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IV. Juristische Problemlösung - Gesetzes-Auslegung, rechtsdogmatische Streitfragen und dialogische Argumentation

Auslegung anhand bestimmter Argumentationsfiguren (“Canones”), rhetorische Aspekte

Hauptteil

Weite und enge Gesetzesauslegung als mögliche Positionen

Wenn wir das Recht anwenden, stoßen wir immer wieder auf Rechtsnormen bzw. Rechts­begriffe, deren Bedeutung unklar erscheint oder wo im Einzelfall Zweifel bestehen; besonders dann, wenn es sich um einen atypischen Fall handelt, den der Gesetzgeber bei Erlass der Norm offenbar nicht vor Augen hatte. In der Recht­sprechung und wissenschaftlichen Rechtslehre wird dann oft Streit über die richtige Lesart, den „Auslegungs-Maßstab“, bestehen. Vielfach stellt sich die Frage, ob die streitige Normtextpassage weit interpretiert wird („weite Auslegung“), so dass die problematische Fallgruppe noch erfasst wird, oder ob man eine restriktive Lesart hinsichtlich der Normtextstelle wählt, so dass die problematische Fallgruppe nicht darunter fällt („enge Auslegung“).

Beispiel (zur verfassungsrechtlichen „Vertrauensfrage“):

Nach Art. 68 GG kann der Bundespräsident den Bundestag auf Vorschlag des Bundeskanzlers auflösen, wenn letzterer auf seinen „Antrag, ihm das Vertrauen auszusprechen“, nicht die Zustimmung der Abgeordnetenmehrheit im Bundestag bekommt. Die Reichweite dieser Norm ist unklar und umstritten: Bei weitestmöglicher, formaler Betrachtung würde jeder entsprechend formulierte Antrag reichen, also auch Anträge mit dem erkennbar dahinter stehenden Ziel zu Neuwahlen zu kommen („auflösungsgerichtete Vertrauensfrage“). Bei enger Auslegung wäre nur ein der Sache nach echter Vertrauensantrag zulässig, insb. zur Durchsetzung wichtiger Gesetzesvorhaben. Weiter sind auch vermittelnde Lösungsansätze denkbar (s.u.).

Vertiefung zu möglichen vermittelnden Lösungsansätzen bezüglich der Vertrauensfrage

Zum einen die immer noch relativ enge Position, dass zwar auch eine „auflösungsgerichtete Vertrauensfrage" möglich ist, aber nur wenn nachweislich das Vertrauen im Parlament selbst fehlt (Fallgruppen des „echten Minder­heitenkanzlers“, dessen Fraktion bzw. Koalition allgemein keine Abgeordnetenmehrheit mehr stellt, oder wenn in naher Vergangenheit tatsächlich Abstimmungsniederlagen bei wichtigen Gesetzen erfolgt sind). Das BVerfG vertritt eine noch andere, relativ weite Position: Zwar müsse die materielle Voraussetzung einer nachhal­tigen politischen Vertrauens­krise bestehen, welche die Handlungsfähigkeit des Kanzlers erheb­lich be­einträchtigt und zukünftige Abstimmungsniederlagen wahrscheinlich werden lässt. Diese politische Einschätzung unterliege aber einem weitgehenden Beurteilungsspielraum des Bundeskanzlers, den das BVerfG nicht voll kontrolliert, sondern nur korrigiert, wenn die Lagebeurteilung des Bundeskanzlers unvertretbar erscheint.

“Canones der Auslegung” als normorientierte Argumentkategorien

Um zu klären und zu begründen, wie die Rechtsnorm in derartigen Zweifelsfällen zu verstehen ist, greift man bei der Rechtsanwendung auf die sogenannten „Canones der Auslegung“ als Argumentformen zurück. Dabei handelt es sich im Wesentlichen um vier Kategorien: sprachliche, systematische, historisch-genetische und teleo­logische (= zweck­bezogene) Argumente. Juristisches Argumentieren unter­scheidet sich von anderen – beispielsweise moralischen oder politischen – Argumentationen gerade durch den Gebrauch solcher anerkannten, normorientierten Argumenttypen. Die Canones der Auslegung dienen im ersten Schritt dazu, den Vorgang des Verstehens einer Rechtsnorm anzuleiten, also Gründe für die eine oder andere Lesart im Gesetzestext und in dessen Umfeld zu finden (Erkenntnisprozess), und im zweiten Schritt das Ergebnis der Interpretation anderen gegenüber mittels gesetzesnaher Argumentation darzu­stellen. Diese Argumentformen helfen dabei, den Umgang mit dem jeweiligen Rechtsproblem zu rationalisieren, es in geordneter und transparenter Form diskutierbar zu machen.

Sprachliche Argumente

Ausgangspunkt der Auslegung ist der Wortlaut der Norm. Der Fokus richtet sich auf die unklare, in ihrer Bedeutung umstrittene Textstelle im Gesetz. Um die „richtige“, d.h. die am besten begründbare juristische Lesart zu dem problematischen Merkmal zu bestimmen, kann zunächst die Überlegung helfen, was nach allgemeinem Sprachgebrauch unter einer solchen Formulierung normalerweise verstanden wird. Allerdings führt die sprachliche Auslegung nur begrenzt weiter, da Begriffe oftmals mehrere Bedeutungen haben oder von verschiedenen Sprechern unterschiedlich verwendet werden, der Sprachgebrauch sich zudem wandelt und der juristisch-fach­sprachliche Gebrauch dem allgemeinen Sprachverständnis nicht entsprechen muss. Mitunter kommt es auch vor, dass sprachlich übereinstimmende Tatbestands­merkmale in verschiedenen Rechtsnormen bzw. Rechtsgebieten eine unterschied­liche Bedeutung haben können.

Z. B. die abweichenden Anforderungen an das Vorliegen von Fahrlässigkeit im Strafrecht oder Privatrecht; ganz unterschiedlicher Eigentumsbegriff im BGB und GG.

Im oben genannten Beispiel ist sprachlich nicht völlig klar, ob ein „Antrag des Bundes­kanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen“ förmlich gemeint ist, also das Wort „Antrag“ mit der entsprechenden Formulierung im Mittelpunkt steht (was eher naheliegt), oder es von der sachlichen Zielrichtung her um ein echtes „Vertrauen“ gehen muss.

Systematische Argumente

Im nächsten Auslegungsschritt erfolgt eine Blickfelderweiterung insbesondere auf das normnahe Regelungsumfeld. Die problematische Textstelle steht ja nicht isoliert da, sondern im Kontext mit anderen Vorschriften (Argumente aus dem Regelungs­zusammenhang).

Im Beispiel zeigt etwa die Nachbarvorschrift des Art. 68 GG, der Art. 67 GG, dass ein Misstrauensvotum nur in konstruktiver Form erfolgen darf – also durch Wahl eines neuen Bundeskanzlers – und nicht „destruktiv“ zur Auflösung des Bundestags. Hieraus lässt sich argumentieren, dass der Vertrauens­antrag nach Art. 67 GG nicht in einen verkappten Misstrauensantrag zur Auflösung des Parlaments umfunktioniert werden darf (etwa um zu einem taktisch günstigen Zeitpunkt zu Neuwahlen zu kommen).

Aber auch weiter entfernte Vorschriften oder Normen in anderen Gesetzen können für einen systematischen Abgleich angeführt werden. Als systematische Argumente kann man dementsprechend alle Überlegungen fassen, die auf andere Rechtsvor­schriften Bezug nehmen und aus dem Inhalt dieser Normen auf eine bestimmte Bedeutung der problematischen Vorschrift mit ihrer streitigen Textpassage schließen lassen. Aufbauend auf der Vorstellung, dass die Rechtsordnung als Ganzes eine möglichst widerspruchsfreie und sinnvolle Ordnung bildet, zielt ein systematisches Argument darauf, die verschiedenen Rechtsnormen aufeinander abzustimmen und inhaltliche Widersprüche zu vermeiden.

Ggf. kommt auch eine „vertikal-systematische“ Auslegung in Betracht, wenn bei einfachen Gesetzen gefragt wird, ob diese mit Blick auf das höherrangige Recht verfassungskonform interpretiert werden müssen oder ob nationales Recht mit Blick auf europäisches Recht unionsrechtskonform auszulegen ist.

