

Handlungsmöglichkeiten

Das Grundgesetz ermöglicht somit zum einen, dass Verträge mit anderen Staaten geschlossen werden und zum anderen die Übertragung von Hoheitsrechten auf internationale Organisationen. Übertragung von Hoheitsrechten auf internationale Organisationen bedeutet konkret, dass diese im Staatsgebiet unmittelbar Hoheitsrechte ausüben können, wie beispielsweise die Europäische Patentorganisation. Jedoch ist es für eine internationale Organisation nicht konstitutiv, dass auf diese auch Hoheitsrechte übertragen werden, vielmehr fordert Art. 24 I GG nur in diesem speziellen Fall zur Umsetzung ein Gesetz.

Beispiel zu völkerrechtlichen Verträgen: Völkerrechtliche Verträge gibt es zu zahlreichen Themengebieten, beispielsweise Verträge,

  • die Formalien des Völkerrechts bestimmen, wie das Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge;

  • die Menschenrechte bestimmen, wie der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPwskR)oder der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR).

Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes

Unter dem Begriff der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes beschreibt man die Öffnung des Grundgesetzes zu Gunsten des Völkerrechts und der internationalen Zusammenarbeit. Sie wird bereits aus der Struktur des Grundgesetzes selbst herausgelesen. So heißt es in der Präambel, dass das Grundgesetz einem vereinten Europa und dem Frieden der Welt dienen solle, weiter besteht die Staatszielbestimmung der europäischen Integration durch Art. 23 I 1 GG. Darüber hinaus werden den allgemeinen Regeln des Völkerrechts durch Art. 25 S. 2 GG ein Vorrang vor dem einfachen Recht eingeräumt. Durch die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes sollen methodisch Konflikte von innerstaatlichem Recht mit dem Völkerrecht aufgelöst werden.

Weiterführendes Wissen zur Wirkung des Völkerrechts

Das Völkerrecht selbst schreibt nicht vor, wie es in den jeweiligen Nationalstaaten zu seiner Wirkung kommt. Das bedeutet, es gibt keine allgemeine Regel, wie sich Staaten dem Völkerrecht öffnen. Dabei haben sich unterschiedliche Modelle weltweit entwickelt. So kann das Völkerrecht und das innerstaatliche Recht als Einheit verstanden werden (Monismus) oder als gänzlich getrennte Rechtsordnungen (Dualismus). Im Detail existieren auch für den Monismus und den Dualismus unterschiedlich strenge Ausprägungen. Das Grundgesetz verfolgt eine spezielle Form des Dualismus, welche eine Transformation des Völkerrechts in das innerstaatliche Recht vorschreibt.

Das Grundgesetz und die EMRK

Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) wurde 1950 von den Mitgliedstaaten des Europarats erlassen. Sie sollte nach dem Zweiten Weltkrieg einen gemeinsamen Mindeststandard an Menschenrechten in Europa schaffen. Der Europarat ist dabei von der Europäischen Union zu trennen. Er ist zum einen älter und hat zum anderen mit 47 Vertragsstaaten, insbesondere auch Russland, ein deutlich größeres Einflussgebiet. Mit der EMRK wurde auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) geschaffen, welcher gem. Art. 19 EMRK für deren Auslegung zuständig ist. Die EMRK hat somit mehrere Besonderheiten. Sie ist ein regionales Menschenrechtsabkommen, welches sich konkret nur auf den europäischen Raum beschränkt und es hat ein eigenes dauerhaftes Gericht mit einem Individualklageverfahren gem. Art. 34 EMRK zur Wahrung der Konventionsrechte. Die Konventionsrechte der EMRK sind klassische Menschenrechte und decken sich in vielen Teilen mit den Bestimmungen des Grundgesetzes.

Anwendbarkeit

Da die EMRK ein völkerrechtlicher Vertrag der Mitgliedstaaten des Europarats ist, müssen die Nationalstaaten sich erst dem Völkerrecht öffnen und somit der EMRK zu Anwendbarkeit und Geltung im nationalen Recht verhelfen. Aufgrund seiner besonderen Bedeutung als Menschenrechtskonvention wurde die EMRK durch ein Bundesgesetz gem. Art. 59 II 1 GG in das deutsche Recht eingeführt. Das hat zwei Konsequenzen: Die EMRK ist unmittelbar anwendbar. Die EMRK hat den Rangeines Bundesgesetzes.

Wirkung

Der Rang der EMRK hat für ihre Wirkung im deutschen Recht eine besondere Bedeutung. Als Bundesrecht steht sie im Rang unter der Verfassung. Weiter unterliegt die EMRK dem lex posterior-Grundsatz. Das bedeutet, dass sich im Konfliktfall das neuere Gesetz durchsetzen würde, was in Anbetracht des Umsetzungsgesetzes der EMRK von 1951 regelmäßig der Fall wäre. Deshalb bestehen aufgrund der besonderen Natur der EMRK als Menschenrechtskonvention drei Besonderheiten für deren Wirkung im deutschen Recht:

  1. Der lex posterior-Grundsatz gilt für die EMRK nur in Ausnahmefällen, da jedes Gesetz im Lichte der EMRK auszulegen ist.

  2. Bei der Auslegung der Grundrechte des Grundgesetz sind die Grundrechte der EMRK zu berücksichtigen. Aufgrund der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetz soll auf diese Art verhindert werden, dass sich die Bundesrepublik völkerrechtswidrig verhält.

  3. Bei der Berücksichtigung der EMRK soll nicht nur der Konventionstext beachtet werden, sondern ebenso dessen Auslegung durch die Entscheidungen des EGMR.

Durch diese Berücksichtigungspflicht der EMRK und deren Auslegung durch den EGMR besteht faktisch eine Sonderstellung der Konventionsrechte zwischen Verfassung und dem Bundesrecht (mittelbarer Verfassungsrang).

