Kilian Wegner Strafrecht Besonderer Teil I: Delikte gegen die Person und die Allgemeinheit Licensed under CC-BY-4.0

§ 23: Unbefugtes Ausstellen von Gesundheitszeugnissen (§ 277 StGB)

Autor: Henning Lorenz

Die §§ 277 bis 279 StGB sind im Jahr 2021 im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie und der im Zuge dessen auftretenden Impfausweisfälschungen grundlegend reformiert worden. Ziel war es, den tatbestandlichen Anwendungsbereich zu erweitern, um auf dieses Kriminalitätsphänomen zu reagieren und das Verhältnis zur Urkundenfälschung (§ 267 StGB) deutlich herauszustellen. Diese Thematik hat auch eine gewisse Prüfungsrelevanz. Es wurde berichtet, dass sogar in schriftlichen Examensprüfungen im Winter 2022 die Strafbarkeit von Impfausweisfälschungen nach altem und neuem Recht geprüft werden musste (unter Abdruck der §§ 277 bis 279 StGB aF). Zudem kann die Thematik auch Eingang in mündliche Prüfungen finden, insbesondere vor dem Hintergrund der noch jungen Rspr. des BGH (s. sogleich unter „Weiterführende Wissen“). Auf die ebenfalls in der Corona-Pandemie relevant gewordene Thematik falscher Maskenatteste und unrichtiger Impfunfähigkeitsbescheinigungen sei an dieser Stelle nur hingewiesen.Lesenswert dazu BayObLG BeckRS 2023, 12556; OLG Celle BeckRS 2024, 7932.

Weiterführendes Wissen zur Historie der Norm und ihrem Verhältnis zu § 267 StGB

Die §§ 277 bis 279 StGB haben durch die Corona-Pandemie und v. a. durch das zu dieser Zeit aufgekommene Kriminalitätsphänomen der Impfausweisfälschung eine gewisse Bedeutung für juristische Prüfungsarbeiten bekommen. Solche Fälle werfen schwierige Fragen des Konkurrenzverhältnisses zu § 267 StGB und in diesem Zusammenhang auch zum Begriff der Urkunde und des Gesundheitszeugnisses auf. Studierenden ist zu raten, sich anhand der nachfolgenden Darstellung zumindest einen Überblick über die Regelungen zu verschaffen und die Problematik der Konkurrenzverhältnisse über einen Vergleich mit der alten Rechtslage einzuüben:

Die §§ 277 bis 279 StGB existieren seit Einführung des RStGB im Jahr 1871. Eine erste kleine Änderung erfuhren die Vorschriften im Jahr 1975 mit der Aufnahme der Geldstrafe als mögliche Sanktion. Erst 46 Jahre später kam es zu einer weiteren Reform. Am 24. November 2021 traten vollständig überarbeitete §§ 277 bis 279 StGB in Kraft. Grund für das gesetzgeberische Tätigwerden war das während der Corona-Pandemie aufgekommene Phänomen der sog. Impfausweisfälschung. Dabei hatten Personen sich Blanko-Impfausweise verschafft, in diese tatsächlich nicht durchgeführte Impfungen eingetragen und sie mit falschen Unterschriften von Ärzten oder Stempeln von Impfzentren versehen. Damit ermöglichten die Personen es sich, die damals geltenden Corona-Regeln zu umgehen, die für bestimmte Tätigkeiten den Nachweis des Impfstatus nötig machten.Zum ganzen Phänomen: Lorenz, medstra 2021, 210 ff.

Auf den ersten Blick liegt in diesem Verhalten eine Urkundenfälschung gem. § 267 Abs. 1 Var. 1 StGB, es wird eine unechte Urkunde hergestellt (→ § 18 Rn. 45 ff.). Demgegenüber lagen die Voraussetzungen des § 277 StGB aF in aller Regel nicht vor, da dieser den Gebrauch des Gesundheitszeugnisses (darum handelt es sich bei einem ImpfausweisAllgemeine Meinung, vgl. Lorenz/Rehberger, ZfL 2022, 399 (406).) bei einer Behörde oder Versicherungsgesellschaft verlangte. Die Fälscher wollten die Ausweise jedoch regelmäßig nur gegenüber Privatpersonen nutzen, bspw. dem Personal in der Gastronomie oder dem Einzelhandel zur Erlangung des Zutritts. Bei dieser Sachlage drängte sich die Frage nach dem Verhältnis der Vorschriften zueinander geradezu auf. Richtigerweise wurden die §§ 277 bis 279 StGB aF im Hinblick auf ihre zu jener Zeit noch existierende Fälschungsvariante („unberechtigt unter dem Namen solcher Personen [Anm.: Ärzte oder Medizinalpersonen]“) ganz überwiegend als lex specialis zur „allgemeinen“ Urkundenfälschung angesehen. Das hatte zunächst zur Folge, dass bei Verwirklichung des Tatbestands ein Rückgriff auf die Urkundenfälschung ausgeschlossen war (Sperrwirkung). Dies musste schon deshalb gelten, weil die Urkundenfälschung einen deutlich höheren Strafrahmen aufweist. Weiterhin wurde von der hM in der Literatur vertreten, dass auch bei nicht vollständiger Verwirklichung des § 277 StGB aF – wie in den Impfausweisfällen – die Anwendung des § 267 StGB gesperrt sein muss. Grund dafür sollte sein, dass anderenfalls Wertungswidersprüche entstünden:Zum Ganzen ausf. Lorenz/Rehberger, ZfL 2022, 399 (417 ff.). Zum einen setzte der § 277 StGB aF als zweiaktiges Delikt voraus, dass ein Gesundheitszeugnis nicht nur gefälscht, sondern auch bei Behörden oder Versicherungsgesellschaften zur Täuschung gebraucht wird. Ohne eine umfassende Sperrwirkung hätte dies dazu geführt, dass bis zum Gebrauch der Rückgriff auf die mit schwerer Strafe bedrohte Urkundenfälschung möglich wäre und mit Tatvollendung durch den Gebrauch die Sperrwirkung eintritt. Dogmatisch war dieses Unikum nicht zu rechtfertigen, das Gesetz hätte bei dieser Auslegung selbst einen Tatanreiz zur Vollendung gesetzt. Zum anderen wurde darauf hingewiesen, dass allein die Fälschung eines Gesundheitszeugnisses die Sperrwirkung auslösen müsse und es nicht auf den Adressaten der späteren Täuschung ankommen könne, da sonst ohne ersichtlichen Grund der Einsatz ggü. Behörden und Versicherungsgesellschaften privilegiert werde (Einsatz bei Privaten = Urkundenfälschung).

Diese Unstimmigkeiten sind auch in der Rspr. nicht unbemerkt geblieben. Im Oktober 2021 nahm das LG Osnabrück eine umfassende Sperrwirkung der §§ 277 bis 279 StGB aF ggü. § 267 StGB und damit Straflosigkeit in einem Fall der Impfausweisfälschung an.LG Osnabrück MedR 2022, 38 ff. m. Anm. Lorenz/Rehberger. Die Entscheidung hat große Aufmerksamkeit erfahren und war auch ein Auslöser für die nur einen Monat später erfolgte Reform. Man wollte solches Verhalten künftig in jedem Fall bestraft wissen. Deshalb wurde die Fälschungsvariante und damit der Echtheitsschutz aus § 277 StGB gestrichen. Die Frage nach dem Verhältnis zur Urkundenfälschung, die ebenfalls diesem Schutz dient (→ § 18 Rn. 3) ist damit entfallen. In der aktuellen Fassung verfolgen §§ 277 und 279 StGB nur noch den Wahrheitsschutz, indem sie schriftliche Lügen unter Anmaßung einer nicht zustehenden Bezeichnung als approbierte Medizinalperson pönalisieren (s. dazu unten → Rn. 6). Obgleich Impfausweisfälschungen seit dem 24.11.2021 nunmehr als Urkundenfälschung strafbar sind, stellte sich in der Vergangenheit die Frage nach der rechtlich zutreffenden Behandlung der bis dahin tausendfach aufgetretenen Altfälle. Diese mussten wegen § 2 Abs. 3 StGB (Meistbegünstigungsprinzip) nach altem Recht entschieden werden. Die Position des LG Osnabrück wurde dabei von zahlreichen Gerichten geteilt, gerade von den Oberlandesgerichten wurde eine Sperrwirkung jedoch vielfach abgelehnt.Zur Übersicht der verschiedenen Stimmen in der Rspr.: Lorenz, JR 2023, 571 (Fn. 5 bis 7) mwN. Am 10. November 2022 hat der 5. Strafsenat des BGH aus Leipzig die Frage höchstrichterlich entschieden und der Sperrwirkung eine Absage erteilt. Dabei wich der Senat in der Begründung von der bisher konsentierten Prämisse ab, dass es sich bei § 277 StGB aF um lex specialis ggü. § 267 StGB handelt. Das ist dogmatisch nicht haltbar, da damit selbst im Falle der vollständigen Verwirklichung des § 277 StGB aF ein Rückgriff auf die mit schwerer Strafe bedrohte Urkundenfälschung möglich ist. Der Fälschungsvariante des § 277 StGB aF würde damit vollständig der Anwendungsbereich entzogen und die Vorschrift faktisch für gegenstandslos erklärt.Zur umfassenden Kritik: Lorenz, JR 2023, 571 ff.

Schutzgut

Der § 277 StGB als Jedermanns-Delikt schützt das Allgemeininteresse an der Integrität und fachlichen Kompentenz von Ausstellern von Gesundheitszeugnissen.Puppe/Schumann, in: NK-StGB, 6. Aufl. (2023), § 277 Rn. 4. Der tatbestandliche Angriff auf dieses Rechtsgut liegt vor, wenn jemand unter Anmaßung der Autorität einer Medizinalperson ein Gesundheitszeugnis ausstellt und damit eine unwahre Urkunde (nicht unechte!, vgl. → § 18 Rn. 45 ff.) ausstellt.

