Bian Sukrow
„Self-Care?! Wann soll ich das denn noch machen? Ich muss jetzt schon Mandate ablehnen, weil wir völlig überlaufen sind!“
„Ja, die Leute kommen mit schlimmen Geschichten. Wenn du damit nicht umgehen kannst, bist du im falschen Beruf.“
„Bei uns kommt es nicht auf Gefühle an. Jura ist rational und objektiv.“
Im juristischen Umfeld ist das Bild von der harten Anwältin, dem emotionslosen Staatsanwalt und der über jede subjektive Regung erhabenen Richterin immer noch allgegenwärtig. Wenn wir mit alten Häs:innen im juristischen Geschäft sprechen, hören wir häufig, dass ‚man‘ sich an den emotionalen Stress und ein wahnwitziges Arbeitspensum ‚halt einfach gewöhnen‘ müsse. Auf die Nachfrage, wie ‚man‘ denn das so genau macht, kommt aber oft nicht viel. „Ach, irgendwann ist es Routine.“ Bohren wir weiter, hören wir nicht selten, dass die Berufsträger:innen sich innerlich ‚hart machen‘, um die Schicksale von Betroffenen nicht an sich herankommen zu lassen und trotz drohender Erschöpfung weiterzumachen. Der Idealismus, mit dem sehr viele Jurist:innen in ihr Studium und in ihren Beruf starten, weicht bei manchen im Lauf des Ausbildungs- und Berufswegs einer zynischen oder technokratischen Haltung. Auch der Griff zu vermeintlich entspannenden Substanzen wie Alkohol oder leistungssteigernden Mitteln gehört nicht zu den Ausnahmen.
In den meisten anderen Berufsfeldern, in denen Beratung und die Arbeit mit Menschen eine große Rolle spielt, setzt sich die Erkenntnis durch, dass Berufsträger:innen Raum, Anleitung und Austauschmöglichkeiten benötigen, um Selbstfürsorgekompetenzen zu erwerben. Dazu gehört neben Achtsamkeit den eigenen Potenzialen, Wünschen und Grenzen gegenüber auch die Fähigkeit zur professionellen (sprich: selbstkritischen, sowohl sich selbst als auch den Klient:innen gegenüber unbedingt respektvollen, hierarchiekritischen, empowernden) Interaktion. Immer häufiger stehen entsprechende interaktionstheoretischen Modelle gemeinsam mit praktischen Reflexionsmethoden auf den Lehrplänen, und auch kollegiale Beratung und psychologische Supervision sind etwa im Lehramt, in therapeutischen Berufen oder der Sozialen Arbeit seit Langem bewährt. Entsprechende Methoden zu erlernen, gilt nicht mehr nur als nice to have, sondern als Investition, um gesund durch ein langes Berufsleben zu kommen.
Dass es sich auch bei den meisten juristischen Berufen um Tätigkeiten handelt, in denen es zu einem guten Teil darauf ankommt, wie gut ich mit mir und meinem Gegenüber umgehe, ist euch als (R)LCler:innen sicherlich viel stärker bewusst als Menschen, die erst nach dem Abschluss/Examen den ersten Kontakt mit Klient:innen haben. Die eigenen inneren Ressourcen zu kennen und zu stärken, ist zweifellos für jede:n sinnvoll; für Beratende, die gemeinsam mit Ratsuchenden durch ein strukturell diskriminierendes System navigieren, mit traumatischen Geschichten konfrontiert sind und Mitverantwortung für den Ausgang existenzbestimmender Verfahren tragen, kann Selbstfürsorge jedoch den entscheidenden Unterschied zwischen Burnout und innerem Wachstum machen. Das gilt erst recht für Beratende, die trotz oder gerade wegen ihrer eigenen Flucht-, Migrations- oder Diskriminierungserfahrung Ratsuchende unterstützen.
Und jetzt? Wo fange ich an?
Da praktische Mandant:innenkontakte im Studium nicht vorgesehen sind, werden nicht alle von euch automatisch mit Selbstfürsorgemethoden vertraut gemacht, und nicht jede Law Clinic kann eigene Ausbildungsmodule zum Thema oder psychologische Supervision anbieten. Wir möchten euch deshalb eine Auswahl an Reflexionshilfen, Techniken und Haltungen vorstellen, die wir selbst hilfreich finden. Da wir beide unterschiedliche berufliche Wege gegangen sind und uns als Persönlichkeiten unterscheiden, ist auch ein Teil der Methoden verschieden, die wir selbst zur Selbstfürsorge verwenden. Zusammengenommen können wir euch also eine gewisse Bandbreite an Möglichkeiten zeigen. Und es versteht sich von selbst: Es gibt noch zahlreiche weitere Methoden und Tools, die ihr verwenden könnt. Vielleicht findet ihr ein oder zwei Verfahren, die die Last auf euren Schultern verringern, euch die Regeneration erleichtern oder euch mit mehr (Selbst-)Respekt durch die Beratungen gehen lassen.