Das Grundgesetz und das Europarecht

Das Europarecht ist als Rechtsordnung „sui generis“ zu verstehen und genießt Anwendungsvorrang (keinen Geltungsvorrang) vor dem nationalen Recht - auch dem Verfassungsrecht. Ein Geltungsvorrang würde vorliegen, wenn der verdrängte Rechtssatz seine Geltung verliert, das heißt außer Kraft gesetzt und damit ungültig (nichtig) wird. Verstößt ein nationaler Rechtssatz gegen primäres oder sekundäres Unionsrechts, wird dieser nicht nichtig, sondern wird nicht mehr angewandt (Anwendungsvorrang). Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts ergibt sich, so der EuGH, aus der Eigenständigkeit des Unionsrechts. Diese Eigenständigkeit kann nur dann gesichert sein, wenn das Unionsrecht in den Mitgliedstaaten einheitlich angewandt wird.

Das BVerfG erkennt den Anwendungsvorrang des Unionsrechts grundsätzlich an, definiert allerdings auch einige eng begrenzte Ausnahmen (Kontrollvorbehalte: Identiätskontrolle, ultra- vires- Kontrolle, Grundrechtskontrolle). Die prozessuale Kontrolle von europäischen Maßnahmen vor dem BVerfG verläuft dabei häufig über das sogenannte Recht auf Demokratie aus Art. 38 I 1 GG.

Allgemein kann das Verhältnis des Grundgesetzes und des gesamten nationalen Rechts zum Europarecht nicht durch eine schematische Formel beschrieben werden. Das Europarecht ist nicht einfaches Völkerrecht, gleichzeitig wurde die Europäische Union auf Grundlage von völkerrechtlichen Verträgen gegründet. Es werden zwar Kompetenzen auf die Europäische Union übertragen, gleichzeitig bleibt Deutschland immer noch ein eigenständiger souveräner Staat. Die EU stellt mithin eine supranationale Organisation dar: Sie weist einen höheren Grad an Integration auf als andere internationale Organisationen und Staatenbünde. Sie verfügen insbesondere über die Kompetenz Rechtsnormen auch gegen den Willen einzelner Mitglieder zu erlassen, die für ihre Mitglieder und zum Teil auch für die Bürger:innen der Mitgliedsstaaten unmittelbar bindend sind. Gleichzeitig besitzt die EU keine Kompetenz- Kompetenz, um die eigenen Befugnisse zu erweitern, sondern ist an das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung gebunden. Darüber hinaus ist die Zusammenarbeit der einzelnen Mitgliedstaaten charakteristisch für die Europäische Union: Sei es als Staatenverbund, als Verfassungsverbund oder als Verfassungsgerichtsverbund.

Zwar genießt das Europarecht Anwendungsvorrang, dadurch ist allerdings noch nicht geklärt, wie das Europarecht im nationalen Recht Wirkung entfalten kann. Dabei muss grundsätzlich zwischen den möglichen Gesetzgebungsakten der EU unterschieden werden: Laut Art. 288 I AEUV kann die EU zur Ausübung der eigenen Zuständigkeit auf Verordnungen und Richtlinien zurückgreifen (sekundäres Unionsrechts). Dabei sind Verordnung solche Rechtsakte, die allgemeine Geltung haben, in allen ihren Teilen verbindlich sind und unmittelbar in jedem Mitgliedstaat gelten (Art. 288 II AEUV). Demgegenüber müssen Richtlinien auf nationaler Ebene umgesetzt werden, es braucht mithin ein nationales Gesetz. Bei der Umsetzung der Richtlinie haben die Mitgliedstaaten einen gewissen Spielraum.

Falls sich weiterführend mit dem Europarecht befasst werden will, so können sich interessierte Studierende mit folgenden äußerst strittigen Punkte befassen:

  • das umstrittene Recht auf Demokratie, welches immer weiter ausgebaut wird;

  • dem Nachspiel des PSPP Urteils des BVerfG, in dem das Gericht zum ersten Mal einen Kontrollvorbehalt nutzte - die Kommission hat mittlerweile ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eingeleitet und wieder eingestellt;

  • und die Erweiterung des Prüfungsmaßstabs in Hinblick auf europäische Grundrechte im Kontext der "Recht auf Vergessen" Urteile.

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Weiterführende Studienliteratur

Voßkuhle/ Wischmeyer, Grundwissen - Öffentliches Recht: Auswärtige Gewalt, JuS 2021, 735.

Wahl, Der offene Staat und seine Rechtsgrundlage, JuS 2003, 1145.

Cammareri, Die Bedeutung der EMRK und der Urteile des EGMR für die nationalen Gerichte, JuS 2016, 791.

Schmahl, Das Verhältnis der deutschen Rechtsordnung zu Regeln des Völkerrechts, JuS 2013, 961.

Schmahl, Die völkerrechtsdogmatische Einordnung internationaler Menschenrechtsverträge, JuS 2018, 737.

Wenn sich weiterführend mit dem „Staatsrecht III“ befasst werden will, wird Calliess, Staatsrecht III, 3. Aufl. 2020 und Sauer, Staatsrecht III, 6. Aufl. 2020 empfohlen.

Zusammenfassung: Die wichtigsten Punkte

  • Das Recht zwischen den Staaten heißt Völkerrecht. Es ist vom nationalen Recht zu trennen.

  • Für die Europäische Menschenrechtskonvention besteht eine besondere Berücksichtigungspflicht.

  • Das Recht der Europäischen Union stellt einen Spezialfall als Rechtsordnung "sui generis" dar. Das Unionsrechts genießt dabei grundsätzlich Anwendungsvorrang vor dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten.