Notwendiges Vorwissen: Erforderlich ist die sichere Beherrschung des Nötigungstatbestands (§ 240 StGB), der (räuberischen) Erpressung gem. §§ 253, 255 StGB und des Raubs nach § 249 StGB (jedenfalls, sofern man § 249 StGB als den Spezialfall einer Erpressung ansieht; zum Streit → § 10 Rn. 9 ff.).
Bei §§ 239a und 239b StGB handelt es sich um Normen, die in der juristischen Ausbildung oftmals eine eher untergeordnete Rolle spielen. Dennoch sollten sie sicher beherrscht werden. Denn wenngleich ausschließlich auf die Bearbeitung der §§ 239a, 239b StGB abzielende Sachverhaltskonstellationen tatsächlich eher die (dennoch mögliche) Ausnahme darstellen dürften, sind die Normen nicht selten in Erpressungs- bzw. Raubfällen sowie im Zusammenhang mit § 239 StGB – und damit auch in „klassischen“ strafrechtlichen Klausuren – zumindest „anzuprüfen“. Daneben besteht selbstverständlich die Möglichkeit, dass Klausurersteller:innen gerade die gewisse „Exotik“ dieser Tatbestände reizt, deliktsspezifisch zugeschnittene Sachverhalte zu entwerfen. Dann können Unsauberkeiten und Ungenauigkeiten im Umgang mit §§ 239a, 239b StGB schnell zu einem mangelhaften Ergebnis in der Bearbeitung führen.
Grundlagen: Zum Verhältnis von § 239a und § 239b StGB
Der erpresserische Menschenraub (§ 239a StGB) und die Geiselnahme (§ 239b StGB) sind weitgehend parallel konstruiert; insbesondere enthalten beide Normen in ihrem jeweiligen Absatz 1 die Tatbestandsvarianten des Entführens bzw. Sich-Bemächtigens (Alt. 1) und des Ausnutzens einer hierdurch geschaffenen Lage (Alt. 2).
Dennoch bestehen einige wichtige Unterschiede zwischen beiden Delikten: Während § 239a StGB eine erpresserische Absicht bzw. eine (versuchte) Erpressung (§ 253 StGB) erfordert (= Mehr), reicht iRd § 239b StGB jegliche Absicht zur Nötigung bzw. jegliche(r) Nötigung(-sversuch) iSd § 240 StGB aus (= Weniger). Gleichzeitig muss jedoch die (beabsichtigte) Nötigung bei § 239b StGB durch eine qualifizierte Drohung erfolgen (= Mehr), während iRd § 239a StGB jedes Nötigungsmittel des § 253 StGB (d. h. Gewalt oder „einfache“ Drohung mit einem empfindlichen Übel) ausreicht (= Weniger).
Als vereinfachte Faustformel lässt sich damit festhalten: Bei § 239a StGB will der Täter Geld, bei § 239b StGB verfolgt er andere (nicht-vermögensgegenständliche) Zwecke; zumeist möchte er eine bestimmte Handlung des Opfers erreichen.
Klausurhinweis: Hinsichtlich der Prüfungsreihenfolge sollten zunächst mögliche (auch nur versuchte) Erpressungstaten nach §§ 253, 255, 250 StGB bzw. Nötigungstaten nach § 240 StGB selbständig geprüft werden. Hierbei ist zu beachten, dass trotz Verneinung einer entsprechenden Strafbarkeit die § 239a Abs. 1 Alt. 1 bzw. § 239b Abs. 1 Alt. 1 StGB dennoch einschlägig sein können, da es diesbezüglich nur auf die Erpressungs- bzw. Drohungsabsicht ankommt.
Erpresserischer Menschenraub, § 239a StGB
Rechtsgut und Deliktsstruktur
§ 239a StGB schützt nach wohl hM primär die persönliche Freiheit sowie die körperliche und seelische Unversehrtheit des entführten Opfers. Daneben ist auch die Freiheit einer besorgten dritten Person sowie das Vermögen desjenigen, der erpresst werden soll, geschützt. Das exakte Stufenverhältnis der geschützten Rechtsgüter ist nach wie vor umstritten.
Bei 239a StGB handelt es sich nach ganz überwiegender Ansicht um ein abstraktes Gefährdungsdelikt. Der erpresserische Menschenraub ist ein Verbrechen. Sein Versuch und seine Verabredung sind daher ebenfalls strafbar, vgl. §§ 12 Abs. 1, 23 Abs. 1, 30 Abs. 2 StGB.
§ 239a Abs. 1 StGB enthält zwei Begehungsformen: Während der eigentliche Entführungstatbestand (Alt. 1) das Entführen oder Sich-Bemächtigen eines anderen zum Zweck der Erpressung unter Strafe stellt, fungiert die zweite Alternative als Auffangtatbestand für die Fälle, in denen die in Alt. 1 genannten Handlungen (Entführen bzw. Sich-Bemächtigen) zunächst ohne Erpressungsabsicht ausgeführt werden. Hinsichtlich §§ 253, 255 StGB erfolgt damit gewissermaßen eine „Vorverlagerung“ des strafrechtlichen Schutzes, da jedenfalls § 239a Abs. 1 Alt. 1 StGB nicht erst die Begehung der Erpressung, sondern bereits eine darauf gerichtete Absicht des Täters bestraft.
Der erpresserische Menschenraub nach § 239a StGB ist keine Qualifikation des Menschenraubs nach § 234 StGB.
Entführungs- und Bemächtigungstatbestand (§ 239a Abs. 1 Alt. 1)
Objektiver Tatbestand
Tatopfer
Taugliches Tatopfer ist jeder beliebige Mensch. Da es nicht darauf ankommt, ob das Opfer die Bemächtigungslage wahrnimmt bzw. überhaupt wahrnehmen kann, sind auch Schlafende, Bewusstlose oder Kleinkinder vom Schutzbereich der Norm umfasst.
Tathandlung
Entführen
Entführen meint das Verbringen eines anderen Menschen an einen anderen Ort, an dem er dem uneingeschränkten Einfluss des Täters ausgesetzt ist. Damit ist neben einer Ortsveränderung auch die Begründung physischer Herrschaftsgewalt des Täters über das Opfer erforderlich. Einer völligen Einschränkung der Fortbewegungsfreiheit iSd § 239 StGB bedarf es hierbei allerdings nicht. Die Ortsveränderung kann durch Drohung oder Gewalt, aber auch durch List oder Täuschung bewirkt werden.
Beispiel: Studentin S täuscht ihren Kommilitonen K darüber, ihn in ihrem Auto mit zur Uni zu nehmen. Stattdessen verbringt sie ihn in den Schrebergarten ihrer Eltern, um ihn dort zu erpressen.
S ist hier strafbar nach § 239a Abs. 1 Alt. 1 StGB, da sie K in Erpressungsabsicht mit List entführt hat.
Die Entführung muss gegen oder ohne den Willen des Opfers geschehen. Lässt sich die betroffene Person freiwillig oder nur zum Schein (sog. Scheingeisel) entführen, liegt ein tatbestandsausschließendes Einverständnis vor. Dagegen handelt eine Person, die sich im Tausch gegen das Opfer in die Gewalt der Entführer:innen begibt (sog. Ersatz- bzw. Austauschgeisel), nicht freiwillig, da sie durch die Zwangs- und Notlage des ersten Opfers zur Selbstaufopferung veranlasst wurde. Das entsprechende Einverständnis hat daher weder tatbestandsausschließende noch rechtfertigende Wirkung.
Beispiel 1 („Scheingeisel“): Erpresserin E überfällt eine Bank und nimmt ihre Lebensgefährtin L, die sich als „normale“ Bankkundin ausgibt, zum Schein als Geisel, um ihrer Forderung nach einer Million Euro mehr Gewicht zu verleihen. L war mit diesem Vorgehen von vornherein einverstanden. – E ist nicht strafbar gem. § 239a Abs. 1 Alt. 1 StGB, da die Tathandlung des Entführens bzw. Sich-Bemächtigens ein Handeln gegen bzw. ohne den Willen der betroffenen Person voraussetzt. Da sich L hier aber freiwillig dem vermeintlichen Einfluss der E unterstellt, wird eine Bemächtigungslage nur vorgetäuscht.
