Kilian Wegner Strafrecht AT I: Übungsfälle Licensed under CC-BY-4.0

Einheit 9: Wiederholung und Vertiefung Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe (Lösung)

Hinweis: Bei diesem Übungsfall handelt es sich im Vergleich zu den anderen Übungsfällen erstmals um einen Fall, der von Umfang und Schweregrad einer tatsächlichen juristischen Klausur entspricht. Einige Aspekte (wie etwa zum Mord) sind nur der Vollständigkeit halber aufgeführt und müssen von Ihnen noch nicht beherrscht werden. Konzentrieren Sie sich bei der Nachbearbeitung auf die Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe.

Strafbarkeit gem. §§ 212 Abs. 1, 211 StGB durch die Tötung von T und P

K könnte sich gem. §§ 212 Abs. 1, 211 StGB eines Mordes zu Lasten von T und P strafbar gemacht haben, in dem er eine Rakete auf das Passagierflugzeug feuerte.

Tatbestand

Objektiver Grundtatbestand des § 212 Abs. 1 StGB

T und P sind bei dem Raketenbeschuss bzw. Absturz zu Tode gekommen, so dass der Taterfolg des Totschlags eingetreten ist.

Eine Tathandlung des K ist in dem Betätigen des Feuerknopfes zu sehen, mit der die Rakete gestartet wurde.

Nach der herrschenden Äquivalenzlehre wäre diese Handlung für den Taterfolg kausal gewesen, wenn sie nicht hinweggedacht werden könnte, ohne dass der Tod von T und P in seiner konkreten Gestalt entfiele. Diese Bedingung ist hier erfüllt. Dass der mutmaßliche Attentäter T und der Pilot P auch ohne den Abschuss vermutlich ohnehin wenige Minuten später beim Aufprall im Stadion gestorben wären, ist unbeachtlich, da es auf den Erfolg in seiner konkreten Gestalt ankommt und der Unterschied zwischen einem früheren Tod durch Raketenbeschuss und einem späteren Tod durch gezielten Absturz insoweit erheblich ist. Dasselbe Ergebnis lässt sich durch das Dogma erzielen, wonach hypothetische schädigende Reserveursachen bei der Anwendung der conditio-sine-qua-non-Formel außer Betracht bleiben. K hat den Erfolg in jedem Fall verursacht.

Der Erfolg kann ihm auch objektiv zugerechnet werden.

Objektive Mordmerkmale (§ 211 Abs. 2 Gr. 2 StGB)

Fraglich ist, ob die Tat qualifizierende Mordmerkmal nach § 211 Abs. 2 Gr. 2 StGB aufweist.

a) Durch die Warnschüsse des K wurden T und P auf den drohenden Waffeneinsatz hingewiesen und waren daher im Tatzeitpunkt nicht mehr arglos, sodass die Annahme von Heimtücke ausscheidet.

b) In Betracht kommt aber eine Tötung mit gemeingefährlichen Mitteln.

Gemeingefährlich ist nach ganz h. M. ein Tatmittel, dessen Einsatz in der konkreten Situation abstrakt geeignet ist, über das oder die ausersehenen Opfer hinaus eine Mehrzahl Unbeteiligter an Leib oder Leben zu gefährden, weil der Täter die Wirkungsweise des Mittels in der konkreten Tatsituation nicht sicher zu beherrschen vermag.

Eine Luft-Luft-Rakete, wie sie im vorliegenden Fall verwendet wird, kommt nach dieser Definition grundsätzlich als gemeingefährliches Mitteln in Betracht. Jedoch wird das Mittel hier auf eine Art und Weise verwendet (präziser Abschuss des Airbus), die eine Gefährdung anderer Personen als der anvisierten Flugzeuginsassen und mithin die Gemeingefährlichkeit ausschließt; eine etwaige Gefährdung von Menschen am Boden (die durch herabfallende Trümmerteile hätten getroffen werden können), ist insoweit unbeachtlich, da das Tötungsmittel selbst (hier: die Rakete) gemeingefährlich sein muss, nicht die dadurch mittelbar herbeigeführten unbeherrschbaren Wirkungen.

Subjektiver Tatbestand

Vorsatz mit Bezug auf § 212 Abs. 1 StGB

K hatte sicheres Wissen darüber, dass er T und K durch Raketenbeschuss töten würde und handelte folglich mit dolus directus 2. Grades.

Subjektive Mordmerkmale (§ 211 Abs. 2 Gr. 1 und 3 StGB)

Von den subjektiven Mordmerkmalen kommt allein ein Handeln aus niedrigem Beweggrund in Betracht. Darunter versteht man Tatmotive, die sich jeglicher Nachvollziehbarkeit entziehen und eine besondere Verwerflichkeit aufweisen. Daran fehlt es hier, weil es K bei der Tötung von T und P (und der anderen Passagiere) vornehmlich um die Rettung der Menschen im Stadion ging, liegt hinsichtlich des altruistischen Motivs keine gesteigerte Verwerflichkeit vor.

Zwischenergebnis

K hat zwar nicht den Tatbestand des Mordes, aber jenen des Totschlags erfüllt.

Rechtswidrigkeit

Das Handeln des K könnte gerechtfertigt sein, wenn es durch einen anerkannten Rechtfertigungsgrund gedeckt wäre.

Nothilfe (§ 32 Abs. 1, Abs. 2 Alt. 2 StGB)

In Betracht kommt zunächst eine Anwendung von § 32 Abs. 1, Abs. 2 Alt. 2 StGB.

Anwendbarkeit von Notwehr beim Handeln von Hoheitsträgern?

Fraglich ist zunächst, ob K sich als Hoheitsträger (hier: Soldat der Bundeswehr) überhaupt auf die Notrechte des StGB berufen kann.

Eine Literaturansicht verwehrt Amtsträgern generell eine Berufung auf die allgemeinen Rechtfertigungsgründe; für diese könne eine Erlaubnis allein aus Spezialregeln bspw. im Polizeirecht hergeleitet werden. Demnach könnte sich K hier als Hoheitsträger von vornherein nicht auf Notwehr berufen.

Nach h. M. können sich die Hoheitsträger jedenfalls dann auf die Notrechte des StGB stützen, wenn der Gesetzgeber für entsprechende Eingriffe keine abschließenden öffentlich-rechtlichen Eingriffsbefugnisse geschaffen hat. Demnach könnte K sich im vorliegenden Fall auf § 32 StGB berufen, denn bei hoheitlichem Schusswaffengebrauch ist stets davon auszugehen, dass es sich bei den Spezialgesetzen nicht um abschließende Regelungen handelt (was u.a. daran zu erkennen ist, dass die meisten Polizeigesetze ausdrückliche Notrechtsvorbehalte enthalten).

Da die Auffassungen zu unterschiedlichen Ergebnissen führen, ist eine Stellungnahme notwendig. Für die Literaturansicht, die Hoheitsträgern von vornherein eine Berufung auf § 32 StGB verwehrt, spricht, dass die Rechtfertigungsgründe im StGB an Privatpersonen gerichtet sind und deshalb keine öffentlich-rechtlichen Ermächtigungsnormen darstellen. Allerdings ist es umgekehrt nicht plausibel, einem hoheitlich handelnden Waffenträger Schranken aufzuerlegen, die ein privater Nothelfer nicht hat; denn jene sind gerade dazu berufen und in besonderer Weise dazu befähigt, Straftaten zu verhindern. Außerdem darf ein Hoheitsträger als „Bürger in Uniform“ nicht schlechter gestellt werden als ein Privater, zumal jener besonders häufig in Gefahrsituationen gerät. Die besseren Argumente sprechen daher für die h. M. und damit für eine Anwendbarkeit des § 32 StGB (a. A. gut vertretbar).

Nothilfelage

Die von T und (gezwungenermaßen auch) von P betriebene Flugzeugentführung richtet sich gegen Leib und Leben der Menschen in der Allianz-Arena und damit gegen nothilfefähige Individualrechtsgüter.

Da sich das Flugzeug bereits in der Nähe von München befindet, wäre mit einem Einschlag der Maschine im Stadion binnen weniger Minuten zu rechnen gewesen. D.h. die Rechtsgutsbeeinträchtigung durch den T stand jedenfalls unmittelbar bevor und war damit gegenwärtig.

Da T und P ihrerseits keinen Erlaubnisgrund für die Flugzeugentführung geltend machen können (insbesondere kann P sich nicht auf einen Nötigungsnotstand nach § 34 StGB berufen, da dieser Vorschrift ihm nicht die Tötung der Passagiere erlaubt), war der gegenwärtige Angriff auch rechtswidrig.

Eine Nothilfelage liegt vor.

Nothilfehandlung
Eingriff in ein Rechtsgut des Angreifers

K wendet sich mit der Tötung des T gegen ein Rechtsgut des Angreifers. Nichts anders gilt hinsichtlich des P. Dieser handelt zwar, da von T (mutmaßlich mit Waffengewalt) gezwungen, im Nötigungsnotstand, ist aber trotzdem als Angreifer anzusehen, da seine Handlung unter keinem denkbaren Gesichtspunkt gerechtfertigt ist (insbes. greift nicht § 34 StGB ein, da das Schutzgut – die körperliche Unversehrtheit des P bzw. sein Leben – das Eingriffsgut – d.h. das Leben der Menschen im Stadion – nicht wesentlich überwiegt).

Eignung der Verteidigungshandlung

Der Abschuss des Flugzeugs (und damit verbunden die Tötung von T und P) ist geeignet, die Gefahr für die Personen in der Allianz-Arena zu beseitigen.

Erforderlichkeit der Verteidigungshandlung

Der Abschuss des Flugzeugs müsste auch das mildeste der zur Abwehr gleich geeigneten Mitteln gewesen sein. Als milderes Mittel in Betracht kommt zunächst die Möglichkeit, dass es die Flugzeugpassagiere im Zeitpunkt des Abschusses unternehmen, in das Cockpit einzudringen und T zu überwältigen. Dass die Passagiere mit so einem Versuch Erfolg haben, ist aber keineswegs wahrscheinlich und daher weniger effektiv als die von K gewählte Methode.

Kein valider Einwand gegen die Annahme der Erforderlichkeit i. e. S. besteht in dem Argument, dass die Stadionbesucher bei rechtzeitig angeordneter Evakuierung ohne den Flugzeugabschuss hätten gerettet werden können. Denn dieses Versäumnis kann jedenfalls dem K nicht angelastet werden, da diese Entscheidung nicht in seinem Zuständigkeitsbereich lag und er diese im Zeitpunkt seines Tätigwerdens auch gar nicht mehr hätte vornehmen können.

Gebotenheit

Anhaltspunkte dafür, dass eine sozial-ethische Einschränkung des Nothilferechts notwendig und die Handlung des K mithin nicht geboten war, sind nicht ersichtlich.

Subjektives Rechtfertigungselement

Da es K bei der Tötung von T und P gerade darauf ankam, den Angriff auf die Menschen im Stadion zu unterbinden, wies er selbst nach der engsten zu den Anforderungen an das subjektive Nothilfeelement vertretenen Auffassung, die eine Verteidigungsabsicht erfordert, das notwendige subjektive Rechtfertigungselement auf.

Zwischenergebnis

Die Tötung von T und P war durch Nothilfe gerechtfertigt.

Ergebnis

Durch die Tötung von T und P hat K sich nicht strafbar gemacht.

