Kilian Wegner Strafrecht AT I: Übungsfälle Licensed under CC-BY-4.0

Einheit 7: Einwilligung (Lösung)

Vorbemerkung:

Bei der Prüfung einer Einwilligung ist es sinnvoll, zwischen dem Einwilligungssachverhalt einerseits, also der Tatsache, dass überhaupt eine Einwilligung vorliegt, und deren Wirksamkeit andererseits zu unterscheiden. Diese nicht in allen Lehrbüchern eingehaltene Prüfungsreihenfolge ist nicht nur logisch plausibel (bevor die Wirksamkeit von etwas geprüft werden kann, muss festgestellt werden, dass ein entsprechendes „etwas“ überhaupt vorliegt). Sie beugt darüber hinaus möglichen Fehlern vor, die daraus entstehen können, dass voreilig auf ein vermeintliches Problem bei der Wirksamkeit „gesprungen“ wird, obwohl es bereits an einem Einwilligungssachverhalt fehlt. Sofern letzterer unproblematisch gegeben ist (etwa, weil die Einwilligung ausdrücklich erklärt wurde), können die Voraussetzungen knapp festgestellt werden. Demnach ergibt sich folgender Aufbau:

            a)         Einwilligungssachverhalt

            b)        Wirksamkeit der Einwilligung

                        aa) Einwilligung durch Rechtsgutsinhaber

                        bb) Objektive Schranken der Einwilligung

                        cc) Einwilligungsfähigkeit

                        dd) Nichtvorliegen beachtlicher Willensmängel

            c)         Subjektives Rechtfertigungselement

Wie Sie in der Vorlesung bereits gehört haben, gibt es eine Reihe von Autor:innen, die bei einer Einwilligung nicht erst die Rechtswidrigkeit, sondern bereits den objektiven Tatbestand verneinen. Da dieser Streit für die Fallbearbeitung unerheblich ist (beide Auffassungen gelangen zu einem Wegfall des Unrechts) und in der Klausur nicht thematisiert werden sollte, bleibt er hier außen vor.

Fall 1

Strafbarkeit des M gem. § 223 StGB

M könnte sich wegen Körperverletzung gem. § 223 StGB strafbar gemacht haben, indem er A die Medikation verschrieb.

Tatbestand

Dafür müsste der Tatbestand des § 223 StGB erfüllt sein.

Der objektive Tatbestand der Körperverletzung ist verwirklicht, wenn M die A körperlich misshandelt und/oder an der Gesundheit geschädigt hat. Eine körperliche Misshandlung i. S. d. § 223 Abs. 1 StGB ist jede üble unangemessene Behandlung, durch die das Opfer in ihrem körperlichen Wohlbefinden und ihrer körperlichen Unversehrtheit mehr als nur unerheblich beeinträchtigt wird. Die Nebenwirkungen des Medikaments (insb. Muskelzuckungen, Übelkeit und Kopfschmerzen) sind ohne Weiteres erhebliche Beeinträchtigungen i. S. einer körperlichen Misshandlung.

Weiterhin könnte A an der Gesundheit geschädigt worden sein. Das setzt voraus, dass durch das Verhalten der Täter:in ein vom körperlichen Normalzustand nachteilig abweichender behandlungsbedürftiger Zustand hervorgerufen wird. Schon das Verabreichen von bewusstseinstrübenden Mitteln fällt unter diese Definition – entsprechend sind die hier hervorgerufene Apathie und weiteren Symptome (s. o.) tatbestandsmäßig.

Hinweis: Man könnte auf die Idee kommen, die objektive Zurechnung des Körperverletzungserfolgs mit dem Argument auszuschließen, dass M die Medikamente nur verschrieben und A sie selbst mit Tatherrschaft eingenommen hat, so dass eine eigenverantwortliche Selbstgefährdung vorliegt. Wer diesen Weg geht, müsste diskutieren, ob der Irrtum, dem A mit Blick auf die medizinische Unvertretbarkeit der Behandlungsentscheidung des M sowie die möglichen Nebenwirkungen unterliegt (näher sogleich unter A. II. 2. dd)), die Eigenverantwortlichkeit dieser Selbstgefährdung ausschließt. Dies wäre nach der h. M. zu bejahen, weil A insofern einem rechtsgutsbezogenen Irrtum unterliegt. Aber auch die Minderheitenauffassung, die die Eigenverantwortlichkeit der Selbstgefährdung nur dann ausschließen will, wenn die selbstgefährdende Person die in §§ 19, 20, 35 StGB und § 3 JGG genannten schweren Willensmängeln aufweist, müsste mit Blick auf § 3 JGG zu einem Ausschluss der Eigenverantwortlichkeit kommen, da A ungeachtet ihres Irrtums die Tragweite der auf sie angewendeten Behandlung nicht einschätzen kann (a. A. vertretbar). Die objektive Zurechnung müsste also nach allen dazu vertretenen Auffassungen bejaht werden.

Der subjektive Tatbestand ist erfüllt, wenn M vorsätzlich handelte. Vorliegend hielt er es für möglich und nahm es billigend in Kauf, dass die Nebenwirkungen bei A eintreten. M handelte also mit Eventualvorsatz.

Hinweis: Die Tatbestandsmäßigkeit von sog. „Heileingriffen“ durch medizinisches Fachpersonal ist umstritten. In der Rechtsprechung wird die sog. Tatbestandslösung angewandt, nach der jede in die körperliche Unversehrtheit eingreifende ärztliche Behandlungsmaßnahme den Tatbestand der Körperverletzung erfüllt, auch wenn sie lege artis (also: nach den Regeln der medizinischen Kunst) und erfolgreich durchgeführt wurde. Eine etwaige „Heilungsabsicht“, medizinische Indikation oder insgesamt erfolgreiche Behandlung (positiver Gesamtsaldo) ändern daran nichts; der Anwendungsbereich der §§ 223 ff. und auch §§ 212 ff. StGB bleibt eröffnet. Stattdessen bedarf es einer Rechtfertigung, deren Anforderungen i. d. R. durch ausdrückliche oder mutmaßliche Einwilligung genügt wird.

