Bian Sukrow Self-Care-Box – Selbstfürsorge für Engagierte in (Refugee) Law Clinics und verwandten Initiativen Licensed under CC-BY-4.0

3. Burnout, sekundäre Traumatisierung und Co.

Bian Sukrow

Sekundäre, indirekte und tertiäre Traumatisierung, Burnout, Mitgefühlsmüdigkeit, emo­tio­nale Erschöpfung, chronischer Stress usw. Die Belastungsreaktionen, die wir entwickeln kön­nen (nicht müssen!), wenn uns die Arbeit zu nah geht oder wir unter den hohen Anfor­de­rungen in die Knie gehen, sind zahlreich.Oft werden in der Fachwelt Begrifflichkeiten noch diskutiert (z. B. die Abgrenzung zwischen sekundärer und indirekter Traumatisierung oder die Überlappung von Burnout, Stress und Mit­ge­fühlsmüdigkeit). Dazu mehr in den jeweiligen Kapiteln. Natürlich betreffen diese Reaktionen nicht nur Beratende, sondern Angehörige aller Berufe. Bei der Arbeit mit Menschen ist die Chance jedoch naturgemäß höher, immer wieder mit schlimmen Schicksalen konfrontiert zu sein, und sowohl in Beratungstätigkeiten als auch im juristischen Feld ist das Arbeitspensum oft hoch. Gleichzeitig (und vielleicht auch gerade deshalb) ziehen beide Tätigkeits­bereiche Menschen an, die leistungsfähig und leistungsbereit sind und viel von sich selbst erwarten. Wir sind stark für unsere Mandant:innen, und wir setzen uns mit allen Mitteln gegen Ungerechtigkeit ein! Das gilt noch einmal in besonderem Maße für all diejenigen von euch, die selbst ähnliche Marginali­sie­rungserfahrungen ma­chen wie die Ratsuchenden; wir kennen z. B. viele Be­ra­tenden mit eigener Migrationsgeschichte und/oder Beratende of Colour, die sich unermüdlich ein­setzen. Das Risiko, dass ihr in der Beratung auf schmerzhafte Weise mit eigenen Le­bens­themen konfrontiert werdet, ist gegeben.

Uns als Helfende:r einzugestehen, dass wir selbst an unsere Grenzen kommen und Unter­stüt­zung suchen sollten, fällt uns oft schwer. Das geht dir möglicher­weise auch so. Die Signale, die uns unser eigener Körper sendet, wenn es zu viel wird und wir an Be­lastungs­grenzen kommen, ignorieren manche von uns sehr lange. Doch je länger wir damit warten, etwas gegen unsere Überlastung zu tun, desto schwieriger wird es, zügig und nachhaltig wieder auf einen guten, gesunden Kurs zu kommen. Die gute Nachricht: Es gibt gute Selbsthilfe- und Behandlungs­möglich­keiten.Die Behandlung von schweren psychischen Erkrankungen nehmen wir hier bewusst aus. Auch die Methoden, die wir euch in unserer Self-Care-Box vorstellen, wirken prophylaktisch und helfen ggf. dabei, sich aus leichteren Belastungsreaktionen wieder heraus­zuarbeiten. Nicht immer ist Self-Care ausreichend.Falls du es schon mit Selbstfürsorgetechniken versucht hast und trotzdem in eine handfeste Überlastung gerutscht bist: Das passiert den Besten unter uns. Geh wohlwollend mit dir selbst um und klopfe dir auf die Schulter, denn du hast verstanden, was dein Körper und deine Psyche dir sagen möchten. Das ist ein sehr großer, wichtiger Schritt hinaus aus dem Tief! Es dauert aber manchmal, das richtige Angebot oder die passende An­sprechperson zu finden.

Wir möchten deshalb, dass du zumindest schon einmal von bestimmten psychischen Belas­tungsreaktionen gehört hast, die Beratende betreffen können, und weißt, wo du bei Bedarf erste weitere Informationen dazu findest. Betrachte das Folgende also gern als Ausgangs­punkt für deine Recherche und ggf. als Anlass, ein Unterstützungsangebot wahr­zu­nehmen, wenn du Belastungsanzeichen bei dir oder Menschen in deinem Umfeld feststellst. Wir richten uns in unserem Text in erster Linie an euch selbst, aber vielleicht nützen euch die folgenden Kurzbeschreibungen von Belastungsreaktionen auch, um anderen zu helfen. Wenn ihr in eurem Law-Clinic-Team oder unter euren Mandant:innen Symptome beobachtet, ist es gut, die Person beiseite zu nehmen und in einer ruhigen Minute anzusprechen, was ihr wahr­nehmt, und dass ihr euch Sorgen macht. Und vielleicht habt ihr ja sogar Lust, euch als Team oder Berater:innengruppe weiterzubilden und gemeinsam einen Kurs zu psychischen Pro­blemen und Krisen zu machen?Ich habe gute Erfahrungen mit dem MHFA-Kurs (Mental Health First Aid) gemacht: https://www.mhfa-ersthelfer.de/de/. Der Kurs vermittelt Grundwissen über psychische Erkrankungen, räumt mit einigen Vorur­teilen auf und, am wichtigsten, zeigt, wie wir auch als Lai:innen gut auf Krisen bei anderen reagieren können. Einen weiteren Hinweis mogele ich an Christina vorbei hier ein: Wir haben in der Abschiebehaftberatung auch Christina schon als Trainerin gebucht, um uns als Team über die Grundlagen der Psychotraumatologie bei Geflüchteten fortzubilden. Solche Fortbildungen vermitteln euch Sicherheit auch im Umgang mit belasteten Mandant:­innen. Für alle Beratende ist darüber hinaus die Reflexion von Machtstrukturen wichtig, speziell für weiße Beratende außerdem die Auseinandersetzung mit Rassismus.Eben Louw und Katja Schwabe bieten einen hervorragenden, mehrperspektivischen Einstieg: Eben Louw und Katja Schwabe: Rassismussensible Beratung und Therapie von geflüchteten Menschen: Handlungs- und Interventionsmöglichkeiten (Fluchtaspekte), Göttingen: V&R 2020. Gut vorbereitet zu sein und z. B. zu wissen, wie wir notfalls sogar auf schwerste Krisen (Stichwort Psychose oder Suizidalität) bei anderen gut reagieren, entlastet uns in Bera­tungs­situationen enorm und erleichtert es uns, uns auf die Klient:innen voll einzulassen. Wir lernen alle nie aus.