Strafbarkeit gem. §§ 212 Abs. 1, 211 StGB durch die Tötung der 163 anderen Menschen an Bord der Maschine

K könnte sich aber durch die Tötung der anderen 163 Menschen an Bord der abgeschossenen Maschine nach §§ 212 Abs. 1, 211 StGB strafbar gemacht haben.

Tatbestand

Objektiver Grundtatbestand des § 212 Abs. 1 StGB

Durch den Schuss mit der Rakete hat K in objektiv zurechenbarer Weise den Tod der Passagiere verursacht.

Objektive Mordmerkmale (§ 211 Abs. 2 Gr. 2 StGB)

Als objektives Mordmerkmal in Betracht kommt allein Heimtücke. Diese ist jedoch hier ebenfalls nicht gegeben, da auch die Passagiere infolge der optisch und akustisch gut wahrnehmbaren Warnschüsse auf den drohenden Waffeneinsatz hingewiesen worden waren und sie insoweit im Tatzeitpunkt nicht mehr arglos waren.

Subjektiver Tatbestand

Auch bezüglich der Tötung der Passagiere handelte K mit dolus directus 2. Grades. Subjektive Mordmerkmale sind nicht ersichtlich.

Zwischenergebnis

Zumindest der Tatbestand des Totschlags ist erfüllt.

Rechtswidrigkeit

Erneut stellt sich die Frage, ob K sich auf einen Rechtfertigungsgrund berufen kann.

Vorliegen einer spezialgesetzlichen Erlaubnis

Eine spezialgesetzliche Befugnisnorm für den Abschuss des Flugzeugs besteht nicht. Der einzig in Betracht kommende § 14 Abs. 3 LuftSiG wurde vom BVerfG für nichtig erklärt.

Kriegsrechtliche Befugnis (Art. 87a GG i.V.m. Völkergewohnheitsrecht)?

Mit Blick auf sog. „Renegade“-Fälle ist im Schrifttum teilweise argumentiert worden, dass der Abschuss einer von Terroristen entführten Passagiermaschine nach kriegsrechtlichen Maßstäben zu beurteilen sein kann; das Kriegsrecht erlaubt nach h. M. auch die Opferung von Zivilisten, da die Menschenwürde im Krieg nicht in gleichem Maße wie zu Friedenszeiten rechtlichem Schutz untersteht. Das BVerfG hat diese Sichtweise im Grundsatz bestätigt und den Einsatz militärischer Gewalt (unter Inkaufnahme sog. Kollateralschäden unter der Zivilbevölkerung) im Falle von kriegsähnlichen Angriffen oder Anschlägen katastrophischen Ausmaßes, die zu einem Staatsnotstand führen, für grds. zulässig erklärt.

Ein solcher Staatsnotstand besteht im vorliegenden Fall aber nicht. Vielmehr handelt es sich um einen singulären Angriff auf ein Fußballstadion, der zwar viele Tote nach sich ziehen wird, aber die Existenz des Staates nicht gefährdet. Die Anwendung (ungeschriebener) kriegsrechtlicher Befugnisse scheidet damit aus.

Hinweis: Das Kriegsrecht ist nicht Prüfungsgegenstand und wird hier nur der Vollständigkeit halber aufgeführt!

3.         Mutmaßliche Einwilligung

Möglicherweise war die Tötung der 163 Flugzeuginsassen jedoch durch (mutmaßliche) Einwilligung gerechtfertigt.

Teilweise wird angenommen, die Passagiere wären, hätte man sie gefragt (was in concreto wohl umständehalber unmöglich war), mit ihrer Aufopferung zugunsten der Menschen im Stadion einverstanden gewesen. Sie (scil. die Passagiere) hätten ja ohnehin und in jedem Fall nur noch wenige Minuten zu leben gehabt und auf diese Weise ihrem verbleibenden Lebensrest noch einen letzten heldenhaften Sinn verleihen können. Insoweit läge also eine mutmaßliche Einwilligung vor. 

