Olivia Czerny Schuldrecht AT – Anfängerfälle + Übersichten Licensed under CC-BY-4.0

Probleme beim Schuhkauf I (Grundfall Schuldnerverzug)

Sachverhalt

A kauft bei V am 2.1. ein Paar Rennradschuhe, die V ihr per Post liefern soll. Den Kaufpreis zahlt A sofort. Als A am Vormittag des 7.1. noch nichts erhalten hat, ruft sie verärgert bei V an und fordert ihn auf, endlich zu liefern. V, der den Versand vergessen hatte, entschuldigt sich für die Unannehmlichkeiten und verspricht, die Schuhe sofort abzuschicken. Bei normalem Postlauf würden die Schuhe bei Versand gleich nach dem Telefonat am 9.1. bei A ankommen. V vergisst aber erneut, die Schuhe abzuschicken und denkt erst am 18.1. wieder daran, sodass die Schuhe erst am 20.1. ankommen. 

A hatte fest mit den Schuhen geplant und im Fitnessstudio ein spezielles Radtraining für die Abende des 4.1., 7.1., und 10.1. gebucht. Um daran teilnehmen zu können, musste sie sich pro Trainingseinheit gleichwertige Schuhe für angemessene 10 € mieten. 

Frage: Kann A von V Ersatz der 30 € verlangen? 

Abwandlung: Was ändert sich an der Prüfung, wenn A und V vereinbart haben, dass V die Schuhe am 3.1. liefern soll?

Wir schätzen eine Bearbeitungszeit von etwa 20-25 Minuten.

Lösungsvorschlag

Bei dem vorliegenden Übungsfall handelt es sich um einen „Grundfall“ ohne Probleme. Er soll dazu dienen, Ihnen „am Normalfall“ die inhaltlichen Grundlagen, namentlich die Voraussetzungen und den Prüfungsaufbau der relevanten Anspruchsgrundlage zu vermitteln.  

Grundgedanke der folgenden Darstellung ist, dass es zu unterscheiden gilt, welche Gedanken man sich im Rahmen der Lösung eines Falls macht (= Prüfung im Kopf) und was man tatsächlich zu Papier bringt (= Prüfung auf dem Papier). Die Prüfung im Kopf fällt dabei oft viel umfassender aus als die Prüfung auf dem Papier. 

Alles, was im Folgenden als Frage oder Aufforderung formuliert ist oder in einem Kasten dargestellt ist, sollte sich in Ihrem Kopf und evtl. auch in Ihrer Lösungsskizze abspielen. In die ausformulierte Klausurlösung sollten hingegen nur die nicht in Kästen gefassten Inhalte Eingang finden. Ein ausformuliertes Gutachten wird hier nicht abgebildet.  

Vorüberlegung: Die Fallfrage lautet: „Kann A von V Ersatz der 30 € verlangen?“. Nach welcher Art Anspruch ist damit gefragt?

  • (Vertraglicher) Anspruch auf Schadensersatz

Präzisieren Sie: Um was für eine Art Schadensersatz könnte es sich handeln? Was wird V „vorgeworfen“?

  • V leistet ggf. zu spät – Schadensersatz wegen Verzögerung der Leistung 

In welchen Normen findet sich die AGL für diesen Anspruch?

Vertiefung ab Trimester II: Inzwischen haben Sie die Unterscheidung zwischen Schadensersatz statt und neben der Leistung kennengelernt. Wie sind diese Arten des Schadensersatzes voneinander abzugrenzen? Wo ist der Verzögerungsschaden einzuordnen?

Mittlerweile kennen Sie die Unterscheidung zwischen Schadensersatz statt und neben der Leistung.

Beispiele für entsprechende Anspruchsgrundlagen sind:

 Der SE wegen Verzögerung der Leistung, §§ 280 I, II, 286 BGB, ist ein Unterfall des SE neben der Leistung.