Manche stufen die unionsrechtskonforme Auslegung auch als eigenständige Auslegungs-/Argumentkategorie ein.

Historisch-genetische Argumente

Während bei der systematischen Auslegung die Argumente noch unmittelbar aus dem Gesetz ableitbar waren, werden bei der historisch-genetischen Auslegung zusätzlich die Gesetzgebungs"materialien" herangezogen. Insbesondere die Begründun­gen der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Institutionen bzw. Personen können über die Motive beim Erlass der fraglichen Norm Aufschluss geben. Mit der Betrach­tung der Entstehungsgeschichte des betreffenden Gesetzes geht der Blick zurück in die Vergangenheit (zeitliche Dimension). Gerade bei älteren Gesetzen kann sich aber zwischenzeitlich die der gesetzlichen Regelung zugrundeliegende tatsächliche Interessenlage so stark verändert haben, dass die Stellungnahmen der Gesetz­gebungs­akteure nur noch bedingt als Argumente verwertbar sind. Ohnehin gibt es regelmäßig keinen einheitlichen, klaren Willen „des Gesetzgebers“.

Dieser ist eben keine natürliche Person: So wird der Gesetzesvorschlag normalerweise im sachlich zuständigen Ministerium ausgearbeitet, dieser Entwurf wird mit der Ausgangsbegründung in den Bundestag eingebracht, wo er oft in einem Ausschuss inhaltlich modifiziert wird. Später können sich weitere Veränderungen etwa aus der gebotenen Mitwirkung des Bundesrates ergeben.

Das größte Problem aber im Studienalltag und insbesondere bei Klausuren liegt darin, dass die Gesetzgebungsmaterialien meist nicht verfügbar sind und auch deren Kenntnis nicht erwartet wird. Dann kann nur – soweit bekannt – das konkrete Sachproblem selbst samt gesellschafts­politischem Umfeld, aus dem heraus sich der Anstoß für die Regelung ergeben hat, argumentativ verwendet werden. Solche Erwägungen können aber auch der sogleich thematisierten teleologischen Auslegung zugeordnet werden, so dass jedenfalls die studentische Auslegung häufig in einem Dreischritt ohne eigenständige historisch-genetische Überlegungen erfolgen wird.

Teleologische Argumente

Die teleologische Auslegung kann sich weiter vom Gesetzestext entfernen; dabei wird regelmäßig auch Erfahrungswissen aus der tatsächlichen Wirklichkeit argumen­tativ einbezogen. Im Zentrum steht hier die Frage nach dem Zweck der fraglichen Norm, also was diese in der Realität bewirken soll – und umgekehrt, welche Folgen nicht gewollt sind. Soweit die subjektive Zwecksetzung des Gesetz­gebers im Rahmen der historisch-genetischen Auslegung nicht verfügbar ist (s.o.), muss bei der teleologischen Auslegung der Normzweck anderweitig („objektiv“) ermittelt werden. Zweckargumente können sich aus der Rechtsfolge der fraglichen Norm selbst ergeben oder auch aus dem Regelungszusammenhang (dann gemischt systematisch-teleologische Auslegung). Wenn dies unergiebig ist, kann auf „höherer“, zugleich abstrakterer Ebene versucht werden, Ziele der fraglichen Einzelnorm aus den allgemeinen Zwecken des Gesetzeswerks bzw. den dahinter stehenden Rechtsprinzipien herzuleiten. Dabei kann ein Gesetz auch mehrere Zwecke nebeneinander und gegenläufig verfolgen; häufig unterscheidet man dann zwischen primären (Haupt-) und sekundären (Neben-)Zwecken.

Zum Beispiel wird im Minderjährigenrecht (§§ 106 ff. BGB) immer wieder betont, der Zweck der Vorschriften liege im Minderjährigenschutz (was nahe liegt); dennoch wird man die Interessen anderer Beteiligter (etwa von Vertragspartnern des Minderjährigen) nicht gänzlich unberücksichtigt lassen.