In Teilen der Literatur wird – in unterschiedlichen Varianten – dagegen vertreten, dass zumindest indizierte ärztliche Heileingriffe nicht tatbestandsmäßig sind. Es wird u. a. auf den Handlungszweck und „sozialen Sinngehalt“ der Handlung abgestellt. Dies verkennt jedoch, dass es Eingriffe geben kann, die zwar „gut gemeint“, aber von der jeweiligen Patient:in nicht gewollt sind. Auch in solchen Fällen eigenmächtiger Heilbehandlungen unabhängig von einer Einwilligung den Tatbestand entfallen zu lassen, hieße das Selbstbestimmungsrecht der Patient:innen strafrechtlich schutzlos zu stellen. Die Herangehensweise der Rechtsprechung, Heileingriffe stets zunächst als tatbestandsmäßige Körperverletzung zu behandeln, die ggf. gerechtfertigt ist, verdient daher den Vorzug.

Rechtswidrigkeit

Fraglich ist, ob M rechtmäßig gehandelt hat. Dies ist der Fall, wenn sein Verhalten durch einen anerkannten Rechtfertigungsgrund gedeckt war. Als einschlägiger Rechtfertigungsgrund käme hier eine Einwilligung in Betracht. Zu unterscheiden ist insofern zwischen einer Einwilligung durch A selbst (1.) und einer Einwilligung durch ihre Eltern (2.).

Einwilligung der A

Die A selbst könnte in die Behandlung mit den Medikamenten eingewilligt haben.

Einwilligungssachverhalt

Zunächst müsste ein Einwilligungssachverhalt vorliegen. Die A hat den M aufgesucht und der Behandlung zugestimmt. Ein Einwilligungssachverhalt ist gegeben.

Wirksamkeit der Einwilligung

Fraglich ist allerdings, ob die Einwilligung wirksam war.

Einwilligung durch die Rechtsgutsinhaber:in

Die körperliche Unversehrtheit der A ist als Individualrechtsgut grundsätzlich der Einwilligung zugänglich. Die A ist zudem Rechtsgutsinhaberin.s

Einwilligungsfähigkeit

Zweifelhaft ist indes, ob die A als Minderjährige (vgl. § 2 BGB) überhaupt einwilligungsfähig ist. Die Beurteilung der Einwilligungsfähigkeit im Strafrecht richtet sich nicht nach bestimmten starren Altersgrenzen und den Regeln, die für die zivilrechtliche Geschäftsfähigkeit gelten. Vielmehr ist die tatsächliche Einsichts- und Urteilsfähigkeit von Bedeutung. Die Einwilligende muss nach ihrer geistigen Reife imstande sein, Wesen, Bedeutung und Tragweite des fraglichen Eingriffs zu erkennen und sachgerecht zu beurteilen. Dabei sind umso strengere Anforderungen zu stellen, je gewichtiger der Rechtsgutsangriff und je schwerer die (drohenden) Folgen sind. Bei Personen unter 14 Jahren ist die Einwilligungsfähigkeit positiv festzustellen (BGHSt 4, 88, 90).

Die A ist als 13-Jährige noch nicht einmal Jugendliche i. S. d. § 1 Abs. 1 JGG. Anhaltspunkte dafür, dass sie ein umfassendes Verständnis von den mit der Medikation durch M verbundenen gesundheitlichen Risiken entwickeln kann, liegen nicht vor. Zudem befindet sie sich in einer psychischen Ausnahmesituation, in der es ihr schon schwerfällt, den Alltag zu bewältigen. In dieser Lage die Tragweite und Intensität einer Behandlung mit Psychopharmaka einzuschätzen, würde selbst Erwachsenen schwerfallen. Es sprechen daher die besseren Gründe dafür, der A mit Blick auf den konkreten Eingriff die Einwilligungsfähigkeit abzusprechen (a. A. vertretbar).

Ergebnis

Von A liegt keine wirksame Einwilligung vor.

Einwilligung der Eltern

Anstelle der A könnten jedoch ihre Eltern wirksam eingewilligt haben.

Einwilligungssachverhalt

Auch die Eltern haben der Behandlung der A zugestimmt, so dass ein Einwilligungssachverhalt vorliegt.

Wirksamkeit der Einwilligung

Die Einwilligung der Eltern müsste wirksam gewesen sein.

Einwilligung durch die Rechtsgutsinhaber:in

Grundsätzlich muss die Einwilligung durch jeweilige Rechtsgutsinhaber:in erklärt werden. Diese Voraussetzung ist im vorliegenden Fall nicht erfüllt, weil die Eltern nicht über die eigene Gesundheit, sondern über die Gesundheit der A verfügen. Gem. §§ 1626 Abs. 116271629 Abs. 1 BGB sind sie als Eltern der A jedoch befugt, gemeinsam in medizinische Behandlungen ihrer Tochter einzuwilligen (von Ausnahmen nach den §§ 1631c ff. BGB abgesehen).

Objektive Einwilligungsschranken

Die Dispositionsbefugnis der Eltern könnte aber eingeschränkt sein, wenn eine der objektiven Einwilligungsschranken (§§ 228, 216 StGB) einschlägig ist. Dafür ist aber nichts ersichtlich. Insbesondere handelt es sich bei der Gabe von Narkoleptika nicht um eine lebens- oder besonders gefährliche Körperverletzung, die i. S. v. § 228 StGB gegen die „guten Sitten“ verstoßen würde.

Einwilligungsfähigkeit

Anhaltspunkte dafür, dass die Eltern ihrer geistigen und sittlichen Reife nach außerstande gewesen wären, Bedeutung und Tragweite der Situation zu beurteilen, sind nicht ersichtlich. Ihre Einwilligungsfähigkeit ist somit zu bejahen.

