Während die fahrlässige Körperverletzung in der Praxis insbesondere im Zusammenhang mit Autounfällen häufig auftaucht, spielt sie in der juristischen Ausbildung meist eine Nebenrolle. Die fahrlässige Strafbarkeit ist nach den in Frage kommenden vorsätzlichen Delikten zu prüfen, auf denen regelmäßig der Schwerpunkt in einer Klausur liegen wird. Gleichwohl kann in einer Klausur zum Strafrecht AT die Fahrlässigkeitsprüfung durchaus eines der Hauptthemen sein, in einer Prüfung zum Strafrecht BT ist dies hingegen nur schwer vorstellbar. Eine ordentliche Darstellung des fahrlässigen Delikts in der Klausur ist aber dennoch unerlässlich, um der Korrektor:in ein grundsätzliches und umfassendes Verständnis des Stoffes signalisieren zu können.
Rechtsgut und Deliktsstruktur
§ 229 StGB schützt, ebenso wie die restlichen Körperverletzungsdelikte, die körperliche Unversehrtheit und die physische Gesundheit von Menschen. Es handelt sich um ein Verletzungserfolgsdelikt.
Tatbestand
Tathandlung
Als Tathandlung kommt entweder ein aktives Tun oder – wenn die Pflicht zur Erfolgsabwendung iSv § 13 Abs. 1 StGB besteht – auch ein Unterlassen in Betracht. In einer juristischen Prüfung muss deutlich gemacht werden, an welches (vorwerfbare) Verhalten die Prüfung angeknüpft wird (zB zu schnelles Fahren mit einem Auto oder das freie Herumlaufenlassen eines bissigen Hundes).
Beispiel: Eine fahrlässige Körperverletzung durch Unterlassen liegt bei einer Ärztin vor, die einen Hausbesuch trotz zuvor telefonisch mitgeteilter markanter Symptome durch den Patienten unterlässt.
Taterfolg: Körperliche Misshandlung oder Gesundheitsschädigung
Die Tathandlung muss zu einer körperlichen Misshandlung oder einer Gesundheitsschädigung geführt haben. Diese Taterfolge entsprechen den aus § 223 StGB bekannten Begriffen (→ § 7 Rn. 18 ff.).
Objektive Sorgfaltspflichtverletzung und objektive Vorhersehbarkeit
Der Taterfolg muss dem Wortlaut von § 229 StGB zufolge „durch Fahrlässigkeit“ herbeigeführt werden. Dies setzt, wie bei allen Fahrlässigkeitsdelikten, eine objektive Sorgfaltspflichtverletzung bei objektiver Vorhersehbarkeit des Erfolgs voraus. Die Abgrenzung, ob bewusste Fahrlässigkeit oder Vorsatz vorliegt, sollte – sofern es sich um einen Grenzfall handelt – bereits bei der Prüfung des vorsätzlichen Delikts im Rahmen des subjektiven Tatbestands thematisiert werden. Wird dabei ein vorsätzliches Handeln abgelehnt, sollte mit der Prüfung des fahrlässigen Delikts fortgefahren werden. Diese kann dann in der Regel kurzgehalten werden.
Bei der Prüfung des Punkts „durch Fahrlässigkeit“, unterteilt in objektive Sorgfaltswidrigkeit und objektive Vorhersehbarkeit der Erfolgsverursachung, ist die Perspektive eines besonnenen und gewissenhaften Mensch in der konkreten Lage und der sozialen Situation des Täters einzunehmen („objektiver Dritte“). Die Prüfung, ob es dem Täter auch nach seinen individuellen Fähigkeiten möglich war, die objektiv erforderliche Sorgfalt walten zu lassen und die durch ein sorgfaltswidriges Verhalten drohende Erfolgsverursachung vorherzusehen, erfolgt nach hM erst beim Prüfungspunkt der subjektiven Sorgfaltspflichtverletzung und der subjektiven Vorhersehbarkeit im Rahmen der Schuld.
Objektive Sorgfaltswidrigkeit
Eine objektive Sorgfaltswidrigkeit liegt bei vor, wenn die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen wird. Erforderlich ist es im Verkehr regelmäßig insbesondere, Gefahren für die körperliche Unversehrtheit eines anderen Menschen zu erkennen und sie nach Möglichkeit und Zumutbarkeit zu beseitigen oder wenigstens einzudämmen.
Objektive Vorhersehbarkeit der Erfolgsverursachung
Dass das objektiv sorgfaltswidrige Verhalten den Taterfolg der Körperverletzung herbeiführen könnte, muss objektiv vorhersehbar gewesen sein. Dies wird nach der allgemeinen Lebenserfahrung beurteilt. Dabei wird an den final eingetretenen Erfolg angeknüpft, nicht aber an die Einzelheiten des Kausalverlaufs.
Kausalität und objektive Zurechnung des Erfolgs
Auch bei der fahrlässigen Körperverletzung gilt die Äquivalenztheorie, d. h. es muss eine Handlung vorliegen, die nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der tatbestandsmäßige Erfolg in seiner konkreten Gestalt entfiele. Weiter muss dieser Erfolg gerade eine Folge der Sorgfaltspflichtverletzung sein, die bloße Risikoerhöhung allein reicht nach überwiegender Ansicht nicht aus.