Im Übrigen können sich Gründe und Zwecke der problematischen Norm aus dem Sachproblem ergeben, aus der tatsächlichen Interessen- und Gefahrenlage, zu deren Bewältigung das Gesetz dient und aus den möglichen realen Folgen einer (zu) weiten oder engen Auslegung. Hierbei kann dann entsprechendes politisches, soziales bzw. wirtschaft­liches Verständnis und Allgemeinwissen helfen, soweit man bei der Falllösung nicht ohnehin Argumente genau zu dem spezifischen Problem aus der Rechtsprechung und juristischen Literatur parat hat.

Im Beispiel lässt sich aus dem oben genannten Regelungszusammenhang von Art. 67 GG und 68 GG sowie den historischen Erfahrungen aus der Weimarer Zeit argumentieren, dass zum Zwecke der Verhinderung instabiler Verhältnisse relativ hohe Hürden für eine Bundestagsauflösung bestehen sollen.

Gerade dies spricht für eine vermittelnde Lösung derart, dass unechte Vertrauensanträge mit dem Ziel von Neuwahlen allenfalls ausnahmsweise im Falle ernster politischer Krisen in Betracht kommen, also etwa wenn die Regierungskoalition keine Abgeordnetenmehrheit mehr stellt, oder wenn in naher Vergangenheit tatsächlich Abstimmungsniederlagen bei wichtigen Gesetzen erfolgt sind. Würden solche Hürden nicht bestehen, hätte dies auch zur Folge, dass die Stellung der Abgeordneten (vgl. Art. 38 GG) geschwächt wird und auf Seiten der Bevölkerung das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit und Festigkeit der Demokratie (vgl. Art. 20 I, II GG) abnimmt. Das BVerfG gewährt dem Bundeskanzler allerdings einen weitgehenden Beurteilungsspielraum bei der Frage, ob eine solche ernste politische Krise vorliegt.

Lernvideo zur Vertiefung:

Dialogische Argumentation hin zu einer nachvollziehbaren Entscheidung

Grenzen des Erkenntnisgewinns durch die Auslegungs-Canones

Die Canones der Auslegung sind keine Instrumente, die grundsätzlich zu einem eindeutigen Ergebnis führen. Es kann zwar vorkommen, dass alle Auslegungskategorien argumentativ in dieselbe Richtung weisen, so dass am Ende klar ist, ob man die Normtextpassage eng oder weit auslegt. Ist ein gesetzliches Merkmal aber wirklich umstritten, werden sich die sprachlichen, systematischen, (historisch-genetischen) und teleologischen Auslegungsgesichts­punkte oft widersprechen; auch innerhalb einer Auslegungskategorie können Argumente gegenläufig sein. Die Canones der Auslegung sind eben nicht mehr, aber auch nicht weniger als sinnvolle und anerkannte Einteilungskategorien für normnahe juristische Argumente. Zu einem Argument gibt es nun einmal regelmäßig auch ein plausibles Gegenargument.

Überdies lassen sich die Instrumente, weil sie auf unserem Sprach- und Argumentations­vermögen beruhen, „missbrauchen“, indem etwa einseitig bestimmte Aspekte verabsolutiert und andere vollständig ausgeblendet werden. Dies bedeutet aber nicht, dass es sich bloß um rhetorische Tricks handelt, um jedes gewünschte Ergebnis rechtfertigen zu können. Jedes Argument lässt sich nur bis zu einem gewissen Grad strapazieren; bei der Diskussion kann man zwischen stärkeren (überzeugenderen) und schwächeren (wenig plausiblen, leicht widerlegbaren) Argumenten unterscheiden. Außerdem sind wir als Interpreten in eine bestehende, institutionell gefestigte Rechtspraxis (Gesetz­geber, Gerichte, Verwaltung, rechtswissenschaftliche Forscher, Rechtsanwälte u.a.) eingebunden, aus der sich Grenzen darstellbarer Lesarten der Norm ergeben. So sollten Auslegungsergebnis und Begründung möglichst anschlussfähig sein gegenüber bereits akzeptierten Auslegungen aus der Rechtsdogmatik.