Beispiel 2 („Ersatz- / Austauschgeisel“): Erpresser E nimmt Kind K als Geisel. Vater V stellt sich als Geisel zur Verfügung, damit K von E freigelassen wird. E lässt daraufhin K frei und nimmt V als „neue“ Geisel. – Hier bleibt trotz des Austausches der Geiseln die Bemächtigungslage bestehen. E hat sich bereits mit dem Sich-Bemächtigen des K gem. § 239a Abs. 1 Alt. 1 StGB strafbar gemacht. Im Unterschied zum Beispiel 1 liegt hier kein tatbestandsausschließendes Einverständnis des V vor, da sich dieser nicht wirklich „freiwillig“ der Bemächtigungslage ausgesetzt hat, sondern letztlich durch die Sorge um sein Kind zu seinem Handeln „herausgefordert“ wurde.
Sich-Bemächtigen
Sich-Bemächtigen meint die Erlangung physischer Herrschaft über das Opfer: Der Täter muss die Verfügungsgewalt über den Körper des Opfers erlangen, das an einer freien Bestimmung über sich selbst gehindert ist. Einer Ortsveränderung bedarf es dagegen nicht; ebenso wenig ist eine Freiheitsberaubung nach § 239 StGB erforderlich. So wird zwar die Verhinderung bzw. Erschwerung einer aktiven Ortsveränderung des Opfers (durch Flucht bzw. Weglaufen) eine typische Wirkung des Sich-Bemächtigens sein, erforderlich ist dies jedoch nicht. Andernfalls würden konstitutionell fortbewegungsunfähige Menschen unzulässigerweise aus dem Anwendungsbereich herausfallen.
Beispiel
Die Tatmittel zur Erreichung körperlicher Herrschaftsgewalt sind im Gesetz nicht näher bezeichnet. Daher reicht grundsätzlich jede Handlung aus, mit der der Täter die Verfügungsgewalt über das Opfer erlangt. Folglich kann auch durch die Anwendung von List ein Herrschaftsverhältnis begründet werden. Nach Ansicht des BGH ist ein Sich-Bemächtigen selbst dann zu bejahen, wenn der Täter das Opfer mit einer Scheinwaffe (zB einer Bombenattrappe) über eine größere Distanz bedroht.
Bei bereits bestehendem Herrschaftsverhältnis reicht es für ein Sich-Bemächtigen in der Regel aus, wenn die Verfügungsgewalt so intensiviert wird, dass es zu einer erheblichen Minderung der bislang vorhandenen (sozialen) Geborgenheit des Opfers kommt.
Beispiel: Indem V sein Kind K ergreift und es mit dem Brotmesser über mehrere Stunden bedroht, intensiviert er seine physische Gewalt über K, sodass dessen ursprünglich bestehende soziale (familiäre) Geborgenheit erheblich gemindert wird.
Verhältnis Entführen / Sich-Bemächtigen
Das Verhältnis der Tathandlungen des Entführens und Sich-Bemächtigens ist nach wie vor „nicht näher bestimmt“
Klausurhinweis: In der Klausur sollte man sich daher primär am Kriterium der Ortsveränderung orientieren, letztlich aber nicht allzu viel (kostbare) Zeit an dieser Stelle aufwenden. Ist eine Ortsveränderung gegeben, reicht es in aller Regel aus, wenn lediglich auf die Tathandlung des Entführens näher eingegangen wird. Liegt dagegen keine Ortsveränderung vor, bietet es sich an, beide Tathandlungsvarianten – beginnend mit dem nicht erfüllten Entführen – kurz zu definieren und dann jeweils eine knappe Subsumtion anzuschließen.
Subjektiver Tatbestand
Vorsatz
Hinsichtlich der eigentlichen Tathandlung (Entführen bzw. Sich-Bemächtigen) muss Vorsatz vorliegen. Hierfür genügt jede Vorsatzart. Geht der Täter irrigerweise davon aus, das Opfer sei mit der Tat(-handlung) einverstanden, liegt ein vorsatzausschließender Tatbestandsirrtum vor, § 16 Abs. 1 S. 1 StGB.
Erpressungsabsicht
Darüber hinaus ist erforderlich, dass der Täter zum Zeitpunkt der Tathandlung (Entführen bzw. Sich-Bemächtigen) mit Erpressungsabsicht handelt. Er muss also die Absicht – im Sinne eines zielgerichteten Wollens – haben, entweder „die Sorge des Opfers um sein Wohl“ (im Zwei-Personen-Verhältnis) oder „die Sorge eines Dritten um das Wohl des Opfers“ (im Drei-Personen-Verhältnis) „zu einer Erpressung (§ 253) auszunutzen“. Maßgeblich ist dabei allein die Vorstellung des Täters, sämtliche Voraussetzungen des § 253 StGB (bzw. § 255 StGB) zu erfüllen. Daran fehlt es beispielsweise, wenn der Täter die Absicht hat, eine Leistung zu erpressen, auf die er einen Anspruch hat oder jedenfalls zu haben glaubt. In diesen Fällen käme aber ggf. eine Bestrafung aus § 239b Abs. 1 Alt. 1 StGB in Betracht (s.u.). Ob die Sorge des Opfers bzw. des Dritten tatsächlich entsteht oder es zu einem späteren Zeitpunkt zumindest zu einem strafbaren Versuch der (räuberischen) Erpressung kommt, ist für die Tatvollendung dagegen ohne Belang.
Folgt man der Rspr. des BGH zum Verhältnis von Raub und räuberischer Erpressung, wonach der Raub lediglich lex specialis zur räuberischen Erpressung ist, so ist der Tatbestand des § 239a StGB auch dann anwendbar, wenn die Absicht des Täters auf einen Raub (§ 249 StGB) gerichtet ist („Raubabsicht“), da hiernach in jedem Raub zugleich (auch) eine räuberische Erpressung läge.
Zeitlich-funktionaler Zusammenhang
Insbesondere im Hinblick auf Zwei-Personen-Verhältnisse (Ausnutzen der Sorge des Opfers um sein eigenes Wohl, d. h. Entführter / Sich-Bemächtigter = Drohungs- / Erpressungsadressat) erscheint die hohe Strafdrohung des § 239a StGB (Die Mindeststrafe liegt bei fünf Jahren Freiheitsstrafe!) problematisch.
Beispiel 1: A zwingt B unter vorgehaltener Waffe zur Sofort-Überweisung von 10.000 EUR. – Bejaht man hier ein Sich-Bemächtigen, ist B sowohl Sich-Bemächtigter als auch Erpressungsadressat. Eigentlich liegt aber eher ein „klassischer“ Fall der (räuberischen) Erpressung vor.
Beispiel 2: A verbringt B mit Gewalt in eine abgelegene Waldhütte, um ihn dort nach etlichen Stunden Gefangenschaft mit vorgehaltener Waffe zur Sofort-Überweisung von 10.000 EUR zu zwingen. – Hier liegt erneut Personenidentität zwischen Entführtem / Sich-Bemächtigtem und dem Drohungs- / Erpressungsadressaten vor; allerdings geht die Situation in ihrer (Bemächtigungs-)Intensität deutlich über das „normale“ Maß einer (räuberischen) Erpressung hinaus.
Weiterführendes Wissen: Mit der Ausdehnung des Anwendungsbereichs der ursprünglich „dreipolig“ ausgerichteten Norm (Täter, Entführungsopfer und Drohungs-/Erpressungsadressat sind personenverschieden) auch auf Zwei-Personen-Verhältnisse durch das „Gesetz zur Änderung des StGB (…) bei terroristischen Straftaten“ vom 9. Juni 1989 (BGBl. I 1059) bezweckte die Gesetzgebung die sachgemäßere Bekämpfung typischer Erscheinungsformen terroristischer Gewaltkriminalität.
Die tatbestandliche Erstreckung auf „typische“ Fälle der (räuberischen) Erpressung würde damit nicht nur zu einer im Ergebnis (in aller Regel) erhöhten Strafe führen, sondern bewirkte auch, dass diese Taten nicht mehr „nur“ von den primär dafür „vorgesehenen“ Normen erfasst würden, sondern zugleich dem Anwendungsbereich ursprünglich anders „ausgerichteter“, hinsichtlich des Unrechtsgehalts eigentlich „unpassender“ Regelungen (nämlich: § 239a StGB) unterfielen. Problematisch ist zudem, dass Rücktritte, die nur in Bezug auf §§ 253, 255, 22, 23 Abs. 1 StGB erfolgt sind, im Hinblick auf den frühen Vollendungszeitpunkt des § 239a StGB
Es gibt daher in Rspr. und Literatur zahlreiche Versuche, den Tatbestand der §§ 239a, 239b StGB (insbesondere im Zwei-Personen-Verhältnis) einschränkend (restriktiv) auszulegen. Wenngleich die Diskussion diesbezüglich noch andauert, so ist sie durch die Entscheidung des Großen Senats in BGHSt 40, 350 jedenfalls für die Rspr. als geklärt zu betrachten. Danach ist angesichts der Struktur der §§ 239a, 239b StGB als sog. (unvollkommen) zweiaktige Delikte erforderlich, dass die durch den (ersten) Entführungs- bzw. Bemächtigungsakt geschaffene Zwangslage für einen (zweiten) Erpressungs- bzw. Nötigungsakt ausgenutzt werden soll.
