Fall 1
(vereinfacht nach BGH BeckRS 2021, 15625)
V und M sind die Eltern der seit ihrer Geburt schwer (u.a. an Diabetes) erkrankten A, deren ältere Schwester die S ist. Sowohl A als auch S sind volljährig. Als es bei A zu einer Stoffwechselentgleisung durch Insulinmangel kommt, verschlechtert sich ihr Gesundheitszustand innerhalb kurzer Zeit dramatisch. Sie erbricht blutig und klagt über Übelkeit und Bauchschmerzen. Am Abend kann A nicht mehr in das Obergeschoss des von der Familie bewohnten Hauses gehen und verbringt die Nacht auf der Couch im Wohnzimmer. Am folgenden Tag verstärken sich die Symptome der Stoffwechselentgleisung über Stunden hinweg dramatisch. A wird lethargisch, ihre Atmung wird schwer und ihr Bewusstsein trübt sich erkennbar ein. Dennoch rufen weder V noch M oder S einen Notarzt, obwohl sie erkennen, dass A ohne medizinische Hilfe sterben könnte. Am Abend reagiert A auf die Ansprache ihrer Familie nur noch mit Kopfnicken. Um 22 Uhr verstirbt A. Wäre am Nachmittag ein Notarzt gerufen worden, hätte A mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gerettet werden können.
Hat sich S wegen Totschlags durch Unterlassen strafbar gemacht?
Fall 2
(angelehnt an BGH NJW 1973, 1706)
A befährt in der Nacht mit seinem Pkw innerorts eine zweispurige Straße, wobei er die vorgeschriebene Geschwindigkeitsbegrenzung einhält und sich auch sonst verkehrsordnungsgemäß verhält. Plötzlich und unvorhergesehen stolpert der betrunkene B zwischen den am Straßenrand parkenden Autos hervor, der sich dort auf dem Boden sitzend – und so für A nicht zu sehen – ausgeruht hatte. B stürzt so kurz vor dem Fahrzeug des A auf die Straße, dass A nicht mehr rechtzeitig anhalten kann und trotz einer sofort eingeleiteten Vollbremsung mit B kollidiert. B wird durch die Kollision zurück zwischen die parkenden Autos geschleudert und bleibt dort verletzt liegen. A hält an und sieht im Innenspiegel, dass niemand auf der Straße liegt. Er steigt aus seinem Auto und ruft zweimal laut „Hallo“, ohne dass es eine Reaktion gibt. Obwohl A sich bewusst ist, dass er einen Fußgänger angefahren hat und dass dieser mit großer Wahrscheinlichkeit so schwer verletzt wurde, dass er sterben kann, steigt A in sein Auto und fährt davon. B erliegt kurze Zeit später noch am Unfallort seinen Verletzungen. Hätte A sofort nach der Kollision einen Notarzt gerufen, wäre B mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gerettet worden.
Strafbarkeit des A wegen Totschlags durch Unterlassen?
Fall 3
(vgl. BGH NJW 1970, 2252)
A und B geraten nach einer gemeinsamen Kneipentour in Streit darüber, ob „Narcos“ oder „Squid Game“ die beste Serie ist. Obwohl bei dem Streit keine Beleidigungen ausgetauscht werden, greift der impulsive und körperlich überlegene B den A plötzlich mit Faustschlägen gegen Kopf und Oberkörper an. A hat keine andere Verteidigungsmöglichkeit, als dem B mit einem von ihm (A) mitgeführten Messer mit Tötungsvorsatz in den Unterleib zu stechen, woraufhin B verletzt zusammenbricht. A erkennt zutreffend, dass B ohne ärztliche Hilfe verbluten wird. Dennoch lässt A den B am Ort des Geschehens zurück und entfernt sich. B verstirbt kurze Zeit später wegen des hohen Blutverlustes. Hätte A ärztliche Hilfe gerufen, wäre B mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gerettet worden.
Ist A wegen eines vorsätzlichen Tötungsdelikts zum Nachteil von B strafbar?
Fall 4
(nach BGH NStZ 2016, 406)
Auf einer Party lässt A ein Gefäß mit einer stark wirkenden verbotenen Substanz („liquid ecstasy“) auf dem Tisch stehen, teilt aber allen Anwesenden mit, dass der Inhalt keineswegs unverdünnt zu sich genommen werden darf. Ungeachtet dieser Warnung trinkt B später am Abend einen kräftigen Schluck und wird kurze Zeit später bewusstlos. Obwohl A die Lebensgefahr erkennt, ruft er keinen Krankenwagen. B stirbt kurze Zeit später. Er wäre mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gerettet worden, wenn A rechtzeitig einen Krankenwagen gerufen hätte.
Ist A wegen Totschlags durch Unterlassen strafbar?