Die ganz h. M. lehnt diese Betrachtung jedoch zurecht ab. Das BVerfG meint hierzu:

„Es kann nicht angenommen werden, dass derjenige, der als Besatzungsmitglied oder Passagier ein Luftfahrzeug besteigt, mutmaßlich in dessen Abschuss und damit in die eigene Tötung einwilligt, falls dieses in einen Luftzwischenfall […] verwickelt wird, der [einen Abschuss] zur Folge hat. Eine solche Annahme ist ohne jeden realistischen Hintergrund und nicht mehr als eine lebensfremde Fiktion.“

Nothilfe

Die Tat könnte jedoch durch Nothilfe gem. § 32 Abs. 1, Abs. 2 Alt. 2 StGB zugunsten der Menschen im Stadion gerechtfertigt sein.

Indes scheitert die Nothilfe hier schon am Vorliegen einer Nothilfehandlung. Bei dieser muss es sich nämlich um „Verteidigung“ handeln, d. h. sie darf nur in Rechtsgüter des Angreifers (hier: des T und des P), nicht jedoch in solche unbeteiligter Personen eingreifen.

Rechtfertigender Defensivnotstand, § 34 StGB i. V. m. dem Rechtsgedanken von § 228 BGB

Nach h. M. kann der Gedanke des zivilrechtlichen Defensivnotstands auf den strafrechtlichen rechtfertigenden Notstand übertragen werden. Daraus folgt, dass ein Eingriff in die Rechte von Nicht-Angreifern (hier: der Insassen des Flugzeugs) bereits dann gerechtfertigt sein kann, wenn die abzuwendende Gefahr von dem Eingriffsadressat ausgeht und das beeinträchtigte Gut (d. h. das Eingriffsgut) das gerettete Gut (das Schutzgut) nicht wesentlich überwiegt.

Defensivnotstandslage

Gefahr für ein notstandsfähiges Rechtsgut ist gegeben, da das Leben der Menschen im Stadion in Gefahr ist.

Diese Gefahr ist auch gegenwärtig.

Fraglich ist, ob hier, wie es für einen Defensivnotstand erforderlich ist, die Gefahr aus der Sphäre der Eingriffsgutsinhaber (d. h. der Flugzeuginsassen) herrührt.

Ein Teil der Lehre bejaht dies in Flugzeugentführungs-Fällen und begründet das mit dem Argument, die Flugzeuginsassen hätten sich selbstverschuldet in einen terroristischen Angriff verstricken lassen und seien damit nunmehr Teil der Gefahrenquelle.

Die herrschende Meinung tritt dem zurecht entgegen. Sie betont, dass die Mindestvoraussetzung für die Annahme einer Gefahrzuständigkeit i. S. d. Defensivnotstands eine Kausalität für die Gefahr ist. Die Passagiere sind hier allerdings nicht kausal für die Bedrohung der Menschen im Stadion: Denkt man die Passagiere hinweg, bleibt das Flugzeug auf Kurs. In den Worten von Reinhard Merkel:

„Es wäre nachgerade arglistig, den Passagieren der entführten Maschine zu sagen, sie seien leider eine Gefahrenquelle für das Leben anderer geworden und würden deshalb rechtens getötet. Denn das sind sie nicht geworden. Der Umstand, dass sie schuldlos im Bauch einer Gefahrenquelle stecken, macht sie nicht selbst zu einer.“

Eine Rechtfertigung durch Defensivnotstand scheidet also schon mangels einer (Defensiv-)Notstandslage aus.

Rechtfertigender Aggressivnotstand gem. § 34 StGB

Angesichts der Gefahr für Leib und Leben der Menschen in der Allianz-Arena liegt allerdings eine gegenwärtige Gefahr für ein i. S. v. § 34 StGB notstandsfähiges Rechtsgut und mithin eine (Aggressiv-)Notstandslage vor. Der Abschuss der Maschine ist auch geeignet und das mildeste der gleichermaßen zur Gefahrenabwehr geeigneten Mittel.