Ein wichtiger Hinweis: Manchmal gibt es körperliche Ursachen für Symptome, die wir eher psychischen Erkrankungen zuschreiben. Dauermüdigkeit oder, im Gegenteil, konstante Ner­vo­sität, sich zu nichts aufraffen können, Konzentrationstörungen; all das (und noch viel mehr) kann Gründe wie eine Schilddrüsenfehlfunktion, einen Vitamin- oder Eisenmangel haben. Und natürlich sind auch die Spätfolgen einer Covid-19-Erkrankung nicht zu unterschätzen! Es lohnt sich also, auch bei Symptomen, die du – wir geißeln uns ja gern mal selbst – vielleicht deiner feh­lenden Be­lastungstoleranz oder einer persönlichen Unzulänglichkeit zuschreiben würdest, deine:n Haus­ärzt:in zu konsultieren und dich durchchecken zu lassen. Es gibt Fälle, in denen ein Vitaminmangel ähnlich krasse Auswirkungen hat wie eine De­pres­sion oder eine begin­nende Demenz!

Falls du eine Verbeamtung z. B. als Richter:in anstrebst: Es ist für dich nicht nur aus Gründen der Selbstfürsorge wichtig, schnell auf Belastungs­er­scheinungen zu reagieren, früh Methoden zur Selbstfürsorge zu erlernen und es gar nicht dazu kommen zu lassen, dass sich etwa ein ausgewachsener Burnout oder eine schwe­re Depression entwickelt. Es gibt nämlich leider immer noch Berichte von Anwärter:innen für den öffentlichen Dienst, denen die Verbeamtung zumindest schwerer gemacht wird, wenn sie an einer schweren Erkrankung leiden.Sowohl psychische als auch physische Erkrankungen wer­den dabei berücksichtigt, allerdings vor allem solche, die chro­nisch oder progressiv sind. Das ist diskriminierend, aber zulässig. Bei akuten Krankheiten kann es vorkommen, dass erst einmal nur auf Probe verbeamtet wird. Viele scheuen deshalb den Gang zur Ärzt:in oder Thera­peut:in, wenn es ihnen schlecht geht.Ein Beispielbericht findet sich hier: Barbara Dribbusch: Angst vor Nachteilen: Jura- und Lehramtsstudent:innen machen in Krisen keine Psychotherapie, aus Sorge um die Verbeamtung. Ist das begründet?, in: taz, 17.12.2021, https://taz.de/Psychotherapie-und-Verbeamtung/!5819237/. Aber längst nicht jede therapeutische Behandlung schließt ein Beamten­ver­hältnis aus, und du gewinnst nichts, wenn eine eigentlich noch gut behandelbare Er­krankung sich verschlimmert oder chroni­fi­ziert. Mindestens eine Differenzialdiagnose soll­test du ein­holen; ein vertrauliches Gespräch mit eine:r Ärzt:in oder Fachberater:in, in dem du auch deine Bedenken in Bezug auf eine Ver­beamtung ansprichst, ist völlig unkritisch. Die Sach­lage ist in jedem Einzel­fall ver­schieden und die Bewertung hängt von vielen verschiedenen Kriterien ab, so dass du von den Erfahrungen einzelner Betroffener, die ihre Geschich­ten im Internet erzählen, nicht allzu viel für deine eige­ne Situation ableiten kannst.Hier ein recht ausgewogener Artikel zum Umgang mit psychischen Erkrankungen beim Wunsch nach einer Beamt:­innenlaufbahn: Beamten-Infoportal: Verbeamtung: Risikofaktor psychische Erkrankungen!, in: Beamten-Infoportal, 18.10.2020, https://beamten-infoportal.de/magazin/wissen/verbeamtung-risikofaktor-psychische-erkrankungen/. Lass dich also in jedem Fall bera­ten!

Wenn du magst, kannst du folgenden Selbsttest für eine erste Einschätzung nutzen, der Burnout, sekundäre Traumatisierung und Mitgefühlsmüdigkeit umfasst. Bitte denke bei allen Selbsttests daran, dass sie immer nur eine Momentaufnahme darstellen. Nimm Selbsttests also als ersten Ausgangspunkt für eine Selbstbeobachtung und als Anlass, dir über bestimmte Fragen einmal in Ruhe Gedanken zu machen, aber betrachte das Ergebnis nicht als unver­änderliches Urteil oder Diagnose):

Chronischer Stress und Burnout

Burnout? Das haben doch hochbezahlte Manager:innen, die mehr Zeit im Flieger ver­bringen als in ihrer unpersönlich eingerichteten Luxuswohnung, oder? Wir lesen tatsächlich in den Medien besonders häufig von Top-Führungskräften, die nach einer Burnout­-Diag­nose ihr Le­ben ändern und sich mit einem Bio-Bauernhof selbstverwirklichen, ein Medi­ta­tions­zentrum eröffnen oder mit Vorträgen über die lebensverändernden Erkenntnisse aus ihrer Krank­heits­phase durchs Land und die Talkshows ziehen. Natürlich haben sie alle ein Buch darüber ge­schrieben, das auf der Spiegel-Bestsellerliste steht.Wir wollen die Erfahrung von Führungskräften keinesfalls abwerten. Die Belastung von Burnout-Patient:innen aus dem Top-Management ist real, die Erlebnisse, die sie machen, sind existenziell, und aus ihrem Reflexions­prozess lässt sich viel lernen. Gleichzeitig verstellt ihre Überpräsenz in den Medien den Blick darauf, dass es wesentlich mehr Menschen gibt, die nicht in einer Vorstandsetage sitzen, sondern ihre Überlastung der täglichen Arbeit mit Angehörigen marginalisierter und/oder körperlich einge­schränkten Klient:innen verdanken. Burnout ist vielen als ‚Manager­krank­­heit‘ (meist nicht gegendert) bekannt, aber eigentlich wurde der Begriff ursprünglich ver­wendet, um Belastungszustände von Bewährungshelfenden und Pflegekräften zu beschrei­ben.An dieser Stelle verweisen wir ausnahmsweise auf einen Wikipedia-Artikel. Der zum Burnout ist nämlich ziemlich gut und ausführlich: https://de.wikipedia.org/wiki/Burn-out Ein Burn­out betrifft also besonders häufig Menschen, die mit Menschen arbeiten und Verant­wortung für andere übernehmen. Es liegt auf der Hand, dass auch ehrenamtliche Berater:­innen nicht vor einem Burnout gefeit sind – was auch immer darunter so ganz genau zu verstehen ist, denn Burnout ist einer dieser als umstritten bekannten Begriffe.Gert Kowa­rowski findet einen pragmatischen Umgang mit der Begriffsunklarheit: Er betrachtet er den Burnout schlicht als weithin bekannten und akzeptierten Anlass, sich Unterstützung zu suchen: „Das Konzept ‚Burnout‘ birgt eine große Chance, Menschen mit klinisch relevanten Störungsbildern stigmatisierungsfreie Hilfe zuteilwerden zu lassen. Menschen, die spüren, dass ihr alltägliches Mit-sich-und-der-Welt-Klarkommen nicht mehr funktioniert, betreten das Behandlungszimmer mit einem Auftrag an uns Behandelnde, der aus ihrer Sicht sehr klar ist: Ich habe Burnout und ich wünsche mir Hilfe dabei, aus diesem Zustand wieder herauszukommen.“ Gert Kowarowski: Individualisierte Burnout-Therapie (IBT). Ein multimodaler Behandlungs­leitfaden, Stutt­gart: Kohlhammer, 2017, S. 13. Ein Burnout steht meist am Ende einer langen Phase mit chronischem Stress. Und egal, wie wir das Kind nennen: Wenn du

  • dich ständig müde, erschöpft und unzureichend leistungsfähig fühlst,

  • Konzentrationsschwierigkeiten hast, die du so von dir nicht kennst,

  • über mehrere Wochen schlecht schläfst,

  • dich zu nichts aufraffen kannst und das Gefühl hast, deine Arbeit nicht effektiv genug erledigt zu bekommen,

  • deine Arbeit, dein Studium, die Clinic-Arbeit, dir nur noch als Last vorkommt und du dich nicht mehr für Inhalte interessierst,

  • das Gefühl hast, dass du dich innerlich immer stärker von anderen distanzierst und nichts an dich herankommt,

  • gereizt und unruhig bist und am liebsten alle Anforderungen von dir weisen würdest,

  • schlechter isst oder häufiger zu Nikotin, Alkohol oder anderen Substanzen greifst als früher,

  • oder sogar Angst vor dem nächsten Tag hast und schon darauf wartest, dass der Punkt kommt, an dem nichts mehr geht und du nicht mal mehr aufstehen kannst,

ist es Zeit, Hilfe zu suchen – auch schon bei einzelnen dieser Symptome, wenn sie über einen Zeitraum von mehreren Wochen oder gar Monaten anhalten. Am wichtigsten ist es, sich nicht zu verkriechen und dadurch noch tiefer in den Belastungszustand zu sinken.

Burnout und chronifizierter Stress betreffen oft genau die Menschen, die sich besonders für ihre Arbeit oder ihr Engagement einsetzen, die, die eben eigentlich für ihre Arbeit ‚brennen‘ und hohe Ansprüche an ihre eigene Leistung haben. Du bist also in guter Gesellschaft, es ist nicht ehrenrührig, unter Stress und Ausgebranntsein zu leiden. Sprich mit deinen Vertrau­ens­per­sonen darüber, wie es dir geht. Es hilft auch, sich gut zu informieren, und zwar nicht nur, um ein bes­se­res Bild davon zu haben, welche Möglichkeiten zur Behandlung und Selbsthilfe es gibt: Bereits die Lektüre von guter Ratgeberliteratur und die Auseinandersetzung mit dem eigenen Zustand wird von vielen als entlastend erlebt. Mir selbst gegenüber zuzu­ge­ben, dass ich in einen Belas­tungs­zustand hineingeraten bin, ist schon der erste Schritt hinaus aus dem Tief.

