Die §§ 277 bis 279 StGB sind im Jahr 2021 im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie und der im Zuge dessen auftretenden Impfausweisfälschungen grundlegend reformiert worden. Ziel war es, den tatbestandlichen Anwendungsbereich zu erweitern, um auf dieses Kriminalitätsphänomen zu reagieren und das Verhältnis zur Urkundenfälschung (§ 267 StGB) deutlich herauszustellen. Diese Thematik hat auch eine gewisse Prüfungsrelevanz. Es wurde berichtet, dass sogar in schriftlichen Examensprüfungen im Winter 2022 die Strafbarkeit von Impfausweisfälschungen nach altem und neuem Recht geprüft werden musste (unter Abdruck der §§ 277 bis 279 StGB aF). Zudem kann die Thematik auch Eingang in mündliche Prüfungen finden, insbesondere vor dem Hintergrund der noch jungen Rspr. des BGH (s. sogleich unter „Weiterführende Wissen“). Auf die ebenfalls in der Corona-Pandemie relevant gewordene Thematik falscher Maskenatteste und unrichtiger Impfunfähigkeitsbescheinigungen sei an dieser Stelle nur hingewiesen.
Weiterführendes Wissen zur Historie der Norm und ihrem Verhältnis zu § 267 StGB
Die §§ 277 bis 279 StGB haben durch die Corona-Pandemie und v. a. durch das zu dieser Zeit aufgekommene Kriminalitätsphänomen der Impfausweisfälschung eine gewisse Bedeutung für juristische Prüfungsarbeiten bekommen. Solche Fälle werfen schwierige Fragen des Konkurrenzverhältnisses zu § 267 StGB und in diesem Zusammenhang auch zum Begriff der Urkunde und des Gesundheitszeugnisses auf. Studierenden ist zu raten, sich anhand der nachfolgenden Darstellung zumindest einen Überblick über die Regelungen zu verschaffen und die Problematik der Konkurrenzverhältnisse über einen Vergleich mit der alten Rechtslage einzuüben:
Die §§ 277 bis 279 StGB existieren seit Einführung des RStGB im Jahr 1871. Eine erste kleine Änderung erfuhren die Vorschriften im Jahr 1975 mit der Aufnahme der Geldstrafe als mögliche Sanktion. Erst 46 Jahre später kam es zu einer weiteren Reform. Am 24. November 2021 traten vollständig überarbeitete §§ 277 bis 279 StGB in Kraft. Grund für das gesetzgeberische Tätigwerden war das während der Corona-Pandemie aufgekommene Phänomen der sog. Impfausweisfälschung. Dabei hatten Personen sich Blanko-Impfausweise verschafft, in diese tatsächlich nicht durchgeführte Impfungen eingetragen und sie mit falschen Unterschriften von Ärzten oder Stempeln von Impfzentren versehen. Damit ermöglichten die Personen es sich, die damals geltenden Corona-Regeln zu umgehen, die für bestimmte Tätigkeiten den Nachweis des Impfstatus nötig machten.
Auf den ersten Blick liegt in diesem Verhalten eine Urkundenfälschung gem. § 267 Abs. 1 Var. 1 StGB, es wird eine unechte Urkunde hergestellt (→ § 18 Rn. 45 ff.). Demgegenüber lagen die Voraussetzungen des § 277 StGB aF in aller Regel nicht vor, da dieser den Gebrauch des Gesundheitszeugnisses (darum handelt es sich bei einem Impfausweis
Diese Unstimmigkeiten sind auch in der Rspr. nicht unbemerkt geblieben. Im Oktober 2021 nahm das LG Osnabrück eine umfassende Sperrwirkung der §§ 277 bis 279 StGB aF ggü. § 267 StGB und damit Straflosigkeit in einem Fall der Impfausweisfälschung an.
Schutzgut
Der § 277 StGB als Jedermanns-Delikt schützt das Allgemeininteresse an der Integrität und fachlichen Kompentenz von Ausstellern von Gesundheitszeugnissen.