Fraglich ist allerdings, ob die Abwehrmaßnahme auch verhältnismäßig ist, d. h. ob der Schutz des Lebens der Menschen in der Allianz-Arena das Leben der Menschen in der abgeschossenen Maschine wesentlich überwiegt. Dies könnte man prima facie bejahen, wenn man bedenkt, dass K „nur“ 163 Menschenleben opfert, um zehntausende Menschen im Stadion zu retten. Bei der Anwendung von § 34 StGB ist jedoch stets auch die Menschenwürde zu beachten. Diese verbietet es, Menschenleben zu verrechnen und schlicht auf einen Lebenssaldo hinzuweisen. Eine Rechtfertigung nach § 34 StGB scheidet jedenfalls deshalb aus.

Weiterführender Hinweis: Folgt man einer in der Literatur vertretenen Auffassung, so könnte sich etwas anderes möglicherweise aus dem Umstand ergeben, dass die Menschen im Flugzeug und die Menschen im Stadion eine sog. Gefahrgemeinschaft bilden. Eine solche Gefahrgemeinschaft liegt vor, wenn einer Personengruppe eine identische Gefahr droht und diese Gefahr alle Mitglieder der Gruppe vernichtet, wenn nicht ein Teil der Gruppe für einen anderen Teil der Gruppe geopfert wird. Da im vorliegenden Fall zudem klar bestimmt ist, welche Gruppe ohnehin und in jedem Fall unrettbar verloren ist (nämlich die Flugzeuginsassen, die entweder durch den Absturz im Stadion oder aber durch den Abschuss durch K sterben) und welcher Teil noch auf Kosten der anderen gerettet werden kann (hier: die Menschen im Stadion), liegt eine sog. asymmetrische Gefahrgemeinschaft vor, bei der viele in der Literatur der Meinung sind, dass ausnahmsweise doch von einem Überwiegen der Lebensinteressen der noch Rettbaren gesprochen werden kann. Argumentiert wird, dass § 34 StGB nicht auf den (abstrakten) Wert von Rechtsgütern, sondern auf den von konkreten Interessen abstelle. Das Interesse an einem nur geringen „Lebensrest“ wiege jedoch im Vergleich zu einem Leben mit „offenem Ende“ wesentlich weniger. Die (auch von mir vertretene) Gegenauffassung lehnt diese Betrachtung ab und vertritt die Auffassung, dass die Aufrechnung von Menschenleben gegeneinander nie rechtens sein kann.

Rechtfertigende Pflichtenkollision?

Eine rechtfertigende Pflichtenkollision liegt vor, wenn der Täter von zwei gegenläufigen Pflichten umständehalber nur die eine auf Kosten der Nichterfüllung der anderen Pflicht erfüllen kann. Schützen die Pflichten dabei jeweils gleichwertige Rechtsgüter, ist die Verletzung einer der Pflichten – der Täter hat hier nach h. M. ein Wahlrecht – gerecht-fertigt. Der Rechtfertigungsgrund der Pflichtenkollision greift allerdings ausschließlich im Falle kollidierender Handlungspflichten. Kollidiert – wie im vorliegenden Fall – hingegen eine Handlungspflicht („Rette die Menschen im Stadion!“) mit einer Unterlassungspflicht („Töte nicht die Menschen im Flugzeug!“), ist diese Kollision ausschließlich anhand der Maßstäbe des § 34 StGB aufzulösen. Dieser erlaubt hier aber gerade keine Suspendierung der Unterlassungspflicht.

Zwischenergebnis

K handelte rechtswidrig.

Schuld

Möglicherweise liegen jedoch Schuldausschließungs- oder Entschuldigungsgründe vor.

Handeln auf Befehl?