Um die richtige AGL zu identifizieren, müssen Sie einen Schadensersatzanspruch im ersten Schritt immer einer dieser Schadensersatzarten zuordnen. Dabei gilt: Rechtsfolgen orientiert denken! Entscheidend für die Wahl der AGL sind nicht Vssg. der jeweiligen AGL, sondern was für eine Art des Schadens vorliegt.

  • SE statt der Leistung → SE tritt an die Stelle der ursprünglich geschuldeten Primärleistung: Primärleistung wird nicht mehr (gar nicht o. nicht vollständig/ordnungsgemäß) erbracht, stattdessen SE.

  • SE wegen Verzögerung der Leistung

    • Schaden entsteht gerade durch Verspätung der Leistung, kann durch nachträgliche Leistung nicht mehr beseitigt werden.

 Auf den vorliegenden Fall angewendet bedeutet das folgendes:

  • A will Mietkosten für Ersatzschuhe ersetzt haben

    • Ersatz der Mietkosten soll nicht die Lieferung der Schuhe durch V ersetzen, sondern zusätzlich zur Lieferung der Schuhe gezahlt werden → kein SE statt, sondern neben der Leistung

    • Mietkosten werden gerade wegen Verspätung der Leistung erforderlich 

  • SE wegen Verzögerung der Leistung einschlägig, §§ 280 I, II, 286 BGB

Die Abgrenzung Schadensersatz statt und neben der Leistung kommt auch in folgender Formel zum Ausdruck: SE statt der Leistung liegt vor, wenn der Schaden bei einer Leistung im spätest möglichen Zeitpunkt entfallen wäre.

Spätest möglicher Leistungszeitpunkt ist hier der 20.1., als erfüllt wurde. Bis zu dem Zeitpunkt konnte noch geleistet werden. Der Schaden (= Mietkosten) wäre und ist durch diese Leistung aber nicht entfallen. Damit handelt es sich um einen Schaden neben der Leistung.

Beginnen Sie mit der Prüfung. 

A gegen V auf Schadensersatz i.H.v. 30 € aus §§ 280 I, II, 286 BGB

Vorüberlegung - Normanalyse: Lesen Sie die beiden relevanten Normen. Welche Voraussetzungen enthalten sie?

Normanalyse §§ 280 I, II, 286 - Schritt für Schritt

Normanalyse §§ 280 I, II, 286 - Zusammenfassung

Beginnen Sie mit der Prüfung der ersten Voraussetzung.

Schuldverhältnis

Was für ein Schuldverhältnis zwischen A und V liegt hier vor?

  • Kaufvertrag über ein Paar Rennradschuhe, § 433 BGB (+)

Verzugsvoraussetzungen

Fällige und durchsetzbare Forderung

Vorüberlegung: Mit welcher dieser drei Voraussetzungen – Forderung, fällig, durchsetzbar – müssen Sie Ihre Prüfung sinnvollerweise beginnen?

  • Forderung

  • Anderenfalls gar kein Anknüpfungspunkt für Fälligkeit und Durchsetzbarkeit

Was für eine Forderung hat A hier gegen V und woraus?

  • Anspruch von A gegen V auf Übergabe und Übereignung der Rennradschuhe aus Kaufvertrag vom 2.1., § 433 I 1 BGB (+)

Wo ist die Fälligkeit im BGB geregelt?

Lesen Sie die Norm. Wann ist ein Anspruch danach fällig? Subsumieren Sie knapp.

  • Hier: kein Leistungszeitpunkt vereinbart o. den Umständen zu entnehmen

    • Anspruch sofort fällig gem. § 271 I BGB (+)

    • unter Berücksichtigung des Versandes am 3.1.

Vorüberlegung: Zuletzt müsste der Anspruch auch durchsetzbar sein. Was bedeutet das?

  • Schuldner darf keine Einreden (im materiellrechtlichen Sinn) gegen Anspruch haben

Wo ist die Durchsetzbarkeit im BGB geregelt?

  • Durchsetzbarkeit nicht an einer Stelle im BGB geregelt, sondern unterschiedliche Einreden an verschiedenen Stellen

Welche drei Normen zur Durchsetzbarkeit im BGB kennen Sie bereits?