Nichtvorliegen beachtlicher Willensmängel

Die Einwilligungserklärung darf keinen beachtlichen Willensmängeln unterliegen sein. Ein solcher Willensmangel könnte sich hier daraus ergeben, dass M die einwilligungszuständigen Eltern nicht darüber aufgeklärt hat, dass seine Diagnose einer „narzisstischen Störung“ und „Mutter-Kind-Symbiose“ jenseits gängiger ärztlicher Standards in seinem Fachbereich liegt. Darüber hinaus hat er verschwiegen, welche Nebenwirkungen bei der avisierten Medikamentation auftreten können und dass ein weitaus heftigerer Effekt als die erklärte „leichte Beruhigung“ zu erwarten ist. Auch dass das verwendete Medikament normalerweise nur kurzzeitig und nicht zur Langzeitbehandlung eingesetzt wird, erfuhren die Eltern nicht.

Fraglich ist, wie der damit festgestellte Irrtum sich auf die Wirksamkeit der Einwilligung auswirkt. Hierzu werden unterschiedliche Auffassungen vertreten.

Die herrschende Meinung vertritt den Standpunkt, dass jeder Willensmangel zur Unwirksamkeit der Einwilligung führe. Dieser Ansicht nach war auch die Erklärung der Eltern hier unwirksam.

Die heute h. L. stellt darauf ab, ob der Irrtum rechtsgutsbezogen oder ein bloßer Motivirrtum ist. Rechtsgutsbezogen ist eine Fehlvorstellung, bei der sich die Einwilligende über die Folgen, Bedeutung und Tragweite ihres Tuns für das verletzte Rechtsgut nicht im Klaren ist. Motivirrtümer sind dagegen solche über Randaspekte des Eingriffs. Hier fehlen den Eltern die relevanten Informationen, um die Intensität des Eingriffs in die körperliche Unversehrtheit ihrer Tochter wirklich einschätzen zu können. Sie stimmen einer leichten Beruhigung i. R. der lege artis zu – tatsächlich wird ihr Kind auf Basis einer fiktiven Diagnose auf unbestimmte Zeit schweren Nebenwirkungen ausgesetzt. Dies betrifft zentral Art und Umfang der Beeinträchtigung des geschützten Rechtsguts. Der Irrtum ist folglich rechtsgutsbezogen und führt nach der h. L. somit zur Unwirksamkeit der Einwilligung.

Eine dritte, im Vordringen befindliche Ansicht entscheidet danach, ob der Willensmangel der Verletzer:in zuzurechnen ist. Das sei dann der Fall, wenn die Verletzer:in ihn verursacht oder seine Beseitigung garantenpflichtwidrig unterlassen hat. Da es an M gewesen wäre, die Eltern im Rahmen einer ärztlichen Aufklärung ins Bild zu setzen und er dies pflichtwidrig unterlassen hat (lesen: § 630e BGB!), wäre die Einwilligung im vorliegenden Fall auch nach dieser dritten Auffassung unwirksam.

Alle Ansichten führen zum gleichen Ergebnis, daher kann ein Streitentscheid unterbleiben. Die Einwilligung ist wegen eines beachtlichen Willensmangels unwirksam.

Ergebnis

Die Handlung des M ist nicht von einer Einwilligung gedeckt. Sie ist demnach rechtswidrig.

Schuld

Entschuldigungs- oder Schuldausschließungsgründe sind nicht ersichtlich.

Ergebnis

M hat sich einer Körperverletzung gem. § 223 StGB strafbar gemacht, indem er A die Medikamente verschrieb.

Hinweis: Eine Strafbarkeit gem. § 224 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 StGB kommt ebenfalls in Betracht und ist auch zu bejahen (das Medikament ist ein gesundheitsschädlicher Stoff). Soweit in der Rechtsprechung die Auffassung vertreten wird, ärztliches Werkzeug und Heilmittel im Wege der teleologischen Reduktion aus dem Tatbestand der gefährlichen Körperverletzung auszuscheiden, betrifft dies lediglich medizinisch indizierte Eingriffe. All dies wird hier nicht näher ausgeführt, weil die gefährliche Körperverletzung erst Stoff einer späteren Unterrichtseinheit ist.

Fall 2

Die von S verübte tatbestandsmäßige Körperverletzung gem. § 224 StGB könnte gerechtfertigt sein.

Einwilligung

Eine Rechtfertigung durch Einwilligung scheitert schon daran, dass O bewusstlos wurde, bevor die Notwendigkeit eines Luftröhrenschnitts zu Tage trat. Sie konnte daher weder explizit noch konkludent in diesen Eingriff einwilligen.

Mutmaßliche Einwilligung[1] Ausführlich Mitsch, ZJS 2012 38-43 (kostenlos online abrufbar).

Möglicherweise liegt jedoch eine mutmaßliche Einwilligung vor. Die mutmaßliche Einwilligung kann entweder bei einem Handeln im Interesse des Rechtsgutsinhabers oder im Falle eines offensichtlich weichenden Interesses des Betroffenen rechtfertigend wirken. In beiden Konstellationen ist eine tatsächlich vorliegende oder zumutbar einzuholende Erklärung des Rechtsgutsinhabers vorrangig (Subsidiarität der mutmaßlichen Einwilligung).

Im vorliegenden Fall wäre O ohne einen sofortigen Eingriff gestorben oder schwer gesundheitlich geschädigt worden, so dass ein Zuwarten, bis O erwacht und nach ihrer Zustimmung zu der geplanten Behandlung gefragt werden kann, untunlich war. Eine mutmaßliche Einwilligung kommt also grundsätzlich in Betracht. Jedoch ist fraglich, ob ihre Voraussetzungen erfüllt sind. Dabei kommt es auf den hypothetischen Willen der Rechtsgutsinhaber:in und die Prognose an, ob diese der Behandlung zugestimmt hätte, wenn man sie hätte befragen können. Wenn – wie hier – über die persönlichen Präferenzen der Betroffenen nichts bekannt ist, wird grundsätzlich davon ausgegangen, dass der Wille der Betroffenen auf Überleben (und die dafür notwendigen Maßnahmen) gerichtet ist. Folglich durfte S die Operation auf Grund einer mutmaßlichen Einwilligung der O durchführen.