Aber das beste Selbstfürsorgeprogramm funktioniert natürlich nicht, wenn ich eigentlich eine nicht diagnostizierte Schild­drü­sen­unter­funktion habe. Einige Symptome von Burnout kön­­nen auch bei depres­siven Erkrankungen auftreten und, wir haben es oben erwähnt, bei körper­lichen Problemen wie Vitamin­mangel­erscheinungen. Es ist deshalb wichtig abzuklären, was genau die Ursache für die Symptome ist. Wenn du also zu dem Schluss kommst, dass es sich bei deinem Zu­stand um eine Stressreaktion handeln könnte, solltest du mit die­sem Verdacht ein:e Ärztin konsul­tieren und die Alternativen ausschließen lassen. Sind alle an­de­ren Diag­no­sen ausgeräumt, wird eine gute Ärzt:in dann auch mit dir besprechen, wie du psychischer Über­lastung begegnen kannst.

Medientipps zum Thema Burnout und chronischer Stress:

  • Guter, konziser, aber auch recht nüchterner Lexikonartikel zum Burnout-Syndrom: Matthias Burisch: Burnout-Syndrom, in: socialnet, 2020, https://www.socialnet.de/lexikon/Burnout-Syndrom.

  • Auch für Lai:innen gut lesbares Buch über Burnout mit vielen Selbsttests, Übungen und Online-Materialien zur Burnout-Prophylaxe und Selbsthilfe: Gert Kowarowski: Individualisierte Burnout-Therapie (IBT). Ein multimodaler Behandlungs­leitfaden, Stutt­­­gart: Kohlhammer, 2017.

  • Moodgym: Kostenloses, wissenschaftlich fundiertes Online-Präventionsprogramm, das eigentlich zur Prophylaxe von Depressionen entwickelt wurde, aber auch bei an­deren Belastungserscheinungen hilfreich ist: https://moodgym.de/

  • Kurzer Online-Selbsttest auf Grundlage des Kopenhagener Burnout-Inventars: https://www.therapie.de/psyche/info/test/weitere/burnout/

Sekundäre Traumatisierung

Sekundäre Traumatisierung, indirekte Traumatisierung, stellvertretende Traumatisierung, Co-Traumatisierung, vica­rious trauma – all diese Begriffe werden verwendet, um auszu­drücken, dass Menschen, die mit traumatisierten Klient:innen zu tun haben, selbst Symptome eines psychischen Traumas entwickeln können, obwohl sie das traumatische Ereignis gar nicht er­lebt haben.Es gibt auch Literatur, in der die Erlebnisse, die Helfer:innen beispielsweise an einer Unfallstelle machen, als sekundäre Traumatisierung beschreiben (vgl. z. B. Johannes Lewek: Der Körper vergisst nicht – Das Phänomen der Sekundärtraumatisierung in der Notfallseelsorge, in: Sekundäre Traumatisierung als Berufsrisiko? Konfrontation mit schweren Schicksalen anderer Menschen, Magdeburg: Landesbüro der Friedrich-Ebert-Stiftung Sachsen-Anhalt, S. 25-37. Das ‚primäre‘ Trauma (hier gibt es kurioserweise kaum begriffliche Varianten) liegt dann, so die Theorie, bei unsere:r Klient:in oder jemandem, di:er uns nahesteht. Wir erfa­hren von den schreck­lichen Erlebnissen dieser Person, versetzen uns in ihre Lage, fühlen mit, stellen uns vielleicht auch die Lage ihrer Familie vor, etwa in einem Krieg. Und nicht immer wer­den wir die Geschichte danach emotional wieder los. Ein fremdes Schicksal kann uns zu nah kom­men;

  • Bilder, Assoziationen, akustische Eindrücke, Gerüche oder Körperempfindungen, die bei uns während der Erzählung oder bei der Akteneinsicht ent­standen sind, tauchen ungewollt immer wieder auf, drängen sich förmlich auf,

  • wir fühlen uns plötzlich selbst er­schüt­tert und unsicher, werden vielleicht schreckhaft,

  • wir sind motorisch unruhig, überreizt, nervös,

  • eventuell kommen alte Gefühle oder Erinnerungen wieder hoch, die wir verdrängt oder für durchgearbeitet gehalten haben,

  • wir ziehen uns zurück, meiden bestimmte Situationen oder schränken unsere Kon­tak­te ein,

  • wir fühlen uns hoffnungs­los, schuldig, unzulänglich oder überfordert,

  • es stellen sich möglicherweise Gefühle wie Ekel, Angst oder Wut ein

  • und/oder wir schlafen schlecht, verlieren vielleicht den Appetit, haben häufig Kopf­schmerzen.

