Kilian Wegner Strafrecht Besonderer Teil I: Delikte gegen die Person und die Allgemeinheit Licensed under CC-BY-4.0

§ 1: Einführung in die Straftaten gegen das Leben

Autor:innen: Charlotte Korenke / Manuel Richter

Übersicht

Der 16. Abschnitt des StGB enthält in den §§ 211-222 StGB die Straftaten gegen das Leben.

Vorsätzliche Tötungen werden von den §§ 211212 und 216 StGB erfasst. Der Totschlag (§ 212 StGB) bildet insoweit den Normalfall der vorsätzlichen Tötung (→ § 2 Rn. 6 ff.). § 213 StGB ist eine Strafzumessungsvorschrift zu § 212 StGB, die in Betracht kommt, wenn die Tat aufgrund besonderer Umstände weniger schwer wiegt. Der Mord (§ 211 StGB) enthält abschließend aufgezählte Merkmale, die die Art und Weise der Begehung oder die Intention der Tötung betreffen und die den Unrechtsgehalt der Tat damit erhöhen. Aus diesem Grund droht § 211 StGB eine gegenüber § 212 StGB erhöhte Strafe an, nämlich zwingend lebenslange Freiheitsstrafe, obgleich diese in der Praxis in aller Regel nicht ein Leben lang andauert (→ § 2 Rn. 134). Tötet jemand das Opfer hingegen auf dessen ausdrückliches und ernstliches Verlangen hin, so wird er durch die Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB) privilegiert (→ § 3). In welchem Verhältnis die §§ 212211 StGB einerseits zu § 216 StGB andererseits stehen, ist umstritten (→ § 2 Rn. 113 ff.).

Während alle vorstehend genannten Delikte Erfolgsdelikte sind und voraussetzen, dass tatsächlich ein Mensch zu Tode gekommen ist, erfasst die Aussetzung (§ 221 StGB) auch bloße (konkrete) Gefährdungen des Lebens (→ § 6).

Da das Leben ein sehr gewichtiges Rechtsgut ist (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG), ist nicht nur die vorsätzliche (§ 15 StGB), sondern mit § 222 StGB auch die fahrlässige Tötung unter Strafe gestellt (→ § 5). Bei einigen Delikten stellt die fahrlässige bzw. leichtfertige Herbeiführung des Todes darüber hinaus eine schwere Folge iSd erfolgsqualifizierten Delikte dar (zB §§ 227251306c StGB).

Im Jahr 2015 wurde der von vornherein sehr umstritteneS. insb. Hilgendorf/Rosenau, medstra 2015, 129; Gaede, JuS 2016, 385 (386 f.). Straftatbestand der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung (§ 217 StGB) in das StGB aufgenommen, den das BVerfG jedoch im Jahr 2020 für verfassungswidrig und nichtig erklärt hatBVerfGE 153, 182 (Rn. 202 ff.) m. Anm. Brunhöber, NStZ 2020, 538. (näher hierzu → § 4 Rn. 3 ff.).

Praktische Relevanz

Die Tötungsdelikte sind zwar in der juristischen Ausbildung und auch in öffentlichen kriminalpolitischen Debatten sehr präsent, kommen aber praktisch nur selten vor: Die polizeiliche Kriminalitätsstatistik (PKS) verzeichnet für das Jahr 2023 2.282 eingeleitete Ermittlungsverfahren wegen vorsätzlicher Tötungsdelikte – das entspricht einem Anteil von weniger als 0,1 % an der Gesamtkriminalität.Bundeskriminalamt, Polizeiliche Kriminalitätsstatistik 2023, Tabelle 1: Grundtabelle, V1.0 v. 7. Februar 2024. Dabei handelt es sich nur bei einem relativ kleinen Teil der Taten um vollendete Tötungen.Bundeskriminalamt, Polizeiliche Kriminalitätsstatistik 2023, Tabelle 1: Grundtabelle, V1.0 v. 7. Februar 2024. Etwa ein Drittel der Taten wird der PKS zufolge durch (Ehe-)Partner:innen oder Familienmitglieder begangen – ist das Opfer weiblich, sind es mehr als die Hälfte.Bundeskriminalamt, Polizeiliche Kriminalitätsstatistik 2023, Tabelle 92: Opfer-Tatverdächtigen-Beziehung, V1.0 v. 19. Februar 2024.