Objektiver Tatbestand
Der objektive Tatbestand setzt voraus, dass jemand unter der ihm nicht zustehenden Bezeichnung als Arzt oder als eine andere approbierte Medizinalperson ein Zeugnis über seinen oder eines anderen Gesundheitszustand ausstellt.
Tatobjekte: Gesundheitszeugnis
Unter Gesundheitszeugnis sind schriftliche oder elektronische
Beispiele
Tathandlung: Ausstellen unter unwahrer Bezeichnung als Medizinalperson
Nach der Reform des Tatbestands im Jahr 2021 (s. → Rn. 2) entfaltet dieser keinen Echtheitsschutz, sondern nur noch Wahrheitsschutz. Insofern verwirklicht das Delikt, wer ein Gesundheitszeugnis ausstellt, dabei die Bezeichnung als Arzt oder eine andere approbierte Medizinalperson verwendet und damit eine sonst idR straflose (und insbesondere nicht von § 267 StGB erfasste, → § 18 Rn. 49) schriftliche Lüge verübt.
Subjektiver Tatbestand
Der Täter muss vorsätzlich handeln; dolus eventualis genügt. Zusätzlich muss er „zur Täuschung im Rechtsverkehr“ handeln. Mit dieser seit der Reform neuen Formulierung ist ein Gleichlauf im Wortlaut zu § 267 Abs. 1 StGB geschaffen worden. Dort ist seit jeher umstritten, welche der drei Vorsatzformen zur Erfüllung des subjektiven Tatbestands vorliegen muss (→ § 18 Rn. 70 ff.).
Rechtswidrigkeit und Schuld
Es gelten die allgemeinen Regeln.
Täterschaft und Teilnahme
Es gelten die allgemeinen Regeln.
Versuch und Vollendung
Der Versuch des Vergehens (§ 12 Abs. 2 StGB) ist mangels ausdrücklicher gesetzlicher Bestimmung (§ 23 Abs. 1 StGB) nicht strafbar. Die Tat ist mit Fertigstellung des Zeugnisses vollendet.
Strafzumessung
In Abs. 2 S. 1 ist eine Strafdrohung für besonders schwere Fälle mit erhöhter Mindeststrafe von drei Monaten vorgesehen. In Abs. 2 S. 2 ist ein Regelbeispiel normiert, das in Reaktion auf kriminelle Umtriebe während der Corona-Pandemie geschaffen worden ist.
Konkurrenzen
In Abs. 1 aE wird formelle Subsidiarität bzgl. anderer Vorschriften des 23. Abschnitts angeordnet („wenn die Tat nicht in anderen Vorschriften dieses Abschnitts mit schwererer Strafe bedroht ist.“). Angesichts des Umstands, dass der Echtheitsschutz aus § 277 StGB gestrichen wurde, dürfte sich eine Überschneidung des Anwendungsbereichs mit anderen Vorschriften (insb. § 267 StGB) allerdings gar nicht ergeben.
Aufbauschema
Tatbestand
Objektiver Tatbestand
Tatobjekte: Gesundheitszeugnis
Tathandlung: Ausstellen unter unwahrer Bezeichnung als Medizinalperson
Subjektiver Tatbestand: Vorsatz und zur Täuschung im Rechtsverkehr
Rechtswidrigkeit & Schuld
Strafzumessung: Ggf. besonders schwerer Fall gem. § 277 Abs. 2 StGB
Weiterführende Studienliteratur
Gercke, Das unrichtige Ausstellen von Gesundheitszeugnissen nach § 278 StGB, MedR 2008, 592
Lichtenthäler, Überblick zur jüngsten Novelle der Urkundendelikte, NStZ 2022, 138
Lorenz/Rehberger, Die Umgehung des solidarischen Lebens- und Gesundheitsschutzes – eine strafrechtliche Untersuchung zur Strafbarkeit des Fälschens und unrichtigen Ausstellens von Impfnachweisen, ZfL 2022, 399 ff.