Objektiver Tatbestand

Der objektive Tatbestand setzt voraus, dass jemand unter der ihm nicht zustehenden Bezeichnung als Arzt oder als eine andere approbierte Medizinalperson ein Zeugnis über seinen oder eines anderen Gesundheitszustand ausstellt.

Tatobjekte: Gesundheitszeugnis

Unter Gesundheitszeugnis sind schriftliche oder elektronischeUmstritten, siehe Gierok/Teubner, in: Saliger/Tsambikakis (Hrsg.), Strafrecht der Medizin, 1. Aufl. (2022), § 11 Rn. 6 f. Erklärungen zu verstehen, in denen der Gesundheitszustand eines Menschen beschrieben wird. Gegenstand kann auch eine frühere Erkrankung oder eine Prognose über die künftige gesundheitliche Entwicklung sein, ebenso die Bescheinigung therapeutischer Maßnahmen.BGH NJW 2023, 1973 mwN.

BeispieleMit Nachweisen jeweils bei Weidemann, in: BeckOK-StGB, 60. Ed. (Stand: 01.02.2024), § 277 Rn. 4.1.: Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, Maskenattest, Impfausweis, Impfunfähigkeitsbescheinigung, Krankenschein, Therapiebescheinigung für MPU

Tathandlung: Ausstellen unter unwahrer Bezeichnung als Medizinalperson

Nach der Reform des Tatbestands im Jahr 2021 (s. → Rn. 2) entfaltet dieser keinen Echtheitsschutz, sondern nur noch Wahrheitsschutz. Insofern verwirklicht das Delikt, wer ein Gesundheitszeugnis ausstellt, dabei die Bezeichnung als Arzt oder eine andere approbierte Medizinalperson verwendet und damit eine sonst idR straflose (und insbesondere nicht von § 267 StGB erfasste, → § 18 Rn. 49) schriftliche Lüge verübt.

Subjektiver Tatbestand

Der Täter muss vorsätzlich handeln; dolus eventualis genügt. Zusätzlich muss er „zur Täuschung im Rechtsverkehr“ handeln. Mit dieser seit der Reform neuen Formulierung ist ein Gleichlauf im Wortlaut zu § 267 Abs. 1 StGB geschaffen worden. Dort ist seit jeher umstritten, welche der drei Vorsatzformen zur Erfüllung des subjektiven Tatbestands vorliegen muss (→ § 18 Rn. 70 ff.).

Rechtswidrigkeit und Schuld

Es gelten die allgemeinen Regeln.

Täterschaft und Teilnahme

Es gelten die allgemeinen Regeln.

Versuch und Vollendung

Der Versuch des Vergehens (§ 12 Abs. 2 StGB) ist mangels ausdrücklicher gesetzlicher Bestimmung (§ 23 Abs. 1 StGB) nicht strafbar. Die Tat ist mit Fertigstellung des Zeugnisses vollendet.

Strafzumessung

In Abs. 2 S. 1 ist eine Strafdrohung für besonders schwere Fälle mit erhöhter Mindeststrafe von drei Monaten vorgesehen. In Abs. 2 S. 2 ist ein Regelbeispiel normiert, das in Reaktion auf kriminelle Umtriebe während der Corona-Pandemie geschaffen worden ist.

Konkurrenzen

In Abs. 1 aE wird formelle Subsidiarität bzgl. anderer Vorschriften des 23. Abschnitts angeordnet („wenn die Tat nicht in anderen Vorschriften dieses Abschnitts mit schwererer Strafe bedroht ist.“). Angesichts des Umstands, dass der Echtheitsschutz aus § 277 StGB gestrichen wurde, dürfte sich eine Überschneidung des Anwendungsbereichs mit anderen Vorschriften (insb. § 267 StGB) allerdings gar nicht ergeben.Ebenso Puppe/Schumann, in: NK-StGB, 6. Aufl. (2023), § 277 Rn. 10. S. zu den Konkurrenzen ergänzend → Rn. 2.

Aufbauschema

  1. Tatbestand

    1. Objektiver Tatbestand

      1. Tatobjekte: Gesundheitszeugnis

      2. Tathandlung: Ausstellen unter unwahrer Bezeichnung als Medizinalperson

    2. Subjektiver Tatbestand: Vorsatz und zur Täuschung im Rechtsverkehr

  2. Rechtswidrigkeit & Schuld

  3. Strafzumessung: Ggf. besonders schwerer Fall gem. § 277 Abs. 2 StGB

Weiterführende Studienliteratur

Gercke, Das unrichtige Ausstellen von Gesundheitszeugnissen nach § 278 StGB, MedR 2008, 592

Lichtenthäler, Überblick zur jüngsten Novelle der Urkundendelikte, NStZ 2022, 138

Lorenz/Rehberger, Die Umgehung des solidarischen Lebens- und Gesundheitsschutzes – eine strafrechtliche Untersuchung zur Strafbarkeit des Fälschens und unrichtigen Ausstellens von Impfnachweisen, ZfL 2022, 399 ff.