Zwar beschreiben Betroffene die sekundäre Traumatisierung selten als ebenso intensiv wie eine primäre, sie erfahren die Symptome dennoch als sehr belastend. Aber, du ahnst es, auch das Konzept der sekundären Trau­matisierung ist umstritten.Das trifft auch schon auf den Traumabegriff selbst zu. Wie weit oder eng Fachleute ihn fassen, variiert stark. In der Literatur finden sich sowohl enge Traumadefinitionen, die nur Auslöser von schweren Traumafolge­störungen wie PTBS als traumatische Erfahrung werten, als auch weite Traumabegriffe, die alle negativen Erlebnisse einschließen, mit deren Verarbeitung die betroffene Person sich schwertut. Ist eine indirekte Traumatisie­rung tat­säch­lich das gleiche wie eine Co-Trauma­tisierung oder ein sekundäres Trauma? Und noch grundsätzlicher: Gibt es das Phänomen über­haupt? Also färbt wirklich das Trauma un­sere:r Klient:in auf uns ab oder wird durch die Geschichte de:r Klient:in etwas in uns wach­gerufen, das wir vorher schon in uns getragen haben? Ist also die sekundäre Trauma­ti­sie­rung vielleicht eher eine Re-Trauma­tisie­rung oder eine Reaktion auf eine andere indivi­duelle Vor­belastung und gar kein eigenes Störungsbild? Studien dazu kommen zu unter­schied­lichen Ergeb­nissen.Vgl. Marion Sonnenmoser: Sekundäre Traumatisierung: Mythos oder Realität?, in: Ärzteblatt, PP 9, 3/2010, S. 117, https://www.aerzteblatt.de/archiv/68022/Sekundaere-Traumatisierung-Mythos-oder-Realitaet. Im Folgenden zitiert als: Sonnmoser (2010). Ich tendiere dazu, das Konzept des sekundären Traumas genauso pragmatisch zu ver­­wenden wie Gerd Kowarowski das Konzept Burnout (s. o., Fußnote 23). Folgendes können wir nämlich als gesichert betrachten: Menschen in helfen­den, beratenden Berufen entwickeln unter be­stimmten Voraussetzungen Symptome, die denen einer Traumatisie­rung ähnlich sind; also hat das Konzept eine Berechtigung, auch wenn die Ursachen und Wirk­mechanismen noch nicht geklärt sind.

Was nach derzeitiger Studienlage nicht zutrifft ist, dass die sekundäre Traumatisierung nur Personen ereilt, die mit Menschen mit Traumafolgestörungen arbeiten; es betrifft sie noch nicht einmal häufiger oder stärker.Eine handwerklich sehr gut gemachte australisch-neuseeländische Studie kommt zu einem – auch für die Forscher:innen – überraschenden Ergebnis: „Exposure to patients’ traumatic material did not affect STS, VT or burnout, contradicting the theory of the originators of STS and VT. Rather, it was found that work-related stressors best predicted therapist distress.“ Grant Devilly, Renee Wright, Tracey Varker: Vicarious Trauma, Secondary Traumatic Stress or Simply Burnout? Effect of Trauma Therapy on Mental Health Professionals, in: Australian and New Zealand Journal of Psychiatry, 2009, Bd. 43, Nr. 4, https://doi.org/10.1080/00048670902721079, S. 373-385, hier S. 373. Ob Therapeut:innen, die eigene Margi­na­lisie­rungs- oder Traumatisierungserfahrungen gemacht haben, anders reagieren als Menschen ohne solche Erfah­rungen, ist leider nicht separat erfasst. Es stimmt also im Umkehrschluss auch nicht, dass Bera­tende, die ausschließlich mit nichttraumatisierten Klient:innen arbeiten, vor sekundärer Trau­ma­tisierung gefeit sind. Vielmehr scheinen es die allgemeinen Belastungen und Arbeits­um­stände bei der Arbeit im sozialen, beraterischen und therapeutischen Bereich zu sein, die eine Prognose zulassen, ob jemand ein höheres Risiko hat, eine sekundäre Traumatisierung er­leiden.Auch das juristische Feld scheint, zumindest in den USA, besonders geeignete Bedingungen für eine sekundäre Traumatisierung zu schaffen. In einer Studie von 2003 gaben 63 % (!) der befragten 105 Richter:innen an, mindestens unter einem Symptom sekundärer Traumatisierung zu leiden. Vgl. Peter Jaffe et. al.: Vicarious Trauma in Judges: The Personal Challenge of Dispensing Justice, in: Juvenile Family Court Journal, 2003, Bd. 54, Nr. 4, https://doi.org/10.1111/j.1755-6988.2003.tb00083.x, S. 1-9. Für uns im Law-Clinic-Kontext wichtig: Studien legen nahe, dass Berufsan­fänger:­in­nen häufiger sekundäre Traumatisierungen erleiden. Marion Sonnmoser stellt für die Berufs­grup­pe der Therapeut:innen fest, dass Berufsträger:innen

mit wenig Berufserfahrung anfällig sind. Dies bestätigt eine Studie, die an der University of Albany/USA durchgeführt wurde. Sie zeigte, dass Berufs­erfahrung, berufliches Selbstvertrauen, Zufriedenheit mit dem Beruf und das Gefühl, eine sinnvolle Arbeit zu verrichten, Traumatherapeuten vor Belas­tungs­reaktionen schützen.Sonnmoser (2010).

Was leiten wir nun davon für uns ab? Es gibt unter Menschen, die mit Menschen arbeiten, zuweilen traumaähnliche Symptome bei Belastungen. Die Symptome sind real und messbar, treten aber nicht (nur) in dem Zusammenhang auf, in dem sie ursächlich verortet wurden. Wir sind auch als Berater:innen in Clinics, als Anwält:innen oder Sozialarbeiter:innen nicht davor gefeit, egal, ob wir mit traumatisierten Mandant:innen arbeiten – was in der RLC-Arbeit ja nicht selten vorkommt – oder mit anderen Mandant:innengruppen. Die allgemeinen Belas­tungen bei der Beratungsarbeit und unsere persönliche Vorgeschichte haben einen größeren Einfluss darauf, ob wir auf die Schicksale von Mandant:innen mit sekundärer Traumatisierung reagieren, als die Frage, ob die Mandant:­innen selbst traumatisiert sind. Berufsanfänger:­innen, zu denen die meisten Clinic-Berater:innen zählen, haben ein erhöhtes Risiko. Erfahre­nere Kräfte, so lässt sich die oben zitierte Studie wohl interpretieren, haben es gelernt, besser mit den Belastungen umzugehen oder ihre Arbeitsumstände so zu gestalten, dass sie sie als weniger belastend empfinden (oder sie verlassen das Berufsfeld und fallen so aus der Statis­tik).