Weiterführendes Wissen: Begrifflicher Ausgangspunkt ist die Entführung / Bemächtigung als erster, die Erpressung bzw. Nötigung als zweiter Akt. § 239a Abs. 1 Alt. 1 StGB (bzw. § 239b Abs. 1 Alt. 1 StGB) ist nun „unvollkommen zweiaktig“, da sich der zweite Akt (die Nötigungs- bzw. Erpressungsabsicht) nur im subjektiven Tatbestand (eben als entsprechende Absicht) wiederfindet, jedoch keine Entsprechung im objektiven Tatbestand aufweist, diesbezüglich also „unvollständig“ ist. Dagegen finden sich bei § 239a Abs. 1 Alt. 2 StGB (bzw. § 239b Abs. 1 Alt. 2 StGB) zwei vollständige Akte, da beide Akte Merkmale des objektiven Tatbestands sind, auf die sich dann wiederum der entsprechende Vorsatz auf subjektiver Ebene beziehen muss.
Die Bemächtigungssituation muss dabei gegenüber der beabsichtigten Erpressung bzw. Nötigung eine „eigenständige Bedeutung“ aufweisen, was „eine gewisse Stabilisierung“ voraussetzt.
Beispiel 1 (nach BGH NStZ 1996, 277): A und B lauern der Bankdirektorin B, von der sie wissen, dass diese die Bank als Letzte verlässt, auf. Mit einer mitgeführten Schusswaffe schüchtern sie B ein und zwingen sie unter vorgehaltener Waffe, die Bank und den Tresor zu öffnen und das vorhandene Geld herauszugeben. B übergibt unter dem Eindruck der Schusswaffe umgehend die gesamte im Tresor befindliche Summe an A und B. – Hier liegt kein Fall des § 239a StGB vor, da es an der erforderlichen stabilen Zwischenlage fehlt: So kommt der Bemächtigung der B keine eigenständige Bedeutung zu, da die qualifizierte Drohung (das Vorhalten der Schusswaffe) hier zugleich dazu dient, sich der B zu bemächtigen und sie in unmittelbarem Zusammenhang zu weitergehenden Handlungen zu nötigen. Die abgenötigte Handlung (Öffnen des Tresors inkl. Herausgabe des Geldes) wird also ausschließlich durch die Bedrohung mit der Waffe durchgesetzt. Damit fallen Bemächtigungs- und Nötigungsmittel in einer Handlung zusammen (Vorhalten der Schusswaffe). A und B haben sich aber wegen schwerer räuberischer Erpressung strafbar gemacht.
Beispiel 2 (nach BGH NStZ-RR 2010, 46): J und K klingeln bei N, um ihn zu überfallen. Als dieser ahnungslos öffnet, versetzen ihm K und J (mit Erpressungsabsicht) sofort Faustschläge ins Gesicht und bringen ihn mit weiteren Schlägen innerhalb des Hauses zu Boden. Gemeinsam binden J und K dem N nun die Hände mit Klebeband auf dem Rücken zusammen. Während J das Haus durchsucht, kniet K auf dem am Boden liegenden und gefesselten N, drückt dessen Kopf nach unten und verlangt Geld. Aus Angst um sein Wohl erklärt sich N bereit, den Erpressern den Weg zu seinem Tresor zu zeigen. Daraufhin lassen J – inzwischen zurückgekehrt – und K den N aufstehen, gehen mit ihm in den Keller und lassen sich dort von N die Zahlenkombination des Tresors mitteilen. J und K öffnen den Safe und entnehmen Bargeld iHv 24.000 EUR. – Hier kommt der Bemächtigungssituation (Bemächtigung durch Schläge und Fesseln, Auf-dem-Boden-Liegenlassen) gegenüber dem beabsichtigten Nötigungs- bzw. Erpressungsakt (Geldverlangen unter Knien auf dem Kopf des N; Zum-Tresor-Gehen inkl. Preisgabe der Zahlenkombination) eine „eigenständige Bedeutung“ zu, da sich erstere gegenüber dem anschließenden Nötigungs- / Erpressungsakt bereits zeitlich und funktional stabilisiert hat.
Für die Klausur lässt sich damit als (grobe) Faustregel festhalten: Bei einer Entführung ist das Erfordernis einer stabilen Zwischenlage aufgrund der damit zwingend verbundenen Ortsveränderung in aller Regel gewahrt. Dagegen bedarf es bei der Tathandlung des Sich-Bemächtigens zumeist einer genauen Prüfung, ob der Bemächtigungssituation tatsächlich eine eigenständige Bedeutung zukommt; oftmals wird dies zu verneinen sein. Insbesondere dann, wenn die Bemächtigungslage mittels einer qualifizierten Drohung (zB durch das Vorhalten einer Schusswaffe oder die Bedrohung mit einem Messer) begründet wird, ist die abgenötigte / erpresste Handlung in aller Regel auf die Drohung selbst zurückführen; der zwischenzeitlich eingetretenen Herrschaftsgewalt des Täters kommt dann keine eigenständige Bedeutung mehr zu.
Als Kontrollfrage bietet sich insofern an: Bleibt die Bemächtigungslage bestehen, wenn man sich den (angestrebten) Erpressungsakt hinwegdenkt? Wenn nicht, fallen das Sich-Bemächtigen und die beabsichtigte erpresserische Nötigung in einem Akt zusammen und eine eigenständige Bedeutung der Bemächtigungssituation ist zu verneinen. Dann fehlt es am erforderlichen funktionalen Zusammenhang; eine Strafbarkeit nach § 239a StGB (bzw. § 239b StGB) ist nicht gegeben.
Darüber hinaus muss zwischen der Bemächtigungslage und der beabsichtigten Erpressung ein zeitlicher Zusammenhang dahingehend bestehen, dass der Täter das Opfer oder die dritte Person während der Dauer der Zwangslage erpressen will. Soll die abgenötigte Handlung dagegen erst nach Beendigung der Entführungs- bzw. Bemächtigungssituation erfolgen, ist der Tatbestand nicht erfüllt.
Beispiel: Das Verbrecherpaar B und C entführt den Sohn S der Millionärin M. In ihrem Erpresserschreiben fordern B und C die M dazu auf, umgehend 10 Millionen EUR auf ein Nummernkonto in der Schweiz zu überweisen. Sobald das Geld angekommen sei, würden sie S freilassen. – Hier ist der erforderliche zeitliche Zusammenhang gegeben, da die abgenötigte Handlung, die Überweisung von 10 Millionen EUR, noch während der Bemächtigungslage erfolgen soll. Anders wäre der Fall zur beurteilen, wenn B und C die M dazu auffordern, monatlich eine Summe von 10.000 EUR auf besagtes Nummernkonto zu überweisen, wobei die erste Zahlung nach Freilassung des S erfolgen soll. Da B und C für den Fall der Nicht-Zahlung eine erneute Entführung des S ankündigen, willigt M ein und überweist – nach Heimkehr des S – (jeweils) zum nächsten Monatsersten die geforderte Summe. – Hier ist der erforderliche zeitliche Zusammenhang nicht gewahrt; die Überweisung soll erst nach Beendigung der Entführung veranlasst werden.
Schlagwortartig zusammenfassen lassen sich diese Anforderungen als zeitlich-funktionaler Zusammenhang.
Klausurhinweis: In der Klausur wird es oftmals an diesem Erfordernis eines zeitlich-funktionalen Zusammenhangs (insbesondere bei der Tathandlung des Sich-Bemächtigens) fehlen, sodass die §§ 239a, 239b StGB zwar durchaus des Öfteren „anzuprüfen“, dann aber im Ergebnis relativ knapp abzulehnen sind.
Weiterführendes Wissen: Das insbesondere von der Rspr. (mittlerweile) mehr oder minder einhellig vertretene Erfordernis eines zeitlich-funktionalen Zusammenhangs zwischen Entführung / Bemächtigung und beabsichtigter Erpressung / Nötigung ist nicht der einzige aufgezeigte Lösungsweg im Hinblick auf die erforderliche restriktive Auslegung der §§ 239a, 239b StGB.