Die Begehung einer Straftat auf Befehl kann im Rahmen von hoheitlichen Dienstverhältnissen unter bestimmten Umständen zu einer Entschuldigung wegen Befehlsnotstands führen (vgl. § 5 WStG, § 3 VStGB). Vorliegend ist dies jedoch schon deshalb ausgeschlossen, weil der höchste Dienstvorgesetzte (scil. der Verteidigungsminister) gerade einen Befehl zu einem entgegengesetzten Verhalten (d.h. dem Nicht-Abschuss des Flugzeugs) gegeben hatte.

Entschuldigender Notstand gem. § 35 StGB

Ein entschuldigender Notstand gem. § 35 StGB scheidet deshalb aus, weil K nicht zur Rettung einer der in der Norm genannten Nahpersonen handelte.

Übergesetzlicher entschuldigender Notstand (§ 35 StGB analog)

Nach herrschender Meinung ist für bestimmte schwer auflösbare Lebensnotstandssituationen (es geht also nur um Gefahren für das menschliche Leben) die Annahme eines übergesetzlichen entschuldigenden Notstands möglich, die auf eine analoge Anwendung von § 35 StGB gestützt wird. Dafür spricht, dass der historische Gesetzgeber die Frage nach der Existenz eines übergesetzlichen Notstands ausdrücklich offen gelassen hat, sodass eine Regelungslücke vorliegt. Zudem ist auch von einer vergleichbaren Interessenlage wie bei § 35 StGB auszugehen, da im Falle eines quantitativen Lebensnotstandes (= das Leben vieler kann durch den Tod weniger gerettet werden) auch ohne die Gefährdung einer Sympathieperson der psychische Druck auf den Täter ebenso hoch sein kann wie bei den § 35 StGB unterfallenden Konstellationen (a. A. – also komplette Ablehnung der Analogie – gut vertretbar).

Voraussetzung für die Annahme eines entschuldigenden übergesetzlichen Notstands ist zunächst, dass die Voraussetzungen des § 35 Abs. 1 StGB – vom Erfordernis des Handelns für eine Nahperson abgesehen – erfüllt sind. Diese Bedingung ist im vorliegenden Fall erfüllt, da der Abschuss des Flugzeugs und damit die Tötung der Passagiere erforderlich ist, um die die Menschen in der Allianz-Arena zu retten. Auch ist nicht ersichtlich, warum K die Hinnahme des Todes von zehntausenden Menschen in der Allianz-Arena zumutbar gewesen wäre.

Umstritten ist, welche Anforderungen darüber hinaus gestellt werden:

Nach einer Auffassung ist es ausreichend, dass der Täter im quantitativen Lebensnotstand handelt, d. h. dass durch seine Handlung mehr Menschen gerettet als getötet werden. Dies ist hier der Fall, da sich im Flugzeug (deutlich) weniger Personen befunden haben als im Stadion.

Eine strengere Auffassung verlangt, dass sich die Opfer in einer Gefahrgemeinschaft befunden haben, d. h. dass ohne das Eingreifen der Täter:in letztlich alle Menschenleben verloren gewesen wären. Auch diese – engere – Bedingung ist hier erfüllt, weil ohne den Abschuss sowohl die Menschen im Flugzeug als diejenigen im Stadion zu Tode gekommen wären.

Da beide Auffassungen hier zum selben Ergebnis führen, kann eine Stellungnahme zu dem Streit unterbleiben.

K handelte auch mit Verteidigungswillen und erfüllte mithin die subjektiven Anforderungen an den übergesetzlichen entschuldigenden Notstand.

Ergebnis

K ist durch einen übergesetzlichen entschuldigenden Notstand entschuldigt und kann daher auch für die Tötung der 163 anderen Flugzeuginsassen nicht bestraft werden.

Gesamtergebnis

K ist straflos, da teilweise gerechtfertigt (hinsichtlich der Tötung von T und P) und teilweise entschuldigt (so hinsichtlich der anderen 163 Flugzeuginsassen).