Wir möchten euch vor allem eine Idee vermitteln, wo und wie ihr ansetzen könnt und in welche Richtung ihr euch bei Bedarf weiter informieren könnt. Wir laden euch ein, in unserem Fundus herumzustöbern, auszuprobieren, was für euch funktioniert, zu ignorieren, was für euch nicht passt, und mitzunehmen, was euch nützlich erscheint. Wir möchten euch außerdem motivieren, euch mit anderen (R)LCler:innen und gern auch mit uns darüber auszutauschen, welche Erfahrungen ihr mit Belastungen und Selbstfürsorge macht. Viel zu oft denken wir, als Beratende dürften wir nicht selbst Unterstützung in Anspruch nehmen. Dabei erleben wir alle, auch nach Jahrzehnten in beratenden Berufen, Momente, in denen uns die Arbeit mit Ratsuchenden schwerfällt, in denen wir uns überlastet fühlen und in denen wir unsere Stärken (und die unserer Klient:innen!) aus dem Blick verlieren. Wenn wir das offenlegen, erhöhen wir die Chance, selbst eine neue Perspektive auf unsere Lage zu bekommen und aus unserem Umfeld Unterstützung zu erfahren. Gleichzeitig signalisieren wir unseren Mitstreiter:innen, dass es nicht ehrenrührig ist, über Probleme zu sprechen. Law Clinics gehören jedenfalls zu den besten Orten in der juristischen Landschaft, um in wohlwollender Atmosphäre über Belastungen zu reden und ein paar Übungen oder Tests in vertrauter Runde gemeinsam zu machen. Und wer weiß, vielleicht schleichen sich die Erkenntnisse aus solchen Gesprächen nach und nach auch in die weitere juristische und beraterische Welt.
Hinweise zur Verwendung
Die Infos, Übungen, Selbsttests, Audio- und Videodateien, die ihr im Folgenden findet, sind als Stöberbox gedacht. Vielleicht dienen euch die Fundstücke als Start für euren eigenen Self-Care-Koffer. Jedes Element, jede Sinneinheit, bekommt deshalb eine eigene Überschrift. Manchmal ist in einem Abschnitt auch nur eine URL mit ein paar einführenden Worten auf einer Seite zu finden. Wie oben schon erwähnt: Was wir euch zusammenstellen, ist nur ein Sträußchen aus einem wilden, bunten Feld aus Achtsamkeitsblümchen. Da draußen gibt es noch viel mehr!
Wir geben jeweils an, wer von uns ein Element in die Stöberbox gelegt hat (die Angabe findet sich bei jedem Autor:innenwechsel unter der Überschrift), damit ihr bei Bedarf Rückfragen stellen könnt (Kontaktinfos findet ihr im nächsten Abschnitt). Einzelne Bestandteile stammen von anderen Autor:innen. Sofern wir die Erlaubnis dazu haben, findet ihr das Originalmaterial in unserer Sammlung vor. In anderen Fällen geben wir euch einen Link zur Quelle, so dass ihr z. B. einen Selbsttest gleich online durchführen könnt. Außerdem geben wir euch zu einigen Sinneinheiten weiterführende Lesetipps und Links. Die meisten der von uns zitierten Bücher sind in Uni-Bibliotheken vorhanden, viele auch als Online-Ressource.
Es versteht sich eigentlich von selbst, aber wir möchten es trotzdem einmal explizit sagen: Bitte verwendet das Material nur, soweit es euch guttut. Nicht alle fühlen sich mit den gleichen Übungen wohl. Manche Menschen verspüren bei einer Achtsamkeitstechnik, die bei anderen die pure Entspannung oder lebensverändernde Erkenntnisprozesse auslöst, überhaupt nichts. Je nach Vorerfahrung können auch unangenehme Assoziationen oder Erinnerungen bei bestimmten Übungen oder Visualisierungen auftauchen. Wir setzen an dieser Stelle allerdings bewusst keine ‚Triggerwarnung‘. Der Begriff Trigger stammt aus der Psychotraumatologie und wird verwendet, wenn ein äußerer Reiz (z. B. ein Geruch oder ein Geräusch) bei einer Patient:in mit posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) massive und unkontrollierbare Reaktionen wie Flashbacks auslöst. Die Bedeutung des Begriffs ist also recht spezifisch. Wir – und nicht nur wir
Wenn euer Störgefühl nicht zu stark wird, könnt ihr Irritation und inneren Widerstand nutzen, um euren eigenen Einstellungen, Blockaden und Glaubenssätzen auf die Spur zu kommen. Nicht selten sind es gerade unsere Abwehrreaktionen, die uns anzeigen, wo wir mal genauer hinschauen sollten, um einen Knoten zu lösen oder etwas dazuzulernen. Nur wenn ihr übermächtige Gefühle wie starke Angst/Panik oder intensive Trauer verspürt, solltet ihr eine Technik nicht ohne geschulte Begleitung anwenden.