Selbstverständlich sind die insbesondere in der Literatur entwickelten Restriktionsansätze (vgl. „Weiterführendes Wissen“, Rn. 32) in der Klausur grundsätzlich ebenfalls vertretbar. Dennoch scheint sich in den meisten Falllösungen die „griffige“ Formel der Rspr. vom zeitlich-funktionalen Zusammenhang durchgesetzt zu haben. Es empfiehlt sich daher wohl, auch im Rahmen der eigenen Bearbeitung der Lösung der Rspr. zu folgen und ausdrücklich einen zeitlich-funktionalen Zusammenhang zwischen der Entführung / Bemächtigung und der beabsichtigten Erpressung / Nötigung – ggf. als eigenen Gliederungspunkt – zu prüfen. Der Prüfungsstandort ist im subjektiven Tatbestand nach der Prüfung des Vorsatzes und der Erpressungsabsicht (bzw. der qualifizierten Nötigungsabsicht).
Ob das Erfordernis einer restriktiven Auslegung auch im Drei-Personen-Verhältnis Geltung beanspruchen kann, wird nicht einheitlich beurteilt. Die Rspr. hat sich hierzu bisher zumindest nicht ausdrücklich geäußert, Teile der Literatur plädieren mit beachtlichen Argumenten für eine entsprechende Übertragung.
Klausurhinweis: Aufgrund der Beteiligung einer dritten Person als Nötigungsopfer wird auch in den Fällen des Sich-Bemächtigens häufig ohnehin eine stabilisierte Zwischenlage vorliegen. Denn in aller Regel ist gegenüber diesem / dieser Dritten ein eigenständiger, zusätzlicher Nötigungsakt erforderlich, was die Annahme einer eigenständigen Bemächtigungslage rechtfertigen kann. Liegt daher eine solche vor, sollte man die Frage nach der Erforderlichkeit einer restriktiven Auslegung (auch) im Drei-Personen-Verhältnis zwar grundsätzlich aufwerfen, sie muss dann jedoch mangels Erheblichkeit nicht entschieden werden.
Ausnutzen einer Bemächtigungslage (§ 239a Abs. 1 Alt. 2)
Der Ausnutzungstatbestand des § 239a Abs. 1 Alt. 2 StGB erfasst die Fälle, in denen der Täter das Opfer ohne erpresserische Absicht entführt bzw. sich seiner bemächtigt hat. Damit sind insbesondere Konstellationen angesprochen, bei denen der Täter die Herrschaftsgewalt über das Opfer aus anderen (zB sexuellen) Motiven begründet hat. Die Ausnutzungsabsicht tritt dann – bei fortdauernder Bemächtigungslage – erst später hinzu. Im Unterschied zur ersten Alternative handelt es sich bei § 239a Abs. 1 Alt. 2 StGB um ein vollkommen zweiaktiges Delikt.
Beispiel (nach BGH NStZ-RR 2012, 173): A und B locken O zunächst unter einem Vorwand zu sich nach Hause, um ihn zu misshandeln. Im Zuge der Misshandlungen des bereits gefesselten O fassen sie sodann den Entschluss, von O Geld zu verlangen. Daraufhin fahren sie mit O zu einer Bank, wo sich O 500 EUR auszahlen lässt, die er sodann an A und B aushändigt. Während der Fahrt zur Bank wurde O für insgesamt 20 Minuten unbeaufsichtigt gelassen, in denen er hätte fliehen können. – Es liegt hier kein Fall des § 239a Abs. 1 Alt. 1 StGB vor, da A und B in dem Zeitpunkt, in dem sie sich durch Fesselung des O bemächtigten, noch nicht die Absicht hatten, diesen zu erpressen. Vielmehr wollten sie ihn zu diesem Zeitpunkt „nur“ körperlich misshandeln. A und B haben aber die vorhandene Bemächtigungslage gem. § 239a Abs. 1 Alt. 2 StGB zu einer Erpressung ausgenutzt. Dabei ist die „Ausnutzungsvariante“ des erpresserischen Menschenraubs (jedenfalls nach hM, s. u.) bereits dann vollendet, wenn der Täter unter Ausnutzung der Bemächtigungslage lediglich den Versuch einer Erpressung begeht.
Objektiver Tatbestand
Entführen oder Sich-Bemächtigen (ohne Erpressungsabsicht)
Der Täter muss das Opfer ohne Erpressungsabsicht entführt bzw. sich seiner bemächtigt haben („solche Handlung“). Dies ist – wie erwähnt – beispielsweise dann der Fall, wenn der Täter die ursprüngliche Motivation (zB zur Begehung eines Sexualdelikts) aufgegeben und auf eine Erpressung „umgestellt“ hat; ebenso ist ausreichend, dass der Erpressungsentschluss neben den fortbestehenden ursprünglichen Beweggrund tritt. Selbst eine „ungeklärte Ursprungsmotivlage“ genügt. Die Entführung bzw. Bemächtigung muss dabei rechtswidrig, nicht aber notwendigerweise schuldhaft sein.
Weiterführendes Wissen: Die Formulierungen in den gängigen Lehrbüchern und Kommentaren hinsichtlich des Erfordernisses vorsätzlichen Handelns sind etwas missverständlich. So ist bei Mitsch und Wolters ausdrücklich davon die Rede, Entführung und Bemächtigung hätten „vorsätzlich“ zu sein.
Beispiel (nach BGH NStZ-RR 2003, 45): Die Täter rauben den PKW der L, um sich damit ins Ausland abzusetzen. Damit L nicht alsbald Anzeige erstatten kann, zwingen sie sie mitzufahren. Während der Fahrt erpressen sie von L aufgrund eines neuen Tatentschlusses Geld zum Tanken. Aus Angst vor den Tätern übergibt L diesen 100 EUR. – Strafbarkeit der Täter nach § 239a Abs. 1 Alt. 2 StGB (+), da sich diese der L zunächst ohne Erpressungsabsicht bemächtigten bzw. diese entführten (es sollte „nur“ die Anzeigenerstattung verhindert / jedenfalls verzögert werden), dann aber diese von ihnen geschaffene Bemächtigungslage zu einer Erpressung der L ausnutzten.
In jedem Fall ist die Vollendung der Entführung bzw. Bemächtigung erforderlich, d. h. eine nur versuchte Entführung bzw. Bemächtigung bildet keinen tauglichen Anknüpfungspunkt für § 239a Abs. 1 Alt. 2 StGB. Im Übrigen wird auf die Ausführungen zu § 239a Abs. 1 Alt. 1 StGB verwiesen.
Erpressung(sversuch) unter Ausnutzung der geschaffenen Lage
Weiter muss der Täter die von ihm durch die Entführung bzw. Bemächtigung geschaffene Lage zu einer (nach hM jedenfalls versuchten) Erpressung (nach Ansicht der Rspr. auch zu einem Raub bzw. Raubversuch, s. o. → Rn. 20) tatsächlich ausnutzen.
Der Wortlaut des § 239a Abs. 1 Alt. 2 StGB verlangt ausdrücklich, dass die Lage „von ihm“, d. h. vom Täter selbst, geschaffen worden ist. Hierfür genügt es, wenn ihm die verursachende Handlung als Mittäter oder auch mittelbarer Täter jedenfalls zugerechnet werden kann; Eigenhändigkeit ist insofern nicht erforderlich. Eine Beteiligung als Anstifter oder Gehilfe genügt dagegen nicht. Nicht erfüllt ist der Ausnutzungstatbestand auch dann, wenn der Täter lediglich die von einem anderen Täter geschaffene Lage als sog. „Trittbrettfahrer“ zu einer Erpressung (bzw. einem Raub) ausnutzt, in diesem Fall käme aber eine Strafbarkeit nach den §§ 253, 255 StGB in Betracht. Ebenso wenig reicht es aus, wenn der Täter das Opfer in einer Situation der Hilflosigkeit vorfindet und diese Lage zu einer Erpressung ausnutzt, wenn die Hilflosigkeit auf von ihm unabhängigen Umständen beruht (zB Sturz des Opfers in eine Felsspalte, Überfall durch einen Dritten).