Es lohnt sich also für uns alle, als Prophylaxe gegen sekundäre Trauma­tisierungen die eigene Arbeitsweise und die eige­nen Arbeitsumstände einmal genauer in den Blick zu nehmen – erst recht, wenn ich beab­sichtige, langfristig in einem beratenden Beruf (Anwält:in? Migra­tions­berater:in?) tätig zu sein. Weiß ich, was mir nach einer schwierigen Beratung, in der mich das Schick­sal de:r Man­dant:in sehr bewegt hat, guttut? Habe ich ein Umfeld, in dem ich mich über meine Erlebnisse austauschen kann, ohne Schweigepflichten zu verletzen? Kann ich ein Man­dat ohne Gesichtsverlust und ohne ne­gative Folgen für di:er Klient:in abgeben, wenn ich mer­ke, dass die spezielle Fall­konstel­lation für mich schwer auszuhalten ist oder ich fachlich nicht die richtige Ansprechperson bin? Habe ich gelernt, mit einem klaren Rollen­ver­ständnis in die Beratung zu gehen und mich, wenn ich nicht weiterhelfen kann, so von Klient:­innen abzu­grenzen, dass ich kein schlechtes Ge­wissen ihnen gegenüber habe?Siehe dazu auch die Abschnitte Professionelle Nähe oder Distanz? und Kein Mitleid.

Und? Wie beantwortest du diese Fragen für dich?

Unterstützende Übungen findest du in den späteren Kapiteln. Hier außerdem ein paar

Medientipps zum Thema Trauma und sekundäre Traumatisierung:

  • Gut lesbares Fachbuch mit allen wichtigen Grundlagen zur Psychotraumatologie. Enthält auch ein Kapitel zum sekundären Trauma: Thorsten Heedt: Psycho­trauma­tologie: Traumafolgestörungen und ihre Behandlung, Stuttgart: Schattauer, 2017.

  • Wunderbares Praxisbuch für den Umgang mit psychischen Belastungen und Traumata in der Arbeit mit Menschen mit Fluchtgeschichte. Besonders hilfreich: Die Autor:­innen, von denen eine selbst eine Fluchtgeschichte hat, legen in den zahlreichen Fallbeschreibungen ihre eigenen Unsicherheiten, Selbstzweifel und Vorurteile bei den Begegnungen mit Klient:innen schonungslos offen und gehen auch auf Grenzen und persönliche Ressourcen ein: Luise Reddemann et. al.: Trauma ist nicht alles. Ein Mut­mach-Buch für die Arbeit mit Geflüchteten, Stuttgart: Klett-Cotta, 2019.

  • Website der Psychologin Judith Daniels mit vielen Infos und Materialien zur sekun­dären Traumatisierung, darunter auch ein Fragebogen und Folien zur Prophylaxe: https://sekundaertraumatisierung.de/

Mitgefühlsmüdigkeit/compassion fatigue

Mitgefühl, so hören und lesen wir allenthalben, ist zentral bei der Arbeit mit Menschen.Im Abschnitt Kein Mitleid gehe ich noch genauer darauf ein, wie die Unterscheidung zwischen Mitgefühl und Mitleid bei der Selbstfürsorge helfen kann. Aber was, wenn mein Vorrat an Mitgefühl aufgebraucht ist? Die so genannte Mitgefühlsmüdigkeit oder compassion fatigue ist ein Phänomen, das in Deutschland erst seit wenigen Jahren diskutiert wird. Sie ist im Grunde das Gegenstück zur sekundären Traumatisierung:Auch hier haben wir ein Begriffsproblem: Mitgefühlsmüdigkeit oder compassion fatigue wird oft gleichbe­deu­tend mit sekundärem/indirektem Trauma verwendet, vor allem im anglo-amerikanischen Raum. Dadurch nimmt mensch sich aber eine sinnvolle sprachliche Differenzierungsmöglichkeit. Es ist nicht auszuschließen, dass Mitgefühlsmüdigkeit aus einer sekundären Traumatisierung hervorgehen kann oder, je nach Konstellation, auch in eine sekundäre Traumatisierung mündet, dennoch ist beides nicht deckungsgleich. Die Berichte von Betrof­fenen zeigen z.  B., dass sich die Mitgefühlsmüdigkeit auch ohne sekundäre Traumatisierung in den Beratungs­all­tag einschleichen kann. Ein sekundäres Trauma wird oft von einer spezifischen Geschichte verursacht oder durch ein für die beratende Person vorbelastetes Beratungsthema ausgelöst, Mitgefühlsfatigue speist sich eher aus einer kumulierten emotionalen Überlastung. Von der Tendenz her richtet sich bei der sekundären Trauma­tisierung auch keine Ungeduld, Ablehnung oder Desinteresse gegen di:er Klient:in. Vgl. dazu Angelika Rohwetter: Wege aus der Mitgefühlsmüdigkeit. Erschöpfung vorbeugen in Psychotherapie und Beratung, Weinheim: Beltz, 2019, S. 9 und S. 27 ff. Ein Zu-Wenig an Mitschwingen mit den Klient:innen, ein Abstumpfen gegenüber ihren Geschichten und Schick­salen. Mitgefühlsmüdigkeit betrifft vorwiegend Beratende, die schon lange tätig sind. Viele von euch werden im Verlauf der Law-Clinic-Arbeit nicht auf so hohe Fallzahlen kom­men, dass sie eine Mit­gefühlsmüdigkeit entwickeln, einzelne aber vielleicht schon. Und viel­leicht ereilt sie dich irgendwann, wenn du mitten in der Berufstätigkeit stehst.