Sollte eine Übung nicht sofort funktionieren, kann es sich lohnen, es später erneut zu versuchen. Wie bei allem braucht es auch bei der Selbstfürsorge Übung. Wenn ihr es z. B. nicht gewohnt seid, euch etwas bildlich vorzustellen oder in euren Körper hineinzuhorchen, benötigt ihr bei bestimmten Achtsamkeitsritualen oder Visualisierungen möglicherweise mehrere Versuche, bis sich die gewünschte Wahrnehmung einstellt.
Da die meisten von euch mit Mandant:innen arbeiten, noch ein weiterer Hinweis: Wir verwenden einige der Übungen auch in der Arbeit mit Klient:innen. Wenn ihr eine entsprechende Ausbildung gemacht und/oder ausreichend Erfahrung in der Beratung habt (z. B. eine therapeutische Ausbildung und/oder Berufserfahrung aus der Sozialen Arbeit), spricht nichts dagegen, das Material auch in der Arbeit mit Mandant:innen zu nutzen und etwa als Entlastungsintervention in einer emotional schwierigen Beratung zu verwenden.
Ein Wort zu unserer eigenen Positioniertheit und inklusiver Sprache: Wir sprechen beide aus einer weißen Perspektive, kennen also die Diskriminierung, die viele Ratsuchende und unsere Schwarzen Kolleg:innen und Kolleg:innen of Colour aufgrund ihrer Hautfarbe erleben, ausschließlich aus zweiter Hand. Auch viele der Autor:innen, die wir zitieren, sind nicht von rassistischer Diskriminierung betroffen. Wir hoffen darauf, dass sich unsere beschränkte Perspektive nicht auf die Verwendbarkeit der von uns vorgestellten Methoden überträgt, können es aber nicht ausschließen und sind dankbar für entsprechende Hinweise. Wir gendern unsere eigenen Texte mit dem Doppelpunkt. Alle Formen des Genderns im Deutschen erfordern eine gewisse Kreativität, etwa bei Singularpronomina. Wir nehmen die Herausforderung an! Wir verweisen aber auch auf Materialien, die keine geschlechterinklusive Sprache nutzen. Das betrifft u. a. Selbsttests, die, sofern sie das Geschlecht abfragen, manchmal nur eine binäre Auswahl anbieten. Wir sind uns außerdem bewusst, dass das Gendern den Text für Menschen schwieriger lesbar macht, die unter bestimmten Formen von Leseeinschränkungen leiden. Ein guter Kompromiss, der für alle Leser:innengruppen gleichermaßen gut funktioniert, ist uns leider bislang nicht untergekommen. Wenn ihr einen guten Vorschlag habt, teilt ihn uns gern mit!
Über Christina und Bian
Christina Ellinghaus und Bian Sukrow
Christina und Bian haben sich bei einer Train-the-Trainer-Ausbildung zur Antidiskrimierungsarbeit kennengelernt. Sie teilen viele Werte und Grundhaltungen und arbeiten immer wieder gern zusammen.
Christina Ellinghaus
Christina ist Psychologin und leitet seit 2016 die PSB Flucht, Psychosoziale Beratung für Geflüchtete der Diakonie Hamburg, die sie from scratch mit aufgebaut hat. Die PSB Flucht ist eines von bundesweit 47 psychosozialen Zentren für Geflüchtete und Folteropfer.
Kontakt zu Christina: Christina.Ellinghaus@gmail.com
Bian Sukrow
Bian engagiert sich seit gut 20 Jahren in inklusiven, gesellschafts- und diskriminierungskritischen Initiativen, zuerst ehrenamtlich, später auch hauptamtlich. Vor der Tätigkeit im Law-Clinic-Umfeld hat si:er ein geisteswissenschaftliches Studium und eine systemische Therapieausbildung absolviert und anschließend zu neurowissenschaftlichen, psychoanalytischen und autobiografischen Falldarstellungen promoviert. In der Law-Clinic-Welt bewegt Bian sich seit 2016. Si:er leitet die Law Clinic an der Bucerius Law School, engagiert sich im RLCD und hat die Abschiebehaftberatung Nord mitgegründet. Der regelmäßige Austausch mit Engagierten aus Law Clinics überall in Deutschland und international ist für Bian eine große Bereicherung und eine unerschöpfliche Lernerfahrung. Ehrenamtliche gut zu begleiten, die sich für Menschen in psychischen Belastungssituationen (u. a. Haft, Suizidalität, Marginalisierung/Diskriminierung) einsetzen, ist für Bian eine Herzensangelegenheit. Si:er schult (R)LC-Teams aus ganz Deutschland u. a. zu den Themen Mandant:innengesprächsführung, und kollegiale Beratung. Self-Care und bewusste ‚innere Arbeit‘ sind dabei wichtige Bestandteile.
Kontakt zu Bian: bian.sukrow@law-school.de