Ergebnis

Die S ist gerechtfertigt.

Hinweis: Wollte man die mutmaßliche Einwilligung in ein typisches Prüfungsschema ordnen, ließe sich dies wie folgt gestalten:

            1.         Objektive Rechtfertigungselemente

                        a)         Disponibilität des geschützten Rechtsguts

                        b)         Dispositionsbefugnis des mutmaßlich Einwilligenden über das Rechtsgut

                        c)         Grundsätzliche Einwilligungsfähigkeit des mutmaßlich                                      Einwilligenden

                        d)         Subsidiarität der mutmaßlichen Einwilligung

                        e)         Übereinstimmung mit dem hypothetischen Willen des                                       Rechtsgutsinhabers   zum Tatzeitpunkt

            2.         Subjektives Rechtfertigungselement

Fall 3

Strafbarkeit des X gem. § 223 StGB

X könnte sich einer Körperverletzung schuldig gemacht haben, indem er mit der O ungeschützten Geschlechtsverkehr hatte.

Tatbestand

Objektiver Tatbestand

Taterfolg

Fraglich ist zunächst, ob ein Taterfolg i. S. v. § 223 Abs 1 StGB vorliegt. Die bloße Infektion führt noch nicht zu körperlichem Unwohlsein und stellt noch keine körperliche Misshandlung dar. Es könnte aber eine Gesundheitsschädigung vorliegen. Dies könnte man mit Blick darauf verneinen, dass der Infizierte bis zum Ausbruch der Krankheit frei von typischen Symptomen bleibt und damit so lange keine negative Abweichung vom körperlichen Normalzustand gegeben ist.Dies behauptete etwa AG Kempten NJW 1988. 2314 f. Es darf allerdings nicht übersehen werden, dass ein nachteilig abweichender Zustand des Opfers nicht zwangsläufig mit einer Schmerzempfindung verbunden sein muss. Außerdem weicht bereits der körperliche Zustand des Infizierten in pathologisch signifikanter Weise vom Normalbild eines Gesunden ab, zumal dieser unter Umständen auch für andere Krankheiten anfälliger ist. Eine negative Abweichung findet auch ganz konkret in Gestalt von Veränderungen in der Zusammensetzung von Körperflüssigkeiten statt. Diese Schädigung tritt – wie auch bei anderen gefährlichen Infektionen – bereits mit der bloßen Infizierung ein, sodass O an ihrer Gesundheit geschädigt wurde.So i. E. auch BGHSt 36, 1, 6 f.

Kausalität

Ob die Handlung des X (ungeschützter Geschlechtsverkehr) auch ursächlich i. S. d. Strafrechts war, ist zu diskutieren. Das wäre der Fall, wenn sie nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele. Bei Infektionsgeschehen kann man dies oft schlecht nachweisen. Auch hier wird die Infektion erst Monate später festgestellt und das Virus hätte theoretisch auch auf anderem Wege als durch Geschlechtsverkehr übertragen worden sein können. Man könnte deshalb denken, dass in dubio pro reo davon auszugehen ist, X habe den Körperverletzungserfolg nicht verursacht.

Allerdings kommt dieser Zweifelssatz nur dann zur Anwendung, wenn das zuständige Gericht nicht im Rahmen einer rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung zu der richterlichen Überzeugung (§ 261 StPO) gelangt, dass die zu beweisende Tatsache – also hier der Kausalzusammenhang zwischen Geschlechtsverkehr und Gesundheitsschaden – mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vorliegt und insofern kein Raum mehr für vernünftige Zweifel bleibt. Solche Zweifel dürften im vorliegenden Fall ausgeräumt sein, da X der einzige Geschlechtspartner von O ist und andere Übertragungswege im Bereich des Theoretischen liegen dürfen (a. A. vertretbar, dann müsste Versuch geprüft werden).

X ist kausal für den Erfolgseintritt geworden.

Objektive Zurechnung

Fraglich ist aber, ob der Infektionserfolg dem X auch objektiv zurechenbar ist. Dafür müsste er ein unerlaubtes Risiko geschaffen oder erhöht haben, welches sich auch im Erfolg realisiert.

Dies könnte ausgeschlossen sein, wenn es sich beim ungeschützten Geschlechtsverkehr zwischen J und F um ein erlaubtes Risiko bzw. sozialadäquates Verhalten gehandelt hätte. Dies ist bei solchen Verhaltensweisen der Fall, die vollkommen legal sind, allgemein toleriert werden, sich im Rahmen des allgemeinen Lebensrisikos bewegen oder Risiken bloß in rechtlich unbeachtlicher Weise erhöhen. Für einen Ausschluss der objektiven Zurechnung könnte der geringe Grad der Wahrscheinlichkeit einer Infizierung sprechen. Allerdings ist eine HIV-Infektion ein lebenslang wirkender und zumindest lebensverkürzender Eingriff in die Rechtsgüter des Infizierten. Hinzu kommt, dass anders als bei alltäglichen Infekten, wie etwa Erkältungskrankheiten, die Ansteckungsgefahr in zumutbarer Weise durch Benutzung von Kondomen zumindest signifikant verringert werden kann. Damit kann bei ungeschütztem Geschlechtsverkehr eines HIV-Infizierten nicht mehr von einem erlaubten Risiko oder sozialadäquaten Verhalten die Rede sein.

Die objektive Zurechnung könnte aber durch eine eigenverantwortliche Selbstgefährdung oder eine einverständliche Fremdgefährdung der O ausgeschlossen sein. Nach dem Prinzip der Eigenverantwortlichkeit sind die verschiedenen Verantwortungsbereiche voneinander abzuschichten und jeder ist grundsätzlich für sein eigenes Verhalten verantwortlich. Da X die O von seiner Krankheit unterrichtete, wusste diese um seine HIV-Infektion, sodass nach diesem Prinzip ein Zurechnungsausschluss vorliegen könnte.