Angelika Rohwetter, die eins der wenigen Bücher auf dem deutschen Markt über das Phä­no­men geschrieben hat, beschreibt die Mitgefühlsmüdigkeit wie folgt:

Mitgefühlsmüdigkeit ist das Erlöschen des Antriebs zu helfen, zu unterstüt­zen oder gar zu lindern. Wir können das Leiden unserer Klientel nicht mehr nachfühlen, sondern beginnen, es innerlich abzuwerten im Sinne von: „So schlimm ist es doch gar nicht, guck doch mal, wie gut du es hast“ oder auch streng und hart: „Das ist Bequemlichkeit, sie müsste einfach nur ...“ Gefühle wie Ungeduld, Langeweile, Stress und Überforderung werden spürbar.Ebenda, S. 22.

Mitgefühlsmüdigkeit macht uns nicht nur ungeduldiger unserer Klientel gegenüber, es schwächt auch – physisch wie psychisch – die Abwehrkräfte. Wir haben das Gefühl, nicht mehr mit dem Widerstand, der (scheinbaren oder wirklichen) Sinnlosigkeit, der Anforderungshaltung umgehen zu kön­nen. Wir sind gleichzeitig über uns selbst und über die Klientin verärgert, wir schämen uns für unsere Ungeduld und entwerten uns selbst. Unser Ver­trau­en darin, dass wir etwas bewirken können, schwindet.Ebenda, S. 44.

Wenn du also über einen längeren Zeitraum feststellst, dass du

  • dich nicht mehr wirklich für das interessierst, was deine Klient:innen erzählen, du ständig abschweifst bei den Beratungen und nur noch ‚Dienst nach Vorschrift‘ machst,

  • dich immer häufiger Widerwillen, Abwertung, Ungeduld, Häme oder Zynismus bei den Beratungen begleiten oder du, im Gegenteil, emotional kalt und gleichgültig bist,

  • kritische Fragen von Klient:innen oder ihr Wunsch nach Selbstbestimmung dir nicht mehr als positives Zeichen von Empowerment, sondern als Angriff auf deine Kompe­tenz vorkommt und Wünsche von Klient:innen, denen du sonst gern nachgekommen bist, dir plötzlich überzogen oder anmaßend erscheinen,

  • du beginnst, auch andere Belastungsreaktionen zu entwickeln wie Müdigkeit, Kon­zentrationsstörungen, depressive Verstimmungen, Antriebslosigkeit o. ä.,

könnte es sein, dass du mitgefühlsmüde geworden wirst.

Aber wann und warum passiert das? Natürlich kann allein die häufige Wiederholung von Mustern und Konstellationen bei unseren Klient:innen uns irgendwann langweilen. Das ist manchmal ein vorübergehender Zustand, manchmal ist es aber auch einfach an der Zeit, sich umzuorien­tieren und sich ein neues Betätigungsfeld zu suchen. Wenn wir dann Desinteresse oder Ungeduld entwickeln, kann das ein freundlicher, aber schlecht verpackter Hinweis un­seres Unterbewusstseins sein, dass ein Tape­ten­wechsel uns guttun würde.Das muss nicht immer gleich ein völlig anderes Feld sein; es kann schon reichen, das eigene Bera­tungs­spektrum zu erweitern (vielleicht ein neues Rechtsgebiet oder Lust auf mehr Orgaarbeit?). Weil der moralische Anspruch an das Ehrenamt groß ist und die Arbeit ohnehin auf zu wenigen Schultern liegt, fällt es Ehrenamtlichen oft schwer, der Gruppe gegenüber offenzulegen, dass sie in ihrem Engagement etwas verändern möch­ten. Es passiert dann immer wieder, dass Ehrenamtliche sich ohne Erklärung oder An­kündigung zurück­ziehen. Dabei profitiert niemand, wenn Men­schen sich durch ihr Ehrenamt quälen oder gar krank werden; ein schlechtes Gewissen ist also gar nicht notwendig. Wenn wir lernen, auf unsere Bedürfnisse zu achten, uns erlauben, sie zu äußern, und das zugleich auch anderen zugestehen, ist allen geholfen. Schön ist es, wenn Ehrenamtliche dann das Team als safe space für einen offenen Austausch wahr­nehmen und gemein­sam mit anderen ausloten kön­nen, ob und in welcher Form eine Möglichkeit zur Weiterentwicklung oder Veränderung innerhalb der Initiative besteht. Manchmal ist es dann doch Zeit für einen Abschied, mit dem nach einem offenen Gespräch aber meistens alle Be­teiligten im Reinen sind. Und wenn sich eine neue Aufgabe findet, an der di:er Ehrenamtliche Freude hat: umso besser! Oft ist es aber eher so, dass wir uns zuvor stark mit unseren Klient:innen identi­fiziert haben, uns über einen längeren Zeitraum überfordert haben, ohne Aussicht auf Besserung zu viele Ratsuchende mit zu knappen Ressourcen begleiten mussten und/oder unsere Grenzen nicht klar genug ge­zogen haben.Und ganz ehrlich? Ich kenne einige eigentlich sehr engagierte und erfahrene Anwält:innen, Richter:innen, The­ra­peut:innen und Sozialberater:innen, bei denen ich compassion fatigue vermute. Auch Mitgefühlsmüdigkeit kann eben nur bei Menschen eintreten, die vorher auch Mitgefühl hatten! Wir wollen doch so gern etwas Positives bewirken! Erleben wir dann unsere Arbeit als Kampf gegen Windmühlen, kommen die Ratsu­chenden unserem Einsatz zum Trotz nicht vom Fleck oder verhalten sie sich vielleicht sogar un­kooperativZumindest aus unserer Sicht unkooperativ. Manchmal tarnt sich nämlich ein Helfer:innensyndrom oder ver­letzte Eitelkeit hinter unserer Wertung, ein:e Ratsuchende:r sei nicht willig mitzuwirken. Nicht selten sperren sich Klient:innen nämlich gegen die Zusam­menarbeit, weil wir ihnen ihre Entscheidungen abzunehmen oder uns auf andere Weise ihre Angelegenheit anzueignen versuchen. , reagieren wir mit Frust.