Spricht hier irgendetwas gegen die Durchsetzbarkeit des Anspruchs?

  • Nein

Sind keine Hindernisse der Durchsetzbarkeit ersichtlich, müssen Sie das grds. gar nicht ansprechen. Im Rahmen von § 286 BGB ist es aber üblich, jedenfalls kurz auf § 320 BGB einzugehen. Was könnte man hier knapp dazu schreiben?

  • A den Kaufpreis bereits gezahlt hat, sodass V die Leistung auch nicht nach § 320 I 1 BGB verweigern kann

  • Durchsetzbarkeit (+)

Mahnung oder Entbehrlichkeit der Mahnung (verzugsbegründender TB)

Gemäß § 286 I BGB bedarf es grundsätzlich einer Mahnung. Was ist eine „Mahnung“?

  • Mahnung = bestimmte und eindeutige Aufforderung zur Leistung

Liegt eine solche Aufforderung vor? Subsumieren Sie.

  • A hat V am 7.1. angerufen und zur Leistung aufgefordert

  • Mahnung (+)

Nichtleistung

Vorüberlegung: Wann genau dürfte nicht geleistet worden sein?

  • Entscheidend: Nichtleistung auf die Mahnung hin (= keine Leistung innerhalb der Zeit, die ein leistungsbereiter Schuldner ab dem Zeitpunkt der Mahnung braucht, um die Leistung zu erbringen)

Wann liegt dieser Zeitpunkt wohl hier?

  • Versand wäre für leistungsbereiten Schuldner gleich nach dem Telefonat am 7.1. möglich

Prüfen Sie.

  • Keine Leistung des V auf die Mahnung am hin 7.1., sondern erst zwölf Tage später

  • Nichtleistung (+)

Vertretenmüssen, § 286 IV BGB

Vorüberlegung: Was hat der Schuldner zu vertreten? In welcher Norm steht das?

  • § 276 I BGB: Vorsatz und Fahrlässigkeit zu vertreten 

Was genau bedeutet „Fahrlässigkeit“? In welcher Norm steht das?

  •  § 276 II BGB: Fahrlässigkeit = Außerachtlassen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt

Hat V vorsätzlich oder fahrlässig gehandelt? Subsumieren Sie.

  • V hat nach Telefonat vergessen, die Schuhe abzusenden

  • Fahrlässig, § 276 II (+)

Pflichtverletzung

Vorüberlegung: Worin liegt bei §§ 280 I, II, 286 BGB die Pflichtverletzung?

  •  § 276 II BGB: Fahrlässigkeit = Außerachtlassen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt

Was müssen Sie in diesem Prüfungspunkt also tun?

  • Pflichtverletzung = Nichtleistung auf die Mahnung (+), s.o.

Vertretenmüssen, § 280 I 2 BGB

Verweisen Sie auch hier einfach nach oben.

  • Vertetenmüssen (+), s.o.

Ersatzfähiger Schaden

Welcher Schaden wird nach §§ 280 I, II, 286 BGB ersetzt? Hier können nun die Vorüberlegungen zur Anspruchsgrundlage teilweise platziert werden.

  • Ersatzfähig ist der Verzugsschaden (= Schaden, der auf der verspäteten Leistung beruht)

In welcher Norm steht grds. etwas zum Umfang des Schadensersatzes?

  • § 249 I BGB: Schuldner hat den Zustand wiederherzustellen, der bestehen würde, wenn der zum Ersatz verpflichtende Umstand nicht eingetreten wäre.

Beim Umfang des Schadensersatzes lohnt es sich, kleinschrittig vorzugehen. Überlegen Sie zuerst, worin hier der zum Ersatz verpflichtende Umstand liegt? (Wofür gibt es nach § 286 BGB Ersatz?)

  • Zum Ersatz verpflichtender Umstand = Verzug des V

    • Alle Schäden ab Verzugsbeginn zu ersetzen

Achtung: Zu welchem Zeitpunkt beginnt der Verzug, wenn er infolge einer Mahnung eintritt?