Abgrenzung von Selbst- und Fremdgefährdung

Um von einer Selbstgefährdung ausgehen zu können, muss O sich wirklich „selbst“ gefährdet haben und darf nicht durch X gefährdet worden sein. Die eigenverantwortliche Selbstgefährdung ist also von der einverständlichen Fremdgefährdung abzugrenzen. Welche der beiden Konstellationen einschlägig ist, hängt davon ab, wer das Geschehen beherrscht, also, wer die Tatherrschaft über den Gefährdungsakt hat.

Hinter diesem Abgrenzungskriterium steht folgende Erwägung: Nach allgemeiner Meinung ist die Selbsttötung straflos und – mangels Haupttat – muss das auch für die Teilnahme an ihr gelten. Das muss dann a maiore ad minus auch für die Selbstgefährdung gelten. Auch hier ist eine Teilnahme nicht möglich und eine Beteiligung daher nur möglich, wenn die andere Person Täter ist, was sich nach der Tatherrschaft richtet.

Obwohl O um die Gefahr einer Ansteckung wusste, setzte sie sich bewusst dem Risiko des ungeschützten Geschlechtsverkehrs aus. Ihr Schicksal lag also letztlich nicht in den Händen des „Täters“. Beim einverständlichen Geschlechtsverkehr beherrschen grundsätzlich beide Partner das Geschehen; beide können jederzeit den Geschlechtsverkehr abbrechen oder die Gefährlichkeit durch Verwendung von Kondomen wesentlich verringern. Im Falle einer HIV-Infektion geht allerdings die Gefährdung ausschließlich vom Infizierten aus, dieser stellt also angesichts der an sich ungefährlichen Handlung allein die Gefahrquelle dar, derer sich der Partner aussetzt. Damit ist es überzeugendender, die Tatherrschaft der S zu verneinen und bloß von einer einverständlichen Fremdgefährdung auszugehen. (a. A. gut vertretbar).

Hinweis: Wenn Sie sich hier für eine eigenverantwortliche Selbstgefährdung entscheiden, müssen Sie sich mit der Frage der Eigenverantwortlichkeit auseinandersetzen, was dann wie folgt lauten könnte: „O muss diese Selbstgefährdung allerdings auch eigenverantwortlich, also ‚frei‘ eingegangen sein, da nur in diesem Falle der Verantwortungsbereich des Opfers eröffnet ist und es somit erst dann zu der bereits angesprochenen Abschichtung von Verantwortungsbereichen kommen kann. Hierfür könnte man sich an den Kriterien der rechtlichen Verantwortlichkeit „eines Täters“ im Falle der Beeinträchtigung fremder Rechtsgüter und der dafür geltenden Exkulpationsregeln (§§ 20, 35 StGB, § 3 JGG) orientieren. Da keine Gründe dafür ersichtlich sind, dass S sich in einem derartigen Zustand befunden hat, käme man hiernach zur Annahme der Eigenverantwortlichkeit. Alternativ könnte man sich auch an den Regeln der Einwilligungslehre orientieren.BGHSt 53, 55, 60. Hiernach wird das selbstgefährdende Verhalten des Opfers mit einer (hypothetischen) gleich gearteten Fremdgefährdung durch einen anderen verglichen. Anschließend wird danach gefragt, ob das Opfer in eine solche Gefährdung „ernstlich“ i. S. d. „ernstlichen Verlangens“ in § 216 StGB eingewilligt hätte und die Einwilligung wirksam gewesen wäre. Da nicht ersichtlich ist, dass der Entschluss von O, mit X ungeschützten Geschlechtsverkehr zu haben, aus einer Augenblickstimmung heraus getroffen wurde, oder sie sich der Tragweite ihres Entschlusses nicht bewusst war, wäre auch hiernach die Eigenverantwortlichkeit von X zu bejahen.“

Rechtsfolgen einer einverständlichen Fremdgefährdung

X hätte also dann keine rechtlich missbilligte Gefahr geschaffen, wenn O mit dieser Fremdgefährdung einverstanden war. Wie ein solcher Fall der einverständlichen Fremdgefährdung dogmatisch einzuordnen ist, wird unterschiedlich beurteilt. So könnte man dafür plädieren, die einverständliche Fremdgefährdung im Ergebnis nicht anders zu behandeln als die eigenverantwortliche Selbstgefährdung und demnach bereits die objektive Zurechnung zu verneinen, sofern die Fremdgefährdung der Selbstgefährdung „unter allen relevanten Aspekten gleichsteht“ (sog. Zurechnungslösung).Ausführlich hierzu LK-StGB/Rönnau Vor § 32 Rn. 164 ff. Das bedeutet insbesondere: Der Gefährdete muss zurechnungsfähig sein, er darf nicht genötigt werden und muss das Risiko im selben Maße überblicken wie der Gefährdende. Hintergrund ist die Überlegung, dass das Opfer durch das Einverständnis die normative Verantwortung für eine Verletzung seiner Rechtsgüter übernommen hat. Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass beim Täter kein überlegenes Sachwissen vorhanden ist. P wusste ebenfalls um die HIV-Infektion von X. Es ist nicht ersichtlich, dass sie die damit einhergehenden Gefahren schlechter überblickte als dieser. Nach der Zurechnungslösung kann der eingetretene Körperverletzungserfolg X nicht zugerechnet werden.