Beispiel (nach BGH NStZ 2014, 316): A, B, C und D entführen aufgrund eines gemeinsamen Tatplans die O in ein abgelegenes Bordell. Hierdurch soll O veranlasst werden, verunglimpfende Veröffentlichungen im Internet bzgl. A, B, C, D und E zu löschen. E stößt erst später hinzu. E sieht, dass O blutende Verletzungen hat, und ihm ist klar, dass O unter Gewalteinwirkung hergebracht worden und nur aufgrund der fortgesetzten Bewachung geblieben ist. Angesichts der bereits informierten Polizei entschließt sich E dazu, die O in seinem Fahrzeug Richtung Süden zu verbringen. E hat dabei v.a. die Absicht, die O zur Zahlung eines höheren Geldbetrags zu zwingen. Unter Ausnutzung ihrer aufgrund der vorangegangenen Entführung bedrängten Lage veranlasst E die O, in seinen Pkw einzusteigen. Während der anschließenden Fahrt fordert E von O mehrfach eine Sofort-Überweisung iHv 2000 EUR über das Handy des O. Unter dem Druck der Situation tätigt O schließlich die Überweisung. Daraufhin lässt E die O frei. – Eine Strafbarkeit nach § 239a Abs. 1 Alt. 2 StGB scheidet vorliegend aus, da E hier keine von ihm geschaffene Entführungs- bzw. Bemächtigungslage ausgenutzt hat. Denn E hat die O nicht selbst entführt; auch kann ihm die Entführung nicht als Mittäter zugerechnet werden, § 25 Abs. 2 StGB. E hat allerdings eigenständig Gewalt über O erlangt und damit den Tatbestand des § 239a Abs. 1 Alt. 1 StGB verwirklicht, da er die Situation des Opfers qualitativ verändert hat und über das Fortbestehen der Bemächtigungslage nunmehr maßgeblich selbst bestimmte. So entschieden nach dem Eintreffen des E am Bordell nicht mehr die ursprünglichen Entführer:innen darüber, wie mit O weiter verfahren werden sollte; vielmehr traf die Entscheidung hierüber – wie auch über deren Freilassung – nunmehr allein E. Damit hat sich E der O selbst bemächtigt iSd § 239a Abs. 1 Alt. 1 StGB.
Die Bemächtigungslage muss zu dem Zeitpunkt, zu dem der Täter nunmehr den „neuen“ Vorsatz gefasst hat, das Bemächtigungsopfer bzw. einen Dritten zu erpressen, noch fortdauern. Daran fehlt es beispielsweise, wenn das nicht in Erpressungsabsicht entführte Opfer freigelassen oder getötet und erst nach diesem Machtverlust der Erpressungsvorsatz gefasst wird.
Weiter hat der Täter die geschaffene Lage tatsächlich zu einer Erpressung auszunutzen. Die Erpressung ist demnach bei § 239a Abs. 1 Alt. 2 StGB – im Unterschied zu § 239a Abs. 1 Alt. 1 StGB – bereits Merkmal des objektiven Tatbestands. Jedenfalls nach überwiegender Ansicht reicht hierfür ein unmittelbares Ansetzen zu einer Erpressung iSd § 253 StGB aus. Der Tatbestand des § 239a Abs. 1 Alt. 2 StGB ist also nicht erst mit der Vollendung der Erpressung vollendet, sondern bereits mit deren Versuch.
Beispiele: Tatvollendung im Hinblick auf § 239a Abs. 1 Alt. 2 StGB bereits mit Abschicken des Erpresserbriefs, unabhängig davon, ob Adressat:in auf Forderung eingeht;
Weiterführendes Wissen: Die Gegenansicht, die eine Vollendung der Erpressung für erforderlich hält, argumentiert insbesondere mit dem Wortlaut des § 239a Abs. 1 Alt. 2 StGB („Erpressung“). Allerdings überzeugt dies nicht, da die gesetzlichen Überschriften, wenn sie von Erpressung, Diebstahl, Körperverletzung usw. sprechen, den Versuchsfall miteinbeziehen.
Angesichts der vollendet zweiaktigen Tatbestandskonstruktion der Ausnutzungsvariante (→ Rn. 36) ist eine restriktive Auslegung (wie bei § 239a Abs. 1 Alt. 1 StGB, s. o.) nicht erforderlich. Insofern gibt die tatbestandliche Struktur des § 239a Abs. 1 Alt. 2 StGB – 1. Entführen / Sich-Bemächtigen ohne Erpressungsabsicht und 2. Erpressung(sversuch) unter Ausnutzung dieser zuvor so (d. h. ohne Erpressungsabsicht) geschaffenen Lage – ohnehin eine hinreichend zweistufig ausgerichtete Prüfung vor. Die Gefahr, dass die Tatbestandsvariante auch „typische“ Fälle der Freiheitsberaubung, Nötigung und v. a. der (räuberischen) Erpressung mitumfasst, in der Bemächtigungs- und Nötigungskomponente in einer Handlung zusammenfallen, besteht daher nicht. Für die Klausur heißt das insbesondere, dass der Prüfungspunkt der hinreichend „stabilisierten Zwischenlage“ (→ Rn. 26) entfällt.
Subjektiver Tatbestand
Der subjektive Tatbestand des § 239a Abs. 1 Alt. 2 StGB erfordert Vorsatz hinsichtlich sämtlicher Merkmale des objektiven Tatbestands, d. h. insbesondere Vorsatz im Hinblick auf die Ausnutzung der Sorge des Erpressungsadressaten um das Wohl der Geisel sowie die Absicht rechtswidriger und stoffgleicher Bereicherung hinsichtlich der Erpressung bzw. des Versuchs der Erpressung („Erpressungsausnutzungsabsicht“).
Teilnahme
Für die Teilnahme gelten die allgemeinen Grundsätze. Bei der Erpressungsabsicht handelt es sich nicht um ein besonderes persönliches Merkmal iSd § 28 StGB.
Hinsichtlich einer strafbaren Beteiligung an der Erfolgsqualifikation nach § 239a Abs. 3 StGB ist erforderlich, dass jedem Beteiligten in eigener Person zumindest Leichtfertigkeit in Bezug auf den Tod des Opfers zur Last fällt.
Vollendung und Versuch
§ 239a Abs. 1 Alt. 1 StGB ist mit Begründung der Herrschaftsgewalt des Täters über das Opfer vollendet. Bei § 239a Abs. 1 Alt. 2 StGB tritt nach hM Vollendung bereits mit dem Versuch der Erpressung ein (s. o.).
Strafzumessung: Minder schwerer Fall, § 239a Abs. 2 StGB
Ein minder schwerer Fall nach § 239a Abs. 2 StGB kann beispielsweise dann gegeben sein, wenn die erpresserische Zielsetzung gegenüber Tatanlass und -motiv in den Hintergrund tritt. Daneben kommt er nach Ansicht der Rspr. auch bei einer „Verzweiflungstat“ eines vermindert Schuldfähigen in Betracht.
Tätige Reue, § 239a Abs. 4 StGB
Das Gericht kann gem. § 239a Abs. 4 S. 1 StGB nach Tatvollendung die Strafe des Täters nach § 49 Abs. 1 StGB mildern, wenn dieser das Opfer unter Verzicht auf die erstrebte Leistung in dessen Lebenskreis zurückgelangen lässt (sog. Tätige Reue). Im Unterschied zum Rücktritt nach § 24 StGB und den meisten anderen Vorschriften der Tätigen Reue (zB § 306e, siehe Brandstiftungsdelikte) erfordert § 239a Abs. 4 StGB nach seinem eindeutigen Wortlaut kein freiwilliges Handeln des Täters; auch kommt es nicht darauf an, aus welchen Motiven er agiert.
Beispiel (nach BGH NStZ-RR 2020, 347): Die Ganoven A und B locken den G unter einem Vorwand in das Auto des A. Während der anschließenden zweistündigen Fahrt fordern A und B von G unter der Drohung, ihn andernfalls umzubringen, die Begleichung von Drogenschulden. Um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen, nehmen sie dem G das Mobiltelefon ab und schlagen ihm mehrfach mit der flachen Hand ins Gesicht. G schlägt daraufhin vor, zu seinen in der Nähe wohnenden Eltern zu fahren und diese um Geld zu bitten. Mit dem falschen Hinweis, dass ihr Sohn dem B wertvollen Goldschmuck gestohlen habe, verlangen A und B von den Eltern des G vergeblich die Zahlung von 2.000 EUR. Daraufhin verlassen die Ganoven die Wohnanschrift der Eltern ohne den G und nehmen von der weiteren Durchsetzung der Forderung Abstand. – Hier liegt ein Fall tätiger Reue nach § 239a Abs. 4 S. 1 StGB vor, da A und B den G in seinen Lebensbereich zurückgelangen lassen und von der erhobenen Forderung Abstand nehmen. Dass A und B allein in Anbetracht der Erkenntnis fehlender Erfolgsaussicht von G ablassen, steht – jedenfalls nach Ansicht des BGH ihn der vorstehenden Entscheidung – der Annahme tätiger Reue nicht entgegen, da § 239a Abs. 4 StGB gerade keine Freiwilligkeit voraussetze und es somit auch nicht darauf ankomme, aus welchen Motiven die Täter:innen handelten. Damit kann jedenfalls nach neuerer BGH-Rechtsprechung letztlich auch bei einem „Fehlschlag“ der Tat die reine Tataufgabe für § 239a Abs. 4 StGB ausreichen.