  • Für Eintritt des Verzugs zwar entscheidend, dass Schuldner nicht auf die Mahnung hin leistet

  • ABER: wenn Leistung zu diesem Zeitpunkt (-): Beginn des Verzugs bereits rückwirkend mit Zugang der Mahnung

  • Hier 7.1. vormittags

Welchen Schaden muss V der A also ersetzen?

  • Verzugsschaden = Mietkosten für Schuhe am 7.1. und 10.1. abends

  • Mietkosten am 4.1. dagegen schon vor Verzugsbeginn entstanden, nicht ersatzfähig

In welcher Höhe besteht also ein Schadensersatzanspruch? Bilden Sie ein Ergebnis.

  • Schadensersatz nur für Mietkosten am 7.1. und 10.1.: 20 €

Ergebnis

Anspruch A gegen V aus §§ 280 I, II, 286 BGB i.H.v. 20 € (+)

Abwandlung

Vorüberlegung: In der Abwandlung ist die Frage, „was sich ändert“, wenn Lieferung am 3.1. vereinbart war. Was ist also von Ihnen gefragt?

  • Nur Unterschiede zum Grundfall herausarbeiten, keine neue vollständige Prüfung

Gehen Sie gedanklich Ihr Prüfungsschema durch. Welche Punkte bleiben gleich (in Kästen, nur im Kopf)? Bei welchem Prüfungspunkt wird die Vereinbarung eines konkreten Leistungszeitpunkts erstmals relevant (müssen Sie auch aufschreiben)?

Schuldverhältnis

  • Bleibt gleich

  • KV über ein Paar Rennradschuhe, § 433 BGB (+)

Verzugsvoraussetzungen

Fällige und durchsetzbare Forderung

  • Forderung

  • A gegen V auf Übergabe und Übereignung der Rennradschuhe, § 433 I 1 BGB(+)

  • Bleibt gleich

  • In diesem Fall:

    • Konkreter Leistungszeitpunkt vereinbart

    • Leistung nicht sofort fällig, gem. § 271 II BGB erst am 3.1.

  • Durchsetzbarkeit

  • A den Kaufpreis bereits gezahlt hat, so dass V die Leistung auch nicht nach § 320 I 1 BGB verweigern kann

  • Bleibt gleich

  • Zwischenergebnis: am 3.1. fälliger + durchsetzbarer Anspruch (+)

Mahnung oder Entbehrlichkeit der Mahnung (verzugsbegründender TB)

Tipp: Lesen Sie § 286 II BGB.

Nichtleistung 

Was für eine Konsequenz hat die Entbehrlichkeit der Mahnung für den nächsten Prüfungspunkt, die Nichtleistung?

  • Entscheidender Zeitpunkt: Nichtleistung auf den verzugsbegründenden TB hin

  • Hier nicht erst Mahnung am 7.1., sondern bereits vereinbarter Leistungstermin am 3.1. entscheidend

  • V hat am 3.1. nicht geleistet (+)

Vertretenmüssen, § 286 IV BGB

  • V hat vergessen die Schuhe so zu verschicken, dass diese am 3.1. ankommen

  • Fahrlässig, § 276 II BGB

Pflichtverletzung

Was ganz genau ist die Pflichtverletzung?

  • Nichtleistung trotz verzugsbegründendem Tatbestand

  • Also Nichtleistung trotz vereinbartem Leistungstermin am 3.1.

  • Pflichtverletzung (+)

Vertretenmüssen, § 280 I 2 BGB

Ersatzfähiger Schaden

Achtung: Arbeiten Sie hier auch wieder genau. Wie ist der Schaden zu bestimmen? Subsumieren Sie.

  • A ist so zu stellen, wie sie ohne Verzug des V stünde

  • Also: als hätte er am 3.1. geleistet

  • Mietkosten für 4.1., 7.1. und 10.1. ersatzfähig

    • Ersatz i.H.v. 30 € geschuldet

Ergebnis

  • Ersatz i.H.v. 30 € geschuldet​​​​​​​

Für Feedback zum Fall und zum Konzept des digitalen Fallbuchs klicken Sie bitte HIER!