Diese Lösung wirft aber die Frage auf, inwieweit Selbst- und Fremdgefährdung überhaupt „unter allen relevanten Aspekten“ gleichstehen können, wenn die Abgrenzung doch gerade anhand des Kriteriums der Tatherrschaft erfolgt. Selbst die Vertreter der Zurechnungslösung geben zu, dass ein Unterschied darin besteht, ob sich eine Person selbst gefährdet oder sich einem anderen auf Gedeih und Verderb ausliefert. Das Hauptproblem der Zurechnungslösung liegt darin, dass sie die die rechtfertigende – nicht tatbestandsausschließende – Einwilligung begrenzende Schranke des § 228 StGB aushöhlt. Der Gesetzgeber hat hier eine klare Wertung getroffen, die man nicht auf Basis eines so vagen Kriteriums umgehen sollte: Denn ob die Fremdgefährdung einer Selbstgefährdung unter allen relevanten Kriterien gleichsteht, ist letztlich eine reine Wertungsfrage, die man schlussendlich danach entscheiden wird, ob man eine Bestrafung für angemessen hält oder nicht. Die Zurechnungslösung ist daher abzulehnen.

Zwischenergebnis

Die Körperverletzung der O ist X objektiv zurechenbar.

Hinweis: Wer die objektive Zurechnung ablehnt, müsste im Anschluss versuchte Körperverletzung prüfen.

Subjektiver Tatbestand

Laut Fallfrage ist zu unterstellen, dass X vorsätzlich handelte.

Rechtswidrigkeit

Da O trotz Kenntnis der HIV-Infektion des X mit diesem einverständlichen ungeschützten Geschlechtsverkehr hatte, könnte dies als einverständliche Fremdgefährdung rechtfertigende Wirkung entfalten. Dafür muss O wirksam in die Gefährdung eingewilligt haben.

Einwilligungssachverhalt

Dann müsste zunächst ein Einwilligungssachverhalt vorliegen. O hat ausdrücklich erklärt, mit dem X ungeschützten Geschlechtsverkehr haben zu wollen und sich der damit verbundenen Risiken wegen der Infektion des X bewusst zu sein. Ein Einwilligungssachverhalt liegt also vor.

Wirksamkeit der Einwilligung

Die Einwilligung müsste auch wirksam sein.

Einwilligung durch die Rechtsgutsinhaber:in

O hat zwar nicht direkt in eine (sichere) Schädigung von Leib und Leben eingewilligt, sehr wohl aber in eine Gefährdung dieser Rechtsgüter. Teilweise wird nämlich behauptet, die Einwilligung sei erfolgsbezogen. Richtigerweise ergibt sich die Zulässigkeit einer so genannten Risikoeinwilligung jedoch aus einem Erst-Recht-Schluss (argumentum a fortiori): Wenn das „Opfer“ schon in den Erfolg einwilligen kann, muss die Einwilligung in ein Risiko erst recht möglich sein.

Objektive Einwilligungsschranken

Die Dispositionsbefugnis der O könnte aber eingeschränkt sein (vgl. §§ 228, 216 StGB). In Betracht kommt hier der § 228 StGB. Danach ist eine Körperverletzung ungeachtet einer Einwilligung der verletzten Person rechtswidrig, „wenn die Tat trotz der Einwilligung gegen die guten Sitten verstößt“. Das unbestimmte Merkmal der „guten Sitten“ ist mit Blick auf das verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot (nullum crimen, nulla poena sine lege certa, Art. 103 Abs. 2 GG) problematisch. Vor diesem Hintergrund hat sich heute weitgehend eine restriktive Interpretation durchgesetzt. Demnach ist Sittenwidrigkeit nur dann anzunehmen, wenn es sich – angelehnt an den Rechtsgedanken aus § 216 StGB – um eine konkret lebensgefährliche Körperverletzungshandlung handelt bzw. zumindest eine schwere Körperverletzung i. S. d. § 226 StGB droht (vgl. zu einer neueren Einschränkung sogleich die Lösung zu Fall 4).

Im vorliegenden Fall besteht einerseits ein erhebliches Risiko der Ansteckung mit dem tödlichen HI-Virus. Andererseits ist eine HI-Virus-Infektion heutzutage aber bei weitem oder überhaupt nicht mehr so tödlich wie noch vor einigen Jahrzehnten und medikamentös gut behandelbar. Ein (fast) völlig „normales“ Leben ist auch nach einer Infektion möglich. Vor dem Hintergrund des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) wäre es daher verfehlt, Menschen die Dispositionsfähigkeit über ihr eigene Gesundheit zu verwehren, wenn sie im Rahmen eines Intimverhältnisses in Kontakt mit einer HIV-infizierten Person kommen wollen. O war im Ergebnis also uneingeschränkt dispositionsbefugt (a. A. vertretbar).

Einwilligungsfähigkeit

Anhaltspunkte dafür, dass O der geistigen und sittlichen Reife nach außerstande gewesen wäre, Bedeutung und Tragweite des Risikos zu beurteilen, sind nicht ersichtlich. Die Einwilligungsfähigkeit von O ist somit zu bejahen.

Nichtvorliegen beachtlicher Willensmängel

Beachtliche Willensmängel der O sind – auch dank der erschöpfenden Aufklärung durch X – nicht ersichtlich.

Subjektives Rechtfertigungselement

Ein subjektives Rechtfertigungselement ist nach der engsten dazu vertretenen Auffassung gegeben, wenn X allein auf Grund der Einwilligung handelte. Andere lassen es genügen, wenn er in Kenntnis der objektiven Rechtsfertigungslage agierte. Im vorliegenden Fall hätte X hätte ohne die Aufforderung der O nur geschützten Verkehr mit ihr gehabt. Er handelte also nur aufgrund der Einwilligung gefährdend, so dass das subjektive Rechtfertigungselement nach allen Auffassungen gegeben ist und eine Stellungnahme zu dem diesbezüglichen Streit unterbleiben kann.

Zwischenergebnis

Die Einwilligung der O ist wirksam, d. h. X ist gerechtfertigt.

Ergebnis

X handelte tatbestandsmäßig, aber nicht rechtswidrig.

Ergebnis

X hat sich keiner Körperverletzung gem. § 223 StGB schuldig gemacht.

Hinweis: Auch hier wäre § 224 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 StGB einschlägig, evtl. auch § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB. Vertiefte Kenntnisse hiervon sind für Sie aber noch nicht relevant.