Die dialogische Seite juristischer Argumentation

Gerade bei klassischen juristischen Streitfragen bringen Rechtsprechung und rechtswissenschaftliches Schrifttum (Forschung) regelmäßig (mehr als) genügend Lösungs­vorschläge und Argumente in die Diskussion. In der studentischen Falllösung muss somit nicht bei jedem Problem gedanklich bei Null angefangen, sondern dürfen bekannte Positionen wiedergegeben werden. Die Auslegungskategorien können aber zumindest helfen bei der Ordnung der Meinungen und Argumente aus Rechtsprechung und Literatur zu dem jeweiligen Streit, um sich die Positionen besser merken bzw. rekonstruieren und methodengerecht darstellen zu können. Wenn man also in einem Lehrbuch oder Kommentar unterschiedliche sachliche Lösungen verschiedener Autoritäten zu einem Problem kennenlernt, können diese oft nach enger, weiter (und vermittelnder) Auslegung eingeteilt werden; die jeweiligen Argumente wiederum danach, ob sie eher sprachlicher, systematischer, (historisch-genetischer) oder teleologischer Natur sind.

Wichtig ist es auch bei der Zuordnung zu beachten, ob es sich um Pro- oder Contra-Argumente hinsichtlich der jeweiligen Position handelt. Wenn das streitige Problem anhand einer konkreten Falllösung dargestellt werden muss, sollte dies nach Möglich­keit dialogisch wiedergegeben werden. Man beschränkt sich also nicht auf die Darstel­lung der persönlich bevorzugten Meinung, der Rechtsprechung oder der sog. „herr­schenden Meinung“, sondern weist auch zumindest die wichtigste (engere oder weiter­gehende) Gegenposition aus. Dementsprechend führt man nicht nur Argumente an, welche die bevorzugte Position stützen, sondern – auch aus Gründen der Redlichkeit und als Zugeständnis an die andere Seite – setzt sich auch mit Argumenten der Gegenseite auseinander.

Hinweise zur eigenständigen Formulierung

Es ist sinnvoll, sich nicht nur die Positionen zu merken, sondern diese auch eigenstädig formulieren zu können. Rhetorisch weniger schön sind Formulierungen wie „nach einer Ansicht …, nach anderer Ansicht …“ und die Wiedergabe von Argumenten dieser Ansichten im Konjunktiv (indirekte Rede).

Vorzugswürdig sind meist eigenständig klingende Formulierungen wie: „Man könnte das Normmerkmal weit auslegen …; denkbar wäre aber auch eine enge Auslegung …“. Wenn sich die Auslegungsergebnisse im Fall unterscheiden, dann eigenständig anhand der Auslegungs-Canones argumentieren, zB.: „Der Wortlaut spricht zunächst gegen die weite Auslegung ….; systematisch dafür spricht wiederum …; entscheidend ist aber in teleologischer Hinsicht, dass …“.


Nachvollziehbarkeit der Entscheidung

Soweit der Streit um das problematische Merkmal für die konkrete studentische Falllösung entscheidungserheblich ist, also die engere Lösungsvariante zu einem anderen Ergebnis kommt als die weite Auslegung, muss eine Entscheidung zwischen den Positionen getroffenen werden (ähnlich dem Entscheidungszwang des Richters in der Praxis). Diese sollte überzeugend, zumindest aber – angesichts der knappen Zeit bei klausurmäßigen Falllösungen – nachvollziehbar sein. Das Ideal wäre eine umfassende „Abwägung“ aller Pro- und Contra-Argumente nach Anzahl, Nähe zur streitigen Norm und Überzeugungskraft. In der Rechts- wie Studienpraxis wird man sich wegen knapper Zeit und begrenztem Raum regelmäßig mit weniger begnügen müssen. Besonders überzeugend wird die Entscheidung immerhin dann sein, wenn das entscheidende Gegen­argument gegen die bevorzugte Lösung widerlegt oder zumindest erheblich entkräftet werden kann. Oder eine vermittelnde Lösung wird „als Kompromiss“ präsentiert, die beide Positionen integriert (nach dem rhetorischen Muster These – Antithese – Synthese). Zum Teil ergibt sich auch aus dem Recht selbst eine „Vermutung“ für die eine Position (= Zuweisung der „Argumentationslast“ für die andere Seite), etwa im Falle gesetzlicher Zweifelsregelungen bzw. klarer Regel-Ausnahme-Verhältnisse (vgl. etwa die Formulierungen in § 125 S. 2 BGB sowie in § 134 BGB), bei Entscheidungs-„Spielräumen“ oberster Verfassungs­­organe (z.B. Parla­ment, Bundeskanzler, vgl. im Fall zur Vertrauensfrage) oder auch aus Gründen der Rechtssicherheit, wenn eine gefestigte ständige Rechtsprechung (bzw. „ganz herrschende Meinung“ auch in der Forschung) zu einer Rechtsfrage besteht.