Weiterführendes Wissen: Die Aussagekraft der PKS ist sehr begrenzt: Die Statistik erfasst nicht alle tatsächlich begangenen Straftaten, sondern nur von der Polizei als Straftat bearbeitete Vorgänge.Kunz/Singelnstein, Kriminologie, 8. Aufl. (2021), § 16 Rn. 2. Bei Straftaten gegen das Leben kommt hinzu, dass Taten, die von der Polizei etwa als versuchter Mord oder Totschlag beurteilt worden und als solche in die PKS eingegangen sind, im weiteren Verlauf des Verfahrens oft von Staatsanwaltschaften und Gerichten anders, etwa nur noch als einfache Körperverletzung, bewertet werden.Kunz/Singelnstein, Kriminologie, 8. Aufl. (2021), § 16 Rn. 5.

Beginn und Ende des Lebens aus strafrechtlicher Sicht

Tatobjekt der §§ 211216 sowie 221 f. StGB kann nur ein Mensch sein. Dieses scheinbar triviale Tatbestandsmerkmal kann im Einzelfall erhebliche Probleme aufwerfen.

Beginn des Lebens

Zu Beginn des Lebens stellt sich die Herausforderung, den Anwendungsbereich der hier erörterten Vorschriften vom Anwendungsbereich der das ungeborene Leben schützenden Vorschriften nach §§ 218-219b StGB abzugrenzen.Zum Ganzen Kaltenhäuser, JuS 2015, 785. Die Leibesfrucht im Mutterleib ist kein „Mensch“ iSd §§ 211-216221 f. StGB, sondern wird ausschließlich von den §§ 218 ff. StGB erfasst. Erst mit der Geburt wird die Leibesfrucht zum Menschen.

Naheliegend wäre es, für den Zeitpunkt der Geburt mit einer Mindermeinung an § 1 BGB anzuknüpfen und den Anwendungsbereich der Tötungsdelikte mit Vollendung der Geburt beginnen zu lassen.So etwa Herzberg/Herzberg, JZ 2001, 1106. Im Strafrecht ist nach hM jedoch nicht die Vollendung, sondern schon der Beginn der Geburt der ausschlaggebende Zeitpunkt.St. Rspr. seit RGSt 1, 446 (448); vgl. auch BGHSt 65, 163 (Rn. 14 ff.) m. Anm. Eisele JuS 2021, 272; BGH NJW 2024, 298 m. Anm. Lorenz; Kühl, JA 2009, 321. Dies fußt auf zwei Erwägungen: Erstens benötigt das Kind während der Geburt den erweiterten strafrechtlichen Schutz, da die Geburt für das Kind einen besonders gefährlichen Vorgang darstellt, in dem es insb. vor fahrlässigen ärztlichen Kunstfehlern geschützt werden muss. Der Schutz über die §§ 218 ff. StGB reicht dazu nicht aus, da diese nur vorsätzliches Verhalten erfassen (§ 15 StGB). Die Tötungsdelikte hingegen gewährleisten auch einen Schutz gegenüber fahrlässigen Verhaltensweisen (§ 222 StGB) und damit ein interessengerechteres Schutzniveau.BGH NJW 2024, 298 (299). Zweitens lässt sich diese Auslegung auch rechtshistorisch begründen: § 217 StGB aF, der zum 1. April 1998 abgeschafft wurde (und nicht mit der nichtigen Nachfolgernorm § 217 StGB nF zu verwechseln ist, die die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung betrifft), enthielt eine Privilegierung zu § 212 StGB, die bei der Tötung eines unehelichen Kindes durch die Mutter eingriff, wenn diese „in oder gleich nach der Geburt“ erfolgte. „In“ der Geburt musste das Kind also schon ein Mensch sein, sonst hätte es einer Privilegierung zu § 212 StGB in solchen Fällen nicht bedurft. Daraus folgte, dass die Vollendung der Geburt für die Menschwerdung im Strafrecht gerade nicht notwendig war. Der Anknüpfungspunkt dieser Auslegung entfiel zwar mit der Abschaffung des § 217 StGB aF, jedoch wollte der Gesetzgeber durch die Abschaffung nicht den Zeitpunkt der Menschwerdung verändern. Folglich hat dieses systematisch-historische Argument nach wie vor Bestand.BT-Drs. 13/8587, S. 34; BGH NJW 2021, 645 (646 f.).

Wann die Geburt genau beginnt, hängt von der Art der Geburt ab: Die vaginale Geburt beginnt mit Einsetzen der Eröffnungswehen.Kühl, JA 2009, 321 (321). Beim Kaiserschnitt ist grds. auch auf den Beginn der Eröffnungswehen abzustellen.Kaltenhäuser, JuS 2015, 785 (787). Jedoch werden Kaiserschnitte zum Teil auch schon vorgenommen, bevor die Eröffnungswehen einsetzen. In diesen Fällen ist nach hM auf die Öffnung des Uterus mit der subjektiven Zwecksetzung, das Kind vom Mutterleib zu trennen, abzustellen, denn ab diesem Zeitpunkt kann die Entbindung regelmäßig nicht mehr abgebrochen werden.BGHSt 65, 163 (Rn. 21 ff.) m. Anm. Eisele, JuS 2021, 272 („Berliner Zwillingsfall“).

Weiterführendes Wissen: In der Praxis können durch die Grenzziehung bei den Eröffnungswehen nicht unerhebliche Beweisschwierigkeiten auftreten, da es neben den Eröffnungswehen noch weitere Wehenarten gibt (insb. sog. Vorwehen) und diese selbst für medizinisches Fachpersonal nicht immer klar von Eröffnungswehen unterscheidbar sind. Dies bedingt nicht nur Beweisschwierigkeiten auf objektiver Ebene, sondern insb. auch beim Vorsatz.OLG Karlsruhe NStZ 1985, 314 (315).

Bei der Frage, ob eine Tat in den Anwendungsbereich der §§ 211 ff. StGB oder §§ 218 ff. StGB fällt, ist nach hM auf den Zeitpunkt der schädigenden Einwirkung auf das Tatopfer abzustellen, nicht auf den der Tathandlung oder des Erfolgseintritts.BGH NStZ 2008, 393 (394); Sowada, GA 2011, 389 (408). Dies muss insb. in den Fallgestaltungen der sog. pränatalen Einwirkungen mit postnatalen Folgen beachtet werden, in denen die Leibesfrucht vor der Geburt geschädigt wird, diese Schädigungen aber erst nach der Geburt zum Tod des Kindes führen. In diesen Fällen kam zwar letztlich ein Mensch zu Tode, dennoch bestimmt sich die Strafbarkeit allein nach den §§ 218 ff. StGB, d. h. die §§ 211 ff. StGB sind nicht anwendbar. Andernfalls würde man die gesetzgeberische Wertung, Schädigungshandlungen am ungeborenen Leben weniger stark zu bestrafen bzw. bei Fahrlässigkeit gänzlich straflos zu halten, unterlaufen.Kühl, JA 2009, 321 (323 f.).

Beispiel nach (BGH NStZ 2008, 393): S ist im sechsten Monat von T schwanger und hat sich von ihm getrennt. Da T sie ganz für sich allein will, sticht er S mit einem Küchenmesser in die Brust, wodurch diese einen Kreislaufstillstand erleidet. S kann durch eine Notoperation gerettet werden, jedoch musste ein Notfallkaiserschnitt vorgenommen werden. Das Kind kam lebendig zur Welt, verstarb aber 16 Tage später auf der Kinderintensivstation an den Folgen des Kreislaufstillstandes seiner Mutter. In Bezug auf die versuchte Tötung der S verwirklicht T §§ 212 Abs. 1211 Abs. 2 Var. 42223 Abs. 1 StGB, da er aus niedrigen Beweggründen handelte (Eifersucht, Anmaßung eines absoluten Besitzanspruchs über S) sowie §§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2, 5 StGB. Auch hat T kausal den Tod des Kindes herbeigeführt. Da zur Zeit der Einwirkung (das Herbeiführen des Kreislaufstillstandes der Mutter) das Tatobjekt jedoch noch kein Mensch war, sondern eine Leibesfrucht, ist der Anwendungsbereich der §§ 211 ff. StGB nicht eröffnet. Das Gleiche gilt für die §§ 223 ff. StGB am Kind, da diese ebenfalls voraussetzen, dass das Tatobjekt zum Zeitpunkt der Einwirkung ein Mensch ist. Die Tötung des Kindes stellt vielmehr nur eine Tat nach § 218 Abs. 1 S. 1 StGB dar.

Ende des Lebens

Die Subsumtion unter das Tatbestandsmerkmal „Mensch“ ist bei Fallkonstellation am Ende des Lebens in Klausuren zumeist unproblematisch. Während der Tod nach früherem Verständnis im endgültigen Stillstand des Kreislaufes zu sehen war (sog. Herz- oder Kreislauftod), tritt der Tod nach heute hM mit dem irreversiblen Erliegen der gesamten Hirnströme ein (sog. Hirntod, vgl. § 3 Abs. 2 Nr. 2 TPG).Heyers, JURA 2016, 709 (715). Für das Abstellen auf den Hirntod spricht insb., dass die moderne Medizin bei Zusammenbrüchen des Kreislaufes weitreichende Reanimationsmöglichkeiten bietet, sodass nunmehr nur der Hirntod ein verlässliches Kriterium darstellen kann.Rengier, BT II, 25. Aufl. (2024), § 3 Rn. 9; vgl. auch Sternberg-Lieben, JA 1997, 80 (82). Diese Grenzziehung ermöglicht es zwar auch, Organentnahmen bei Hirntoten durchzuführenRengier, BT II, 25. Aufl. (2024), § 3 Rn. 9; Kaspar/Broichmann, ZJS 2013, 249 (252). und damit die Interessen der Transplantationsmedizin an möglichst „frischen“ Organen zu wahren. Dieser Umstand kann aber nicht als Argument für das Abstellen auf den Hirntod fungieren, sondern lediglich als positiver Nebeneffekt gesehen werden.Kühl, JA 2009, 321 (323); Roxin, in: Beckmann u. a. (Hrsg.), GS Tröndle, 2019, S. 914.

Absolutheit des Lebensschutzes

Bei den Tötungsdelikten gilt der Grundsatz der Absolutheit des Lebensschutzes.Zum Ganzen Ladiges, JuS 2011, 879. Über die gesamte Zeitspanne zwischen Beginn und Ende des Lebens ist jedes Leben gleich stark geschützt, unabhängig von Alter, Gesundheitszustand oder gesellschaftlicher Stellung des Menschen. Eine Einteilung in lebenswertes und lebensunwertes Leben verbietet bereits die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG). Absolutheit darf jedoch nicht missverstanden werden: Gemeint ist, dass jedes Leben in jeder Lebenslage (abstrakt) geschützt ist. Ein Schutz besteht aber nicht vor jedem denkbaren (konkreten) Angriff. So ist zB die (versuchte) Selbsttötung straflos (→ Rn. 21). Auch ist anerkannt, dass die Tötung eines anderen Menschen in Notwehr (§ 32 StGB) gerechtfertigt sein kann. Absolutheit bedeutet aber auch, dass es unerheblich ist, ob das Leben des Opfers um mehrere Jahre oder – weil es schwer krank ist oder sich in einer akuten Gefahrensituation befindet – nur um wenige Momente verkürzt wird. Auch das ohnehin alsbald endende Leben ist von den §§ 211 ff. StGB geschützt.

Beispiel: Erschießt jemand ein schwer verletztes Unfallopfer, das in den nächsten Minuten seinen Verletzungen erliegen wird, so liegt eine Tat nach § 212 StGB, ggf. auch iVm § 216 StGB, vor.

Besondere Schwierigkeiten bereiten die in jüngerer Zeit verstärkt in den Fokus geratenen sog. Triage-Fälle. Dabei handelt es sich um Situationen, in denen die zur Verfügung stehenden Ressourcen nicht ausreichen, um alle lebensgefährlich Erkrankten oder Verletzten kumulativ medizinisch zu versorgen (zB aufgrund eines Mangels an Beatmungsgeräten). Der absolute Lebensschutz einer Person konkurriert hier mit dem absoluten Lebensschutz einer anderen Person bzw. mehrerer anderer Personen.

Müssen mehrere Personen medizinisch versorgt werden, die sich aktuell noch nicht in Behandlung befinden, und reichen die Ressourcen nicht für die kumulative Rettung aller aus, so spricht man von der sog. „Ex-ante-Triage“.

Beispiel: X und Y werden gleichzeitig mit einer SARS-CoV-2-Infektion im Krankenhaus eingeliefert und müssen an ein Beatmungsgerät angeschlossen werden. Aufgrund des um sich greifenden Pandemiegeschehens ist jedoch nur noch ein einziges Beatmungsgerät frei. Die zuständige Ärztin C schließt X an das Gerät an, sodass dieser überlebt. Y hingegen stirbt mangels Beatmung.

In Frage kommt eine Strafbarkeit wegen Tötung durch Unterlassen, die aber durch eine rechtfertigendende Pflichtenkollision gerechtfertigt werden kann. Voraussetzung ist, dass beide Handlungspflichten („Rette X!“ und „Rette Y!“) gleichwertig sind. Dies ist der Fall, wenn beide Patienten mit gleicher Dringlichkeit auf medizinische Behandlung angewiesen sind. Darüber hinaus gibt die rechtfertigende Pflichtenkollision aber keine weiteren, zwingenden Auswahlkriterien vor.Rönnau/Wegner, JuS 2020, 403 (404); Waßmer, JA 2021, 298 (299). Die Ärztin ist also frei, das Beatmungsgerät (bei gleicher Dringlichkeit) nach der Erfolgsaussicht oder auch nach gänzlich anderen Kriterien zu vergeben.

Weiterführendes Wissen: Für Situationen, in denen aufgrund einer übertragbaren Krankheit keine ausreichenden Ressourcen zur Verfügung stehen, gibt § 5c Abs. 2 S. 1 IfSG nunmehr vor, dass die Entscheidung, welcher Person die Behandlung zugeteilt werden soll, „nur aufgrund der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit“ getroffen werden darf. Außerdem verbietet § 5c Abs. 1 S. 1 IfSG explizit eine Auswahl nach diversen diskriminierenden Kriterien, § 5c Abs. 3 und 4 IfSG regeln zudem detailliert das einzuhaltende Verfahren. Zwar geben die Gesetzesmaterialien vor, dass § 5c IfSG an der strafrechtlichen Bewertung nichts ändern solle,BT-Drs. 20/3877, S. 20. was dies aber konkret bedeutet, ist bislang nicht geklärt.Näher dazu Engländer, medstra 2023, 142 (144 ff.).

Davon zu unterscheiden ist die sog. „Ex-post-Triage“. Hier befindet sich eine Person bereits in Behandlung und es stellt sich die Frage, ob ihre bereits laufende Behandlung abgebrochen werden darf, um mit den freiwerdenden Ressourcen eine andere Person zu retten.

Beispiel: B befindet sich mit einer SARS-CoV-2-Infektion im Krankenhaus und ist an ein Beatmungsgerät angeschlossen. Bei fortdauernder Beatmung hat er eine Überlebenswahrscheinlichkeit von 40 %. Nun wird auch A eingeliefert und ist beatmungsbedürftig, jedoch verfügt das Krankenhaus über keine freien Beatmungsgeräte mehr. Die zuständige Ärztin C stellt das Beatmungsgerät von B ab und schließt A daran an, welcher daher eine Überlebenswahrscheinlichkeit von 80 % hat. B stirbt mangels Beatmung.

§ 34 StGB ist nicht einschlägig, da Leben nicht gegen Leben abgewogen werden kann. Ein entschuldigender Notstand, § 35 Abs. 1 StGB, scheidet ebenfalls aus, da die behandelten Patienten (wie im Beispiel) typischerweise weder Angehörige noch eine nahestehende Personen der Ärzte sind. Auch der übergesetzliche entschuldigende Notstand greift hier nicht, da die Zahl der geretteten Menschenleben regelmäßig (und auch im Beispiel) nicht deutlich überwiegt.Rönnau/Wegner, JuS 2020, 403 (405 f.); aA Waßmer, JA 2021, 298 (302 f.), der ein deutliches Überwiegen der Erfolgsaussicht ausreichen lässt. Da das Abschalten des Beatmungsgeräts von B nach hM ein aktives Tun darstellt, also eine Unterlassungspflicht („Schalte die Geräte bei B nicht ab!“) mit einer Handlungspflicht („Schließe A an ein Beatmungsgerät an!“) konkurriert, kommt hier auch die rechtfertigenden Pflichtenkollision nicht in Betracht. Eine Mindermeinung bejaht hingegen die Anwendbarkeit der rechtfertigenden Pflichtenkollision, jedenfalls dann, wenn die Erfolgsaussicht des neu hinzutretenden Patienten die des bereits behandelten deutlich überwiegt.Gaede/Kubiciel/Saliger/Tsambikakis, medstra 2020, 129 (134 ff.); Jäger/Gründel, ZIS 2020, 151 (157 ff.). Denn der phänotypische Unterschied zwischen Unterlassen und Tun dürfe bei der ex-post-Triage keine normativ entscheidende Rolle spielen; letztlich konkurrierten auch hier zwei Behandlungspflichten miteinander. Die Zuteilung von medizinischen Ressourcen dürfe nicht von der Zufälligkeit abhängen, wer zuerst im Krankenhaus ankam bzw. an das Gerät angeschlossen wurde. Aufgrund der konstanten Re-Evaluation der medizinischen Behandlungsoptionen habe der Patient mit dem Beatmungsgerät auch keine gefestigte und damit geschützte Rechtsposition erlangt. Diese Ansicht wird man jedoch richtigerweise ablehnen müssen.Rönnau/Wegner, JuS 2020, 403 (405 f.); Waßmer, JA 2021, 298 (302); Merkel/Augsberg, JZ 2020, 705 (710 ff.); Engländer/Zimmermann, NJW 2020, 1398 (1401). Ansonsten würde der fundamentale Unwert-Unterschied, den unsere Rechtsordnung zwischen Tun und Unterlassen erkennt, verkannt. Sähe man in dem Anschluss an das Gerät nicht eine gefestigte Rechtsposition, müsste die beatmete Person in der ständigen Unsicherheit leben, dass ihr das Beatmungsgerät nachträglich entzogen werden könnte. Für pandemische Situationen hat der Gesetzgeber die Zulässigkeit der Ex-post-Triage nunmehr in § 5c Abs. 2 S. 4 IfSG sogar ausdrücklich ausgeschlossen.Näher dazu Engländer, medstra 2023, 142 (146 f.). C hat sich somit nach § 212 Abs. 1 StGB strafbar gemacht, wobei allerdings ein minder schwerer Fall nach § 213 Alt. 2 StGB naheliegt.

Selbsttötung und Hilfe zur Selbsttötung

Die §§ 211 ff. StGB erfassen tatbestandlich lediglich die Tötung eines anderen Menschen, weshalb die (versuchte) Selbsttötung straflos ist. Das kommt zwar nicht eindeutig im Wortlaut der Normen zum Ausdruck, ergibt sich aber letztlich aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht. Einen Menschen kann aus verfassungsrechtlicher Perspektive keine (zumal strafbewehrte) Pflicht treffen, sein Leben nicht zu beenden. Rosenau/Sorge, NK 2013, 108 (109 f.); eingehend zum grundrechtlichen Schutz BVerfGE 153, 182 (Rn. 202 ff.). Damit ist auch die Teilnahme am eigenverantwortlichen Suizid eines anderen Menschen mangels tauglicher Haupttat straflos. Handelt das Opfer hingegen nicht eigenverantwortlich und wirken Dritte an dessen Selbsttötung mit, kann die Tat für diese als Fremdtötung in mittelbarer Täterschaft oder als fahrlässige Tötung strafbar sein (näher dazu → § 4 Rn. 28 ff.).