Fall 4

Die von A zu Lasten von B begangene Körperverletzung könnte durch Einwilligung gerechtfertigt sein.

Einwilligungssachverhalt

B hat sich im Zuge einer Verabredung mit den anderen „Hooligans“ ausdrücklich mit einer Schlägerei, also auch mit gegenseitigen Körperverletzungen, einverstanden erklärt. Ein Einwilligungssachverhalt liegt vor.

Wirksamkeit der Einwilligung

Die Einwilligung müsste auch wirksam sein.

Einwilligung durch die Rechtsgutsinhaber:in

B ist als Inhaber des Indiviualrechtsgutes „Körperliches Wohlbefinden und Gesundheit“ grundsätzlich dispositionsbefugt.

Objektive Einwilligungsschranken

Der Wirksamkeit der Einwilligung könnte allerdings entgegenstehen, dass B selbst dieser Einsatz seines Rechtsguts verbo­ten ist, er also auch als einwilligungsfähiger Rechtsgutsinhaber nicht dispositionsbefugt ist. Entsprechende Dispositionsverbote finden sich vor allem in öffentlich-rechtlichen Spezialgesetzen zur Gefah­renabwehr; mit § 216 StGB und § 228 StGB weist aber auch das StGB selbst solche Vorschriften auf. In Betracht kommt hier der § 228 StGB. Danach ist eine Körperverletzung unbeschadet einer Einwilligung der verletzten Person rechtswidrig, „wenn die Tat trotz der Einwilligung gegen die guten Sitten verstößt“.

Nach den Maßstäben, die oben in der Lösung zu Fall 3 geschildert wurden, müsste eigentlich die Sittenwidrigkeit der Tat abgelehnt und eine rechtfertigend wirkende Einwilligung angenommen werden. Denn die Körperverletzungshandlung ist weder konkret lebensgefährlich, noch droht die Gefahr einer schweren Folge i. S. d. § 226 StGB. Dennoch hat der BGH in seiner jüngeren Rechtsprechung eine wirksame Einwilligung in entsprechenden Fallkonstellationen abgelehnt (BGHSt 58, 140 – „Dritte Halbzeit“ und BGHSt 60, 166 – „Mannschaftskickboxen“). Er hat dies vor allem damit begründet, dass nicht nur § 216 StGB eine gesetzgeberische Wertung zu entnehmen sei, die in die Auslegung des § 228 StGB einfließe (mit der Konsequenz der Sittenwidrigkeit lebensgefährlicher Körperverletzungshandlungen); vielmehr müsse insoweit auch § 231 StGB (Beteiligung an einer Schlägerei) in den Blick genommen werden, dessen Verwirklichung regelmäßig das Verdikt der Sittenwidrigkeit einer Körperverletzung begründen soll. Das gelte jedenfalls dann, wenn aus Sicht ex ante im Zeitpunkt der Einwilligung ein gruppendynamischer Prozess mit Eskalationsgefahr ausgelöst wird und es an Regeln zur Gefahrminderung fehlt, die auch effektiv durchgesetzt werden (durch Schiedsrichter o. ä.). Nach dieser Auffassung wären die im vorliegenden Fall im Rahmen der Schlägerei begangenen Körperverletzungshandlungen trotz Einwilligung sittenwidrig und damit rechtswidrig.

Diese Auffassung aber überzeugt nicht. Der § 231 StGB ist ein abstraktes Gefährdungsdelikt, bei dem der Eintritt der schweren Folge (Tod eines Menschen oder eine schwere Körperverletzung) als objektive Bedingung der Strafbarkeit ausgestaltet ist und damit gerade nicht zum Tatbestand gehört. Hiernach ist eine Körperverletzung, die im Rahmen einer Schlägerei begangen wird, also auch dann nicht einwilligungsfähig, wenn eine solche schwere Folge überhaupt nicht eintritt und diesbezüglich auch keine konkrete Gefahr bestand. Damit gibt der BGH aber unnötigerweise die Orientierung an der Schwere der drohenden Rechtsgutsbeeinträchtigung auf, durch die eine gewisse „Domestizierung“ des notorisch unbestimmten Begriffs der „guten Sitten“ bewirkt wurde. Die Konsequenz ist eine paternalistische „Remoralisierung“ des Körperverletzungsstrafrechts, indem dem Einzelnen allein deshalb das Recht abgesprochen wird, seine Einwilligung in nicht konkret lebensgefährliche Körperverletzungshandlungen zu erteilen, weil uns die Umstände der Körperverletzung als missbilligenswert erscheinen. Das dahinterstehende Verständnis von Autonomie ist in einem von der persönlichen Freiheit des Einzelnen ausgehenden Strafrecht äußerst fragwürdig (a. A. vertretbar).

Subjektives Rechtfertigungselement

A kannte die objektive Rechtfertigungslage und hat auch aufgrund der Einwilligung gehandelt.

Ergebnis

Eine von A begangene Körperverletzung ist gerechtfertigt, wenn er im Rahmen eines „Matches“ dem auf der anderen Seite mitkämpfenden B mehrere (nicht lebensgefährliche) Faustschläge verpasst.

Fall 5

Tatbestand

Der Tatbestand der Körperverletzung gem. § 223 StGB ist durch die Extraktion der Zähne erfüllt. Zwar wird teilweise bestritten, dass ein Heileingriff durch einen Arzt das Merkmal der Körperverletzung erfüllt. Das setzte allerdings voraus, dass der Eingriff nach den Regeln der ärztlichen Kunst vorgenommen wird. Die ärztliche Kunst verlangt aber, dass der Eingriff medizinisch indiziert, also zur Heilung erforderlich ist. W hat festgestellt, dass die Extraktion der Zähne keine Linderung der Schmerzen bringen wird, so dass eine medizinische Indikation fehlt.

Rechtswidrigkeit

Dr. W könnte jedoch gerechtfertigt sein. In Betracht kommt hier eine Rechtfertigung kraft wirksamer Einwilligung der H.

