Kilian Wegner Strafrecht AT I: Übungsfälle Licensed under CC-BY-4.0

Einheit 7: Einwilligung (Sachverhalt)

Fall 1

A ist 13 Jahre alt und lebt mit ihren Eltern in einem Dorf. Sie legt auffälliges Verhalten an den Tag, ist aufmüpfig, laut und unbändig. Auch in der Schule gibt es Probleme. Ihre Eltern gehen mit ihr zu Dr. M, der als angesehener Psychiater gilt. Er stellt eine – in der restlichen Fachwelt nicht anerkannte – Diagnose einer „narzisstischen Störung“ und einer „Mutter-Kind-Symbiose“, die es zu durchbrechen gälte. M verschreibt ein Medikament, das A „leicht beruhigen“ soll, zur Langzeiteinnahme. Er klärt aber weder die A noch ihre Eltern darüber auf, welche Wirkungen oder Nebenwirkungen die Einnahme tatsächlich mit sich bringt. Auch darüber, dass das Mittel sonst nur kurzfristig in Extremfällen eingesetzt wird, informiert er nicht.

Die A wird unter der Medikation apathisch, ihr ist übel, sie hat Kopfschmerzen und trägt auch über den Einnahmezeitraum hinaus Dauermüdigkeit und Muskelzuckungen in den Beinen davon. Dass diese Nebenwirkungen auftreten, hielt M für möglich und nahm es billigend in Kauf. Weder die Eltern noch A hätten der Behandlung bei Kenntnis der Sachlage zugestimmt.

Ist M strafbar gem. § 223 StGB?

Fall 2

O reagiert allergisch auf Wespenstiche. Als sie eines Sommertages Eis isst, fliegt in einem Moment der Unaufmerksamkeit eine Wespe in ihren Mund und sticht zu. Ihre Freund:innen wissen um die Allergie und rufen einen Krankenwagen. Innerhalb von Minuten entwickelt sich eine für O lebensbedrohliche Situation: Ihre Luftröhre schwillt schnell zu, sie hat Atemnot. Als sie im Krankenwagen auf dem Weg in die Notaufnahme das Bewusstsein verliert, droht ein Stillstand des Herz-Kreislauf-Systems. Die Sanitäterin S beschließt, dass sie nicht mehr auf das Personal der Notaufnahme oder das Wiederkehren des Bewusstseins der O warten kann. Mit einem Messer und einem Röhrchen und unternimmt sie eine Notfall-Koniotomie: S schneidet mit einem Skalpell den Hals der O an der richtigen Stelle auf und steckt das Röhrchen hinein – die Sauerstoffsättigung steigt sofort bedeutend. O überlebt ohne bleibende Schäden.

Ist S gerechtfertigt?

Fall 3

(angelehnt an BayObLG NJW 1990, 131)

X erfährt von seiner Hausärztin, dass er mit HIV infiziert ist. Die Ärztin klärt ihn vollständig über die Möglichkeit der Behandlung einer AIDS-Erkrankung, die Folgen einer Infizierung und insbesondere die Übertragungsmöglichkeiten bei Ausübung des Geschlechtsverkehrs auf. X wiederum legt dies auch mehrfach der O, seiner aktuellen Geschlechtspartnerin, dar. Er würde von nun an ausschließlich mit Kondom verhütet Geschlechtsverkehr mit ihr haben, erklärt er. O ist sich der Gefahr einer Infektion dank der Aufklärung durch X völlig bewusst und besteht trotzdem wiederholt auf ungeschützten Verkehr mit X, X kommt trotz anfänglichen Protests nach. Nach mehreren Monaten unterzieht sich O einem Test. Dabei wird eine Infektion mit dem HI-Virus festgestellt. Sie hatte keine anderen Sexualpartner:innen außer X.

Strafbarkeit des X nach § 223 StGB? Gehen Sie davon aus, dass X vorsätzlich handelt.

Fall 4

A ist Mitglied der „Brigade Nassau“, einer Gruppe sog. „Hooligans“. Die Mitglieder treffen sich an den Wochenenden mit anderen „gleichgesinnten“ Gruppierungen zu sog. „Matches“. Dabei handelt es sich um verabredete einvernehmliche Schlägereien, die meist auf einem Acker oder einem Feld stattfinden. Die Teilnehmer stellen sich in den entsprechenden (gleich großen) Gruppen auf und bewegen sich aufeinander zu. Sobald die Gruppen aufeinandertreffen, beginnt die Schlägerei, bei der die Benutzung von Waffen ebenso verboten ist wie Angriffe gegen auf dem Boden liegende Teilnehmer. Sobald alle Mitglieder einer „Mannschaft“ auf dem Boden liegen, ist das „Match“ beendet. Zu lebensgefährlichen Verletzungen kommt es bei solchen Auseinandersetzungen im Regelfall nicht.

Ist eine von A begangene Körperverletzung gerechtfertigt, wenn er im Rahmen eines „Matches“ dem auf der anderen Seite mitkämpfenden B mehrere (nicht lebensgefährliche) Faustschläge verpasst?

Fall 5

(nach BGH NJW 1978, 1206)

H leidet seit Jahren unter ständig wiederkehrenden starken Kopfschmerzen, deren Ursache man trotz fachärztlicher Untersuchung nicht feststellen konnte. Sie selbst meint, die Ursache liege in den zahlreichen plombierten Zähnen ihres Oberkiefers. Sie bittet den Zahnarzt Dr. W daher, ihr sämtliche plombierten Zähne des Oberkiefers zu ziehen. Dr. W untersucht das Gebiss eingehend – u. a. auch röntgenologisch – und stellt dabei fest, dass der Zustand des Gebisses für die Kopfschmerzen nicht ursächlich sein könne. Er teilt H in einem ausführlichen Beratungsgespräch diesen Befund mit. H besteht trotz der von W geäußerten Bedenken auf einer Extraktion der Zähne, so dass W schließlich nachgibt. Er zieht H jedoch sämtliche Zähne des Oberkiefers, auch solche ohne Füllung. Als H nach der Behandlung bewusst wird, dass ihr auch mehrere nicht plombierte Zäh­ne gezogen worden sind, sagt sie: „Schön, dass jetzt alle Zähne heraus sind.“ An ihren Kopfschmerzen hat sich nie etwas geändert.

Hat sich Dr. W wegen Körperverletzung gem. § 223 Abs. 1 StGB strafbar gemacht? Gehen Sie davon aus, dass H grundsätzlich einwilligungsfähig ist.