Affecting positive change in society, a mission so vital to those passionate about the value of caring for others, is perceived as elusive, if not impossible. This painful reality, coupled with first-hand knowledge of the flagrant disregard for the safety and wellbeing of the feeble and frail, takes its toll on everyone from full time employees to part time volunteers.Patricia Smith: What is compassion fatigue?, in: Compassion Fatigue Awareness Project, 2022, http://compassionfatigue.org.

Wenn uns das häufiger geschieht, schaltet unsere Psy­che irgendwann auf „Schongang“, damit „die zum Überleben notwendige Energie erhalten bleibt“.Nicolas Hoffmann und Birgit Hofmann: Selbstfürsorge für Therapeuten und Berater – Grundlagen und Anwendung, 3. Aufl., Weinheim: Beltz, 2020, S. 21. Der Effekt kann auch auftreten, wenn wir über einen längeren Zeitraum mit Leid konfrontiert sind. Wenn wir immer wieder schlimme Ge­schichten hören und gleichzeitig dazu neigen, sehr stark, vielleicht zu stark, mit den Betroffenen mitzu­schwingen, gerät unser System in Stress. Wir können, um dem Ganzen etwas Posi­tives abzugewinnen, also auch als wirkungsvolle Strategie verstehen, uns vor tie­feren, dauerhaften Ver­letzungen zu bewahren;Um Missverständnisse zu vermeiden: Nur weil die Strategie als Notfallmaßnahme funktioniert und uns viel­leicht sogar für eine Zeit vor Schlimmerem bewahrt, heißt das nicht, dass wir die Ursachen ignorieren sollten. die „eigene Emotionalität verschließt sich, schützt sich vor diesem fort­gesetzten, erzwunge­nen Mitfühlen.“Dima Zito und Ernest Martin: Selbstfürsorge und Schutz vor eigenen Belastungen für Soziale Berufe, Weinheim: 2021, Beltz, S. 27. Wir stumpfen ab. Auch eine mediale Überflutung mit Darstellungen von Miss­ständen lässt uns emotional ermüden. Wir gewöhnen uns daran, das Leid der Welt zu sehen.Vgl. z. B. Maximilian Schober und Niels Brüggen: Kein Bock (mehr) auf das Thema Flucht!? Im Rahmen des Projektes RISE – Plattform für Jugendkultur, Medienbildung und Demokratie, 2020, https://rise-jugendkultur.de/artikel/kein-bock-mehr-auf-das-thema-flucht/.

Die beste Strategie gegen die Mitgefühlsmüdigkeit ist ein inneres Wachmacherprogramm: Achtsamkeit, Reflexion und Selbstfürsorge! Grenzen zu ziehen und dabei gleichzeitig die Grenzen anderer zu achten, ist nicht immer einfach, aber es ist lernbar. Auch unsere Erwar­tung an unser Engagement und uns selbst können wir prüfen. Wir werden dir auch dazu Übungen und stärkende Bilder mitgeben. Und es kann sinnvoll sein, dir über Supervision, kollegiale Beratung oder den Austausch mit Vertrauenspersonen Resonanz zu suchen. Zu hören, dass auch andere nicht immer mit dem gleichen Maß an Mitgefühl in die Beratungen gehen und wie sie damit umgehen, kann dir helfen einzuschätzen, ob deine Distanz zu den Ratsuchenden noch normal und gesund ist, oder schon als Reaktion auf eine Überlastung oder Überflutung mit Leid zu werten ist.

Medientipps zum Thema Mitgefühlsmüdigkeit:

  • Das bereits zitierte Buch von Angelika Rohwetter ist eins der wenigen Bücher zur Mitgefühlsmüdigkeit auf dem deutschen Markt. Schön, dass es auch noch gut zu lesen ist: Angelika Roh­wetter: Wege aus der Mitgefühlsmüdigkeit. Erschöpfung vorbeugen in Psycho­thera­pie und Beratung, Weinheim: Beltz, 2019.

  • TEDx Talk über compassion fatigue von Patricia Smith, der allerdings die schleichende, nicht traumaähnliche und wenig spektakuläre Distanz zu Klient:innen, die sich wäh­rend eines langen Berater:innenlebens einstellen kann, nicht thematisiert: https://youtu.be/7keppA8XRas.

  • PodCast-Folge Compassion Fatigue – Wenn Mitleid müde macht von Franca Cerutti. Cerutti liefert viele gute Hinweise für die Prophylaxe. Auch hier werden vor allem die schwerwiegenderen Erscheinungsformen von compassion fatigue thematisiert: https://psychologie-to-go.podigee.io/s2e36-compassion-fatigue-wenn-mitleid-mude-macht.Franca Cerutti: Compassion Fatigue – Wenn Mitleid müde macht, in: Psychologie to go, 19.09.2021, https://psychologie-to-go.podigee.io/s2e36-compassion-fatigue-wenn-mitleid-mude-macht