Einwilligungssachverhalt

Dann müsste zunächst ein Einwilligungssachverhalt vorliegen. Dabei ist zwischen den plombierten und den nicht plombierten Zähnen zu differenzieren. Soweit die nicht plombierten Zähne betroffen sind, liegt keine Einwilligung vor, eine etwaige nachträgliche Zustimmung der H durch ihre Aussage „Schön, dass jetzt alle Zähne heraus sind“ wäre unbeachtlich.

Für die Extraktion der plombierten Zähne liegt hingegen eine ausdrückliche Einwilligung der H vor.

Wirksamkeit der Einwilligung

Fraglich ist jedoch, ob die Einwilligung wirksam ist.

Einwilligung durch die Rechtsgutsinhaber:in

H ist als Inhaberin des Indiviualrechtsguts „Körperliches Wohlbefinden und Gesundheit“ grundsätzlich dispositionsbefugt.

Objektive Einwilligungsschranken

Das Entfernen der plombierten Zähne ist nicht konkret lebensgefährlich und führt auch nicht zu einer erheblichen Entstellung i. S. v. § 226 Abs. 1 Nr. 3 StGB, so dass § 228 StGB die Einwilligung nicht sperrt.

Einwilligungsfähigkeit

Von der Einwilligungsfähigkeit der H ist laut Sachverhalt auszugehen.

Hinweis: Auch im Original-Fall hat soweit ersichtlich niemand die Einwilligungsfähigkeit der H angezweifelt. Das ist erstaunlich, denn immerhin deutet einiges darauf hin, dass H an einer Zwangsneurose litt, weil sie von dem Gedanken besessen war, der Zustand ihrer Zähne sei verantwortlich für ihre Kopfschmerzen. Der vorliegende Sachverhalt liefert aber nicht genügend Hinweise darauf, ob H tatsächlich neurotisch war; auch bedürfte es genauerer Untersuchung, ob aus dem Vorliegen einer Zwangsneurose auf eine (partielle) Einwilligungsunfähigkeit geschlossen werden darf.

Keine beachtlichen Willensmängel

H ging davon aus, dass sich nach der Entnahme der Zähne ihre Kopfschmerzen bessern würden, sie irrte sich also über die Folgewirkungen des Eingriffs. Hinsichtlich der Extraktion als solcher unterlag sie jedoch keinem Irrtum. Die Behandlung des Irrtums der H hängt vorliegend von der schon in Fall 1 erörterten Frage ab, ob man der Ansicht folgt, dass sämtliche Motivirrtümer die Wirksamkeit der Einwilligung entfallen lassen oder ob man dies mit der h. M. nur für rechtsgutsbezogene Irrtümer annimmt. Lässt man lediglich rechtsgutsbezogene Irrtümer beachtlich sein, muss das Vorliegen eines relevanten Willensmangels verneint werden, weil H nicht darüber irrt, dass und wie ihr die plombierten Zähne – irreversibel – gezogen werden. Lässt man umgekehrt jeden Motivirrtum ausreichen, gelangt man zu einer unwirksamen Einwilligung. Allein die Ansicht, nach der es auf die Zurechnung des Willensmangels ankommen soll, muss sich mit dem Problem der Aufklärungsresistenz der H beschäftigen. H bestand trotz der Erklärung des W darüber, dass der Eingriff nicht die von H erhofften Wirkungen haben werde, auf einer Extraktion. Damit hat sie sich vernünftigen Erwägungen verschlossen, was Zweifel daran aufkommen lässt, den Willensmangel W zuzurechnen. Da W den Irrtum der H nicht verursacht hat, kommt allein eine Zurechnung unter dem Gesichtspunkt mangelnder Aufklärung in Betracht. Konkret geht es um die Frage, ob W sich darauf beschränken durfte, H seine Bedenken zu nennen, obwohl offensichtlich war, dass H seiner Erklärung aus nicht nachvollziehbaren Gründen keinen Glauben schenkte.

Der BGH hat sich in der diesem Fall zugrundeliegenden Entscheidung auf den Standpunkt gestellt, dass die Einwilligung der H unbeachtlich sei, weil H offenbar nicht erkannt habe, dass es für den Eingriff keine medizinische Indikation gab, so dass ihr Bedeutung und Inhalt des Eingriffs verborgen geblieben seien. Wegen des Wissensgefälles zwischen W und H hätte W den Eingriff nicht vornehmen dürfen. Diese Argumentation ist wenig überzeugend. Der BGH verwechselt möglicherweise medizinische Indikation und Willensfreiheit des Patienten und gelangt so nicht zu dem eigentlichen Problem. Das Gericht hätte sich vielmehr fragen müssen, ob die Patientenwillkür Maßstab ärztlichen Handelns auch dann sein kann, wenn der Eingriff gerade nicht indiziert ist.

Die Lehre, soweit sie nicht durch das Kriterium der Rechtsgutsbezogenheit ohnehin zu einem unbeachtlichen Willensmangel gelangt, begründet ihr Ergebnis einer wirksamen Einwilligung damit, dass der Rechtsgutsträger auch in Eingriffe einwilligen könne, deren Motiv oder Anlass unvernünftig ist. Solange der Patient normal einsichtsfähig und erwachsen ist, gebe es keinen Grund, an der Wirksamkeit zu zweifeln. Dem ist zuzustimmen: Solange allerdings nicht feststeht, dass H von Rechts wegen unfähig war, in die Extraktion ihrer Zähne einzuwilligen, ist es überzeugend, nicht W, sondern allein H den Irrtum zuzurechnen, weil die strafrechtlich bewehrte Norm nicht die Aufgabe hat, dem Einwilligenden sämtliche Irrtumsrisiken abzunehmen.

Ergebnis

Im Hinblick auf die plombierten Zähne liegt damit eine wirksame Einwilligung vor, W hat sich diesbezüglich nicht wegen Körperverletzung gem. § 223 Abs. 1 StGB strafbar gemacht.