Rechtswidrigkeit
Bei fahrlässigen Delikten und somit auch bei der fahrlässigen Körperverletzung kann die Rechtswidrigkeit aufgrund von Rechtfertigungsgründen entfallen. Besondere Schwierigkeiten, die sich auch schon im Rahmen der objektiven Zurechnung stellen, birgt die Fallgruppe der sog. Risikoeinwilligung.
Schuld
Im Rahmen der Schuld ist spiegelbildlich zur objektiven Fahrlässigkeit die sog. subjektive Fahrlässigkeit zu prüfen: Es muss eine subjektive Sorgfaltspflichtverletzung bei subjektiver Vorhersehbarkeit des Erfolgseintritts vorliegen.
Subjektive Sorgfaltspflichtverletzung
Es muss dem Täter nach seinen persönlichen Fähigkeiten möglich sein, die objektive Sorgfaltspflicht zu erkennen und zu erfüllen.
Subjektive Vorhersehbarkeit
Der Täter muss außerdem nach seinen persönlichen Möglichkeiten in der Lage sein, die Erfolgsverursachung vorhersehen zu können.
Täterschaft und Teilnahme
Eine Teilnahme an einer Fahrlässigkeitstat nach §§ 26, 27 StGB ist nicht möglich, da sowohl die Anstiftung als auch die Beihilfe eine vorsätzliche Haupttat voraussetzen. Es ist aber eine Täterschaft der „Helfer:innen“ selbst denkbar, da an den Gehilfenbeitrag oder das „Bestimmen“ iSv § 26 als Tathandlung der fahrlässigen Körperverletzung angeknüpft werden kann. Eine Mittäterschaft scheidet aus, da ein gemeinsamer Tatplan vorsätzliches Handeln voraussetzt, das bei einer fahrlässigen Begehungsform fehlt.
Versuch
Da es sich bei der fahrlässigen Körperverletzung um ein Fahrlässigkeitsdelikt handelt, ist ein Versuch des Delikts nicht möglich. Ein Versuch setzt immer einen Tatentschluss des Täters voraus, an welchem es bei einer fahrlässigen Begehung fehlt.
Konkurrenzen
§ 229 StGB tritt im Wege der Gesetzeskonkurrenz hinter allen Delikten zurück, die eine vorsätzliche Verletzung von Leib oder Leben erfassen (zB §§ 223, 224, 227, 212 StGB). Tateinheit zwischen einem vorsätzlichen Körperverletzungsdelikt und der fahrlässigen Körperverletzung ist nur denkbar, wenn der Täter durch dieselbe Handlung zwei (oder mehr) Personen verletzt und einmal vorsätzlich und einmal fahrlässig handelt. Bei handlungseinheitlich verwirklichten Straftatbeständen, die nicht zwingend eine Körperverletzung enthalten (zB §§ 315 ff. StGB), bleibt § 229 StGB hingegen stehen und wird nicht verdrängt.
Da die fahrlässige Körperverletzung somit in vielen Fällen von vorsätzlichen Delikten verdrängt wird, ist sie in der juristischen Prüfung innerhalb des jeweiligen Tatkomplexes zumeist zuletzt zu prüfen. Aufgrund des während Strafrechtsklausuren üblicherweise herrschenden Zeitdrucks sollte die Prüfung des § 229 StGB deshalb regelmäßig sehr knapp ausfallen.
Aufbauschema
Tatbestand
Tathandlung
Taterfolg
Objektive Sorgfaltspflichtverletzung und objektive Vorhersehbarkeit des Erfolgseintritts
Kausalität und objektive Zurechnung
Rechtswidrigkeit
Schuld
Subjektive Sorgfaltspflichtverletzung
Subjektive Vorhersehbarkeit
Prozessuales / Wissen für die Zweite Juristische Prüfung
Bei der fahrlässigen Körperverletzung handelt es sich gemäß § 230 Abs. 1 S. 1 StGB um ein relatives Antragsdelikt und nach § 374 Abs. 1 Nr. 4 StPO um ein Privatklagedelikt.
Weiterführende Studienliteratur und Übungsfälle
Weiterführende Studienliteratur
Hardtung, Die Körperverletzungsdelikte, JuS 2008, 864
Rönnau, Grundwissen – Strafrecht: Einverständliche Fremdgefährdung, JuS 2019, 119
Übungsfälle
Jahn/Schmitt-Leonardy, Referendarexamensklausur – Strafrecht: Hässliche Models, JuS 2020, 864
Hinrichs, (Original-)Assessorexamensklausur – Strafrecht: Abschlussverfügung der Staatsanwaltschaft – Bäume, Blut und Bilder, JuS 2023, 578
Schönfeld, (Original-)Assesorexamensklausur – Strafrecht: Abschlussentscheidung der Staatsanwaltschaft, JuS 2023, 775