Voraussetzung für § 239a Abs. 4 StGB ist weiter, dass der Täter das Opfer in seinen Lebensbereich zurückgelangen lässt. Ausreichend hierfür ist grundsätzlich, dass der Täter die Geisel aus seiner Gewalt entlässt; ein aktives Handeln ist nicht erforderlich. Das Opfer ist in seinen Lebenskreis zurückgelangt, wenn es (wieder) die Möglichkeit hat, seinen Aufenthaltsort frei zu bestimmen und zu erreichen. Bei Minderjährigen und hilfsbedürftigen Personen kann ggf. die Mitwirkung einer obhutspflichtigen Person erforderlich werden. Im Ergebnis geht es damit weniger um eine örtliche Bestimmung als vielmehr um die Wiedererlangung der Selbstbestimmungsfreiheit des Opfers iSd Rückgewinnung der Verfügungsgewalt über sich selbst.
Darüber hinaus muss der Täter auf die erstrebte Leistung verzichten, d. h. entweder von seiner erpresserischen Forderung absehen oder aber das bereits Erhaltene bzw. ein Äquivalent zurückgeben. Während nach Ansicht der Rspr. die Voraussetzungen der fakultativen Strafmilderung nach § 239a Abs. 4 StGB erst dann vorliegen, wenn der Täter vollständig von seiner erhobenen Forderung – d. h. dauerhaft und endgültig – Abstand nimmt, reicht es nach überwiegender und überzeugender
Gelangt das Opfer ohne Zutun des Täters in Freiheit, so reicht sein ernsthaftes Bemühen, diesen Erfolg zu erreichen, § 239a Abs. 4 S. 2 StGB.
Tritt der Erfolg des § 239a Abs. 3 StGB ein, so scheidet § 239a Abs. 4 StGB aus; dies gilt auch dann, wenn das Opfer erst nach seiner Rückkehr verstirbt.
Erfolgsqualifikation, § 239a Abs. 3 StGB
§ 239a Abs. 3 StGB normiert eine Erfolgsqualifikation iSd § 18 StGB, die ihrer Struktur nach dem Raub mit Todesfolge (§ 251 StGB) entspricht. Im Hinblick auf den Eintritt der schweren Folge – den Tod der Geisel – setzt § 239a Abs. 3 StGB wenigstens Leichtfertigkeit voraus. Anders als bei § 18 StGB reicht die nur fahrlässige Herbeiführung des Todeserfolgs also nicht aus. Leichtfertig handelt, wer die sich ihm aufdrängende Möglichkeit eines tödlichen Verlaufs aus besonderem Leichtsinn oder besonderer Gleichgültigkeit außer Acht lässt. Durch die Einfügung des Wortes „wenigstens“ durch das 6. StrRG 1998 wurde klargestellt, dass § 239a Abs. 3 StGB auch bei vorsätzlicher Tötung Anwendung finden soll.
Der Tod des Opfers muss gerade durch die Tat verursacht werden. Hierfür ist erforderlich, dass sich die tatbestandsspezifische Gefahr des erpresserischen Menschenraubs gerade im Tod des Opfers verwirklicht hat (sog. spezifischer Gefahrenverwirklichungszusammenhang). Dies ist zumeist unproblematisch zu bejahen, wenn der Tod des Opfers durch ein Verhalten des Täters eingetreten ist, etwa weil dieser die Geisel lebensgefährlich untergebracht oder unzureichend versorgt hat. Denn hier realisiert sich gerade die typische Gefahr der Herrschaft des Täters über das Opfer, das sich der gefahrenträchtigen Situation nicht selbst entziehen kann.
Beispiele: leichtfertiges Erstickenlassen des Opfers in einem Erdloch; leichtfertiges Verhungern-, Verdursten-, Erfrierenlassen des Opfers im Versteck.
Der spezifische Gefahrenverwirklichungszusammenhang kann aber auch dann gegeben sein, wenn das Opfer seinen Tod unmittelbar selbst verursacht hat. So gehören auch waghalsige Fluchtversuche und riskante (Selbst-)Befreiungsaktionen, im Zuge derer die Geisel verstirbt, zu den spezifischen Risiken des erpresserischen Menschenraubs.
Beispiel: Der entführte O springt bei seiner Flucht aus dem 60 km/h schnell fahrenden Entführungsfahrzeug und verstirbt an seinen Aufprallverletzungen. – Strafbarkeit des T nach § 239a Abs. 1, Abs. 3 StGB (+), da es gerade ein grunddeliktstypisches Risiko der §§ 239a, 239b StGB darstellt, dass das entführte / bemächtigte Opfer seine persönliche Freiheit auch unter Inkaufnahme von Lebensgefahren wiedererlangen möchte und daher bei dem Versuch der Wiedergewinnung (ggf.) verstirbt.
Schwieriger zu beurteilen sind Fälle, in denen Dritte eingreifen. Während der durch eine polizeiliche Rettungsaktion verursachte Tod des Entführungsopfers übereinstimmend als vom spezifischen Gefahrenverwirklichungszusammenhang mitumfasst angesehen wird, ist dies jedenfalls umstritten, wenn die Polizei die Situation überhaupt nicht als Entführung bzw. Geiselnahme erkennt (vgl. Beispiel 2).
Beispiel 1: Bei einer polizeilichen Befreiungsaktion zur Rettung der Geisel G schießt Polizeibeamtin P auf den Entführer E. Aufgrund des dynamischen Geschehens trifft die Kugel allerdings nicht E, sondern G. G ist sofort tot. – E ist strafbar gem. §§ 239a Abs. 1, Abs. 3 StGB, da das Risiko, im Zuge einer in aller Regel gefährlichen polizeilichen Rettungsaktion zu sterben, gerade ein grunddeliktstypisches Risiko der §§ 239a, 239b StGB darstellt.
Beispiel 2 (nach BGHSt 33, 322): Die Geiseln G1 und G2 werden im Zuge eines Polizeieinsatzes von Polizeibeamt:innen erschossen, die allerdings von der Geiselnahme überhaupt keine Kenntnis hatten, sondern mit der Vorstellung handelten, die Flucht von Straftäter:innen zu unterbinden. – Nach Ansicht des BGH hat sich hier im Tod der Geiseln gerade keine für die Geiselnahme tatbestandsspezifische Gefahr verwirklicht, da die Gefahr für das Leben der Geiseln nicht aus der Verwirklichung des Grunddelikts resultiere, sondern aus der spezifischen Verkennung der Situation erwachsen sei. § 239 Abs. 3 StGB sei daher nicht einschlägig.
§ 239a Abs. 3 StGB ist auch dann einschlägig, wenn das Opfer erst nach Beendigung der Zwangslage an den Spätfolgen der Tat stirbt, sofern die Ursache während der Tat gesetzt wurde.
Beispiel 1:
Beispiel 2: Das Entführungsopfer O wird vom Täter T freigelassen. Auf dem Nachhauseweg, den O zu Fuß zurücklegt, überfährt Autofahrer A versehentlich den O. O ist sofort tot. – Mangels Fortbestehens der mit der Bemächtigung begründeten tatbestandsspezifischen Gefahrenlage scheidet eine Strafbarkeit des T nach § 239a Abs. 3 StGB aus; die unmittelbare Todesursache wurde erst nach der bzw. durch die „Freigabe“ des O durch T gesetzt. Möglich ist aber ggf. eine Bestrafung des T aus § 222 StGB.
Konkurrenzen
Zwischen § 239a Abs. 1 StGB und der (versuchten) Erpressung besteht aus Klarstellungsgründen – d. h. um deutlich zu machen, ob die Erpressung nur versucht oder gar vollendet wurde – Tateinheit (§ 52 StGB).
§ 239b StGB tritt gegenüber § 239a StGB als subsidiär zurück, wenn die Geiselnahme nur der unrechtmäßigen Bereicherung dient. Werden dagegen neben dieser noch weitere, darüber hinausgehende Nötigungsziele verfolgt, liegt Tateinheit vor. Dagegen werden §§ 239 und 240 StGB grundsätzlich verdrängt. Allerdings kann in Fällen, in denen die Freiheitsentziehung deutlich über die in § 239a StGB vorausgesetzte Einschränkung der persönlichen Fortbewegungsfreiheit des Opfers hinausgeht und daher einen eigenständigen Unrechtsgehalt aufweist, auch Tateinheit mit § 239 StGB bestehen.
Beispiel (nach BGH NStZ-RR 2003, 45): Nachdem das entführte Opfer O die geforderten 100 EUR übergeben hat, fahren die Entführer:innen weiter mit ihm stundenlang in ihrem PKW herum.
Mit §§ 223 ff. StGB und §§ 211, 212 StGB ist – auch im Falle des § 239a Abs. 3 StGB – Tateinheit möglich, dagegen wird § 222 StGB im Wege der Gesetzeskonkurrenz verdrängt.
Aufbauschemata
Entführungs- bzw. Bemächtigungstatbestand, § 239a Abs. 1 Alt. 1 StGB
Tatbestand
Objektiver Tatbestand
Anderer Mensch
Entführen oder Sich-Bemächtigen
Subjektiver Tatbestand
Vorsatz
Erpressungsabsicht
Zeitlich-funktionaler Zusammenhang (v. a. im Zwei-Personen-Verhältnis)
Rechtswidrigkeit
Schuld
Tätige Reue, § 239a Abs. 4 StGB
Evtl. Erfolgsqualifikation nach § 239a Abs. 3 StGB: leichtfertige Todesverursachung
Ausnutzungstatbestand, § 239a Abs. 1 Alt. 2 StGB
Tatbestand
Objektiver Tatbestand
Anderer Mensch
Entführen oder Sich-Bemächtigen (ohne Erpressungsabsicht)
Erpressung(sversuch) unter Ausnutzung der geschaffenen Lage
Subjektiver Tatbestand: Vorsatz (inkl. Bereicherungsabsicht)
Rechtswidrigkeit
Schuld
Tätige Reue, § 239a Abs. 4 StGB
Evtl. Erfolgsqualifikation nach § 239a Abs. 3 StGB: leichtfertige Todesverursachung
Prozessuales / Wissen für die Zweite Juristische Prüfung
Aus § 138 Abs. 1 Nr. 6 StGB folgt eine Anzeigepflicht für geplante Taten. § 239a StGB ist auch eine Katalogtat für die Bildung terroristischer Vereinigungen nach § 129a Abs. 1 Nr. 2 StGB.
Ist eine Person einer Beteiligung an einer Straftat nach § 239a StGB verdächtig, gestattet § 100a Abs. 2 Nr. 1 lit. i) StPO die Anordnung der Überwachung der Telekommunikation; auch der sog. „große Lauschangriff“ ist dann zulässig, §§ 100c Abs. 1, 100b Abs. 2 Nr. 1 lit. h) StPO.
Für den erpresserischen Menschenraub mit Todesfolge nach § 239a Abs. 3 StGB ist gem. § 74 Abs. 2 Nr. 10 GVG die Große Strafkammer als Schwurgericht zuständig.
Weiterführende Studienliteratur
Elsner, §§ 239a, 239b StGB in der Fallbearbeitung – Deliktsaufbau und (bekannte und weniger bekannte) Einzelprobleme, JuS 2006, 784 ff.
Satzger, Erpresserischer Menschenraub (§ 239a StGB) und Geiselnahme (§ 239b StGB) im Zweipersonenverhältnis, JURA 2007, 114 ff.
Zöller, Erpresserischer Menschenraub, Geiselnahme und das Zwei-Personen-Verhältnis in der Fallbearbeitung, JA 2000, 476 ff.
Geiselnahme, § 239b StGB
Rechtsgut und Deliktsstruktur
Deliktsnatur und Systematik entsprechen weitgehend denen des § 239a StGB. Wie § 239a StGB schützt § 239b StGB verschiedene Rechtsgüter: vorrangig die persönliche Freiheit sowie die körperliche und seelische Unversehrtheit der Geisel. Daneben ist auch die Freiheit einer besorgten dritten Person („besorgter Dritter“) geschützt. Im Vergleich zu § 239a StGB (→ Rn. 6) rückt der Schutz der körperlichen und psychischen Integrität des Tatopfers bei § 239b StGB in den Vordergrund.
Anders als bei § 239a StGB erstrebt der Täter einer Geiselnahme keine Bereicherung durch Erpressung, sondern es geht ihm um die Beeinträchtigung der Entscheidungsfreiheit des Opfers zu anderen Zwecken (zB zur Befreiung von Inhaftierten oder zur Fluchtermöglichung).
Beispiel (nach BGH NStZ 2022, 41): O nutzt über Monate die Gutmütigkeit von A und B aus, wohnt bei diesen und leiht sich von ihnen kleinere Summen (insgesamt 300 EUR), ohne diese zurückzuzahlen. Als A und B hiervon genug haben, beschließen sie, den O zu entführen. Hierzu verbringen sie ihn mit Gewalt in eine abgelegene Waldhütte und schlagen und bedrohen ihn mit einer durchgeladenen Schreckschusspistole. Schließlich setzen beide dem O eine Gartenschere an Daumen und kleinen Finger und fordern von ihm, bis Mitte des kommenden Monats insgesamt 10.000 EUR zu zahlen. A und B ist dabei bewusst, dass sie die Zahlung einer Summe verlangen, welche die „Schulden“ des O wesentlich übersteigt. Eine Rate von 4.000 EUR soll O bereits am Folgetag an A und B übergeben. Der verängstigte und um seine Finger fürchtende O erklärt sich dazu bereit und gibt sein „Ehrenwort“. A und B gehen dabei von einer „verbindlichen Zahlungszusage“ des O aus. Schließlich lassen A und B den O (wie von Anfang an geplant) noch am selben Tag frei. Zu einer Geldübergabe kommt es in der Folgezeit jedoch nicht. – A und B sind nicht strafbar gem. § 239a Abs. 1 Alt. 1 StGB, da es vorliegend an der Absicht des Ausnutzens der Bemächtigungslage zur Begehung einer Erpressung fehlt. Denn die vermögensrelevante Handlung (Zahlung von zunächst 4.000 EUR, dann weiteren 6.000 EUR) soll nach der Vorstellung von A und B erst nach Ende der Bemächtigungslage (d. h. am Folgetag bzw. Mitte des kommenden Monats) stattfinden. Zwar kann für die Annahme einer vermögensrelevanten Handlung grundsätzlich auch die Abgabe eines notariell beglaubigten Schuldanerkenntnisses genügen
Entführungs- und Bemächtigungstatbestand (§ 239b Abs. 1 Alt. 1 StGB)
Objektiver Tatbestand
Hinsichtlich des objektiven Tatbestands der Geiselnahme gelten die iRd § 239a Abs. 1 Alt. 1 StGB getätigten Ausführungen zum Tatopfer und zu den Tathandlungen des Entführens und Sich-Bemächtigens entsprechend (→ Rn. 10 ff.).
Subjektiver Tatbestand
Erforderlich ist zumindest bedingt vorsätzliches Handeln hinsichtlich der Merkmale des objektiven Tatbestands. Daneben muss der Täter Absicht im Sinne von dolus directus 1. Grades im Hinblick auf den zweiten Teilakt, die Nötigung durch eine qualifizierte Drohung, aufweisen. So muss der Täter ausweislich des ausdrücklichen Wortlauts des § 239b Abs. 1 Alt. 1 StGB beabsichtigen, das Opfer oder einen Dritten durch die Drohung mit dem Tod oder einer schweren Körperverletzung des Opfers iSd § 226 StGB oder mit dessen Freiheitsentziehung von über einer Woche Dauer (= qualifizierte Drohung) zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung zu nötigen. Andere Drohmittel genügen dagegen nicht.
Beispiel (zT nach BGH NStZ 2008, 209): T, der sich vergeblich um die Aufnahme einer sexuellen Beziehung zu A bemüht hatte, entführt diese. Hierbei fesselt er die A, kettet sie an, stranguliert sie in lebensbedrohlicher Weise und verbringt sie mehrfach für längere Zeiträume in eine von ihm präparierte sargähnliche Kiste, um sie gefügig zu machen. – Strafbarkeit des T gem. § 239b Abs. 1 Alt. 1 StGB aufgrund der (jedenfalls konkludenten) Todesdrohung durch Einsperren in den „Sarg“ bzw. die sonstigen tatsächlichen Tatumstände.
Beispiel: A hat gegen B einen fälligen Darlehensrückzahlungsanspruch iHv 10.000 EUR. Trotz mehrfacher Aufforderung zur Zahlung kommt B der Forderung nicht nach. Weil sich A nicht anders zu helfen weiß und dringend auf das Geld angewiesen ist, entführt sie B, um ihn unter Anwendung qualifizierter Drohungen doch noch zur Zahlung zu bewegen. – Auch wenn A hier einen Anspruch auf die Handlung (Rückzahlung von 10.000 EUR) hat, ist § 239b StGB – anders als § 239a StGB, der auf eine Erpressung gem. § 253 StGB Bezug nimmt – allein wegen des Einsatzes der qualifizierten Drohung anwendbar. Die Verwerflichkeit der Nötigung (§ 240 Abs. 2 StGB) folgt bereits aus dem Einsatz des Nötigungsmittels.
Beabsichtigter Nötigungserfolg kann dabei jedes beliebige Tun, Dulden oder Unterlassen sein, wobei das abgenötigte Verhalten über das reine Dulden der Bemächtigung selbst hinausgehen muss. Insofern genügt auch das Erstreben eines Teilerfolges, wenn dieser eine eigenständige Bedeutung gegenüber dem Enderfolg haben soll. Bagatellfälle und Lappalien (zB das erstrebte Unterlassen eines Restaurant- oder Kinobesuchs) sind nicht von der Anwendung des § 239b StGB ausgeschlossen.
Beispiel 3 (nach BGH StV 2015, 765): A und B entführen Z, von dem sie befürchten, er habe sie in einer polizeilichen Vernehmung belastet. Sie halten Z in ihrem Auto fest und schüchtern ihn massiv – aber noch ohne Einsatz qualifizierter Drohungen – ein, um so seine Aussage bei der Polizei zu erfahren. Z schildert daraufhin seine Aussage, mit der er A und B als Hintermänner eines Drogenrings benennt. Aus der sich (nun) entwickelnden Angst, die Täter könnten ihn umbringen, um die getätigte Aussage ungeschehen zu machen, bietet er an, diese „zurückzunehmen“. Als Z austreten muss, bewacht ihn A und bedroht ihn mit dem Tod, sollte er weglaufen bzw. seine Aussage später nicht widerrufen. Von einer „Verbindlichkeit“ des Widerrufsangebots des Z gehen A und B aber nicht aus. – Hier liegt keine Geiselnahme nach § 239b Abs. 1 StGB vor: Der während der Entführung durchgesetzte Nötigungserfolg, also die Mitteilung, welche Angaben bei der Polizei gemacht wurden, wurde nicht durch ein (erforderliches) qualifiziertes Nötigungsmittel herbeigeführt. Die späteren Todesdrohungen wiederum sollten nur zu einem abgenötigten Verhalten in Gestalt des Widerrufs der belastenden Angaben bei der Polizei nach Ende der Bemächtigungssituation führen. Die bloße Zusage späteren Verhaltens reicht für eine Straftat nach § 239b Abs. 1 StGB jedoch grundsätzlich nicht aus: Zwar kann auch das Erreichen eines Teilerfolges des Täters, der ein weitergehendes Ziel vorbereitet, eine Nötigung darstellen,
Wie bei § 239a Abs. 1 Alt. 1 StGB ist auch iRd § 239b Abs. 1 Alt. 1 StGB ein zeitlich-funktionaler Zusammenhang zwischen der Entführung bzw. Bemächtigung und der beabsichtigten Nötigung dahingehend erforderlich, dass die erstrebte Handlung, Duldung oder Unterlassung noch während der Zwangslage vorgenommen werden soll.
Im Übrigen gelten die für § 239a Abs. 1 Alt. 1 StGB dargestellten Grundsätze zur Einschränkung des Tatbestands (insbesondere) im Zwei-Personen-Verhältnis für § 239b Abs. 1 Alt. 1 StGB entsprechend.
Ausnutzen einer Bemächtigungslage (§ 239b Abs. 1 Alt. 2 StGB)
Objektiver Tatbestand
§ 239b Abs. 1 Alt. 2 StGB ist strukturell dem Ausnutzungstatbestand des § 239a Abs. 1 Alt. 2 StGB nachgebildet, sodass die dortigen Ausführungen entsprechende Geltung beanspruchen können. Folglich darf der Täter auch iRd § 239b Abs. 1 Alt. 2 StGB bei Begehung der Entführung bzw. Bemächtigung noch nicht die in § 239b Abs. 1 Alt. 1 StGB vorausgesetzte (qualifizierte) Nötigungsabsicht aufweisen. Vielmehr muss diese erst später hinzukommen.
Des Weiteren ist erforderlich, dass der Täter die von ihm durch die Entführung bzw. Bemächtigung geschaffene Lage zu einer (nach hM jedenfalls versuchten
Subjektiver Tatbestand
Im Rahmen des subjektiven Tatbestands reicht Eventualvorsatz bzgl. der Merkmale des objektiven Tatbestands aus.
Teilnahme, Vollendung und Versuch
Hinsichtlich der Teilnahme zu § 239b StGB gelten die diesbezüglichen Ausführungen zu § 239a StGB entsprechend.
§ 239b Abs. 1 Alt. 1 StGB ist mit der Entführung bzw. Bemächtigung des Opfers in (qualifizierter) Nötigungsabsicht vollendet. Bei der Ausnutzungsvariante nach § 239b Abs. 1 Alt. 2 StGB tritt Vollendung – jedenfalls nach hM (s. o.) – bereits mit dem Versuch der Nötigung ein.
Minder schwerer Fall, Erfolgsqualifikation und tätige Reue, § 239b Abs. 2 iVm § 239a Abs. 2-4 StGB
§ 239b Abs. 2 StGB verweist auf § 239a Abs. 2-4 StGB. Für den minder schweren Fall, die Erfolgsqualifikation sowie die tätige Reue gelten daher die Ausführungen zu § 239a StGB entsprechend.
Konkurrenzen
Hier ist ebenfalls auf die Ausführungen zu § 239a StGB zu verweisen. Als Grundlage für eine mögliche Verklammerung mehrerer verschiedener Straftaten gegen dasselbe Tatopfer durch § 239b StGB reicht – jedenfalls nach Ansicht der Rspr. – eine fortbestehende Bemächtigungslage aus.
Aufbauschemata
Entführungs- bzw. Bemächtigungstatbestand, § 239b Abs. 1 Alt. 1 StGB
Tatbestand
Objektiver Tatbestand
Anderer Mensch
Entführen oder Sich-Bemächtigen
Subjektiver Tatbestand
Vorsatz
Qualifizierte Nötigungsabsicht
Zeitlich-funktionaler Zusammenhang (v. a. im Zwei-Personen-Verhältnis)
Rechtswidrigkeit
Schuld
Tätige Reue, § 239b Abs. 2 iVm § 239a Abs. 4 StGB
Evtl. Erfolgsqualifikation nach § 239b Abs. 2 iVm § 239a Abs. 3 StGB: leichtfertige Todesverursachung
Ausnutzungstatbestand, § 239b Abs. 1 Alt. 2 StGB
Tatbestand
Objektiver Tatbestand
Anderer Mensch
Entführen oder Sich-Bemächtigen (ohne qualifizierte Nötigungsabsicht)
Qualifizierte(r) Nötigung(sversuch) unter Ausnutzung der geschaffenen Lage
Subjektiver Tatbestand: Vorsatz
Rechtswidrigkeit
Schuld
Tätige Reue, § 239b Abs. 2 iVm § 239a Abs. 4 StGB
Evtl. Erfolgsqualifikation nach § 239b Abs. 2 iVm § 239a Abs. 3 StGB: leichtfertige Todesverursachung
Prozessuales / Wissen für die Zweite juristische Prüfung
Die im Hinblick auf § 239a StGB getätigten Äußerungen gelten entsprechend. Die Zuständigkeit des Schwurgerichts für die Geiselnahme mit Todesfolge (§ 239b Abs. 2 iVm § 239a Abs. 3 StGB) folgt aus § 74 Abs. 2 Nr. 11 GVG.
Weiterführende Studienliteratur
S. o. → B. XII.