Zumindest nachvollziehbar ist die Entscheidung regelmäßig, wenn für die bevorzugte Lösung mehr und stärkere Argumente als für die Gegenseite angeführt wird. Dabei wird das „entscheidende“ Argument häufig teleo­logische Aspekte aufweisen. Während die sprachliche Auslegung regelmäßig unklar ist, eine rein systematische Auslegung eher zu formalen Argumenten neigt, erschei­nen teleologische Fragen wie die Reichweite der Schutzwirkung einer Norm vor Gefahren, die Abgrenzung von Verantwortlichkeiten oder die Vermeidung unzumut­barer Folgen für die Betroffenen vielfach bedeutungsschwerer, allerdings oft auch schwierigerer zu beantworten und weiter vom Normtext entfernt. Besonders stark können dementsprechend kombinierte Argumente sein, etwa solche, bei denen teleologische Argumente aus dem Gesetz heraus systematisch begründet werden.

Soweit unterschiedlich weite Auslegungen zur strittigen Normtextpassage im konkreten Fall jeweils zum gleichen Ergebnis führen würden, fällt nicht nur die Notwendigkeit einer Entscheidung zwischen den strittigen Positionen weg, sondern wird gar nicht mehr argumentiert. Denn in einer Falllösung sind „abstrakte“ Streitigkeiten nur dann zu entscheiden, wenn sie für den Fall relevant sind. Dementsprechend gilt folgende Faustregel: „erst subsumieren, dann argumentieren“.

Übungsaufgaben

Frage: Welche Argument-Kategorien (“Canones”) bei der Auslegung gibt es?

Wortlaut / Sprachgebrauch

Systematik, insb. Regelungszusammenhang

Telos, also Grund / Zweck der Norm

Historie (soweit argumentativ verfügbar)

Question
Sind die Auslegungsmethoden nur dann relevant, wenn Sie vor einer völlig neuen Rechtsfrage stehen, welche Sie durch Auslegung erschließen wollen?

Nein, die Auslegungsmethoden helfen auch bei der strukturierten und methodengerechten Darstellung bekannter Lösungswege zu rechtwissenschaftlichen Standard-Streitfragen. In dem Falle dienen sie also eher als rhetorische Instrumente.

Schlüsselbegriffe zur Lerneinheit 4

Problem-Lösungsmöglichkeiten (mögliche Positionen = Auslegungs-“Maßstäbe“):

  • Weite Auslegung

  • Enge Auslegung

  • ggf. auch vermittelnde Position (s. u.)

“Canones der Auslegung” als Kategorien zur Suche und Ordnung der jur. Argumente

  • Auslegung nach dem Wortlaut / allg. Sprachgebrauch

  • Systematische Argumente, insb. Regelungszusammenhang

  • Teleologische Argumente (Normzweck, Grund, Prinzip, sowie mögl. Folgen)

  • (evtl. auch historische Auslegung, soweit Argument verfügbar

“Erörterung” mittels dialogischer Argumentationsformen hin zu einer nachvollziehbaren Entscheidung:

  • Pro- und contra-Argumente

  • Widerlegen (Entkräften) wiederum der Gegenargumente bzw. Verstärken der Pro-Argumente (bis zum Überwiegen), auch in rhetorischer Hinsicht

  • ggf. vermittelnde Lösung (als “Kompromiss”)

  • ggf. Berücksichtigung gesetzlicher Zweifelsregeln oder der Argumentationslast zugunsten einer ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung