Vorbemerkung
Nicht nur aktives Tun, sondern auch bloßes Nichtstun, das Unterlassen, kann unter bestimmten Voraussetzungen eine Strafbarkeit begründen (vgl. § 13 StGB). Insofern ist zunächst zwischen „echten“ und „unechten“ Unterlassungsdelikten zu unterscheiden. Bei echten Unterlassungsdelikten ist die Begehung durch Unterlassen gesetzlich explizit normiert. Während das StGB in den meisten Normen des Besonderen Teils ein bestimmtes (aktives) Tun – so z.B. die Tötung eines Menschen in § 212 StGB – (sog. Begehungsdelikte), gibt es manche Normen, die nach ihrem Wortlaut ein aktives Tun und Strafe für den Fall androhen, dass die Erfüllung dieses Gebots unterlassen wird, der Normadressat also nicht entsprechend handelt. Ein Beispiel für ein echtes Unterlassungsdelikt ist § 323c Abs. 1 StGB, die unterlassene Hilfeleistung. Strafbar macht sich danach, wer in einer bestimmten Situation nicht Hilfe leistet, also unterlässt (Details zu diesem Delikt müssen Sie im laufenden Semester nicht kennen).
Demgegenüber spricht man von einem unechten Unterlassungsdelikt, wenn die Voraussetzungen eines eigentlich als Begehungsdelikt aufgebauten Straftatbestandes durch ein passives Verhalten erfüllt werden. Unechte Unterlassungsdelikte sind nur unter den zusätzlichen Voraussetzungen des § 13 Abs. 1 StGB strafbar. Der Täter muss insbes. für die Unversehrtheit des Rechtsguts des Opfers einzustehen haben (sog. Garantenstellung oder Garantenpflicht). Tritt z.B. der Tod eines Menschen dadurch ein, dass eine andere Person keine Rettungsmaßnahmen vornimmt, obwohl solche möglich und erfolgversprechend gewesen wären, kommt eine Strafbarkeit wegen eines Totschlags durch Unterlassen (§§ 212 Abs. 1, 13 Abs. 1 StGB) in Frage, wenn der Täter eine Garantenstellung innehatte.
Im Folgenden wird es lediglich um die unechten Unterlassungsdelikte gehen. Der Prüfung eines vollendeten vorsätzlichen (unechten) Unterlassungsdelikts lässt sich dieses Schema zugrunde legen:
I. Tatbestand
Ggf. Abgrenzung zwischen Tun und Unterlassen
1. Objektiver Tatbestand
a) Erfolgseintritt
b) Unterlassen einer physisch möglichen Rettungshandlung
c) „Quasikausalität“
d) Objektive Zurechnung
e) Garantenstellung, § 13 Abs. 1 StGB
f) ggf. Entsprechungsklausel
2. Subjektiver Tatbestand
II. Rechtswidrigkeit
- insbes. rechtfertigende Pflichtenkollision
III. Schuld
- insbes. Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens
Ist ein fahrlässiges oder versuchtes (dazu ab der Einheit 3) Delikt durch Unterlassen begangen worden, ist das Schema entsprechend anzupassen.
Lösungshinweise zu Fall 1
Strafbarkeit der C wegen fahrlässiger Körperverletzung durch Unterlassen, §§ 229, 13 Abs. 1 StGB
C könnte sich nach §§ 229, 13 Abs. 1 StGB wegen einer fahrlässigen Körperverletzung durch Unterlassen strafbar gemacht, indem sie keinen Hepatitis-B-Test durchführen ließ.
Tatbestand
Abgrenzung von Tun und Unterlassen
Zunächst ist zu prüfen, ob C ein aktives Tun – das Operieren des P – oder ein Unterlassen – das Nichtdurchführen der Tests – vorzuwerfen ist.
Hinweis: Die Abgrenzung von Tun und Unterlassen muss nur dann gesondert geprüft werden, wenn der Sachverhalt in dieser Hinsicht uneindeutig ist. Dann empfiehlt sich eine Prüfung noch vor dem objektiven Tatbestand. Sofern eindeutig nur eine Strafbarkeit wegen eines Unterlassens in Betracht kommt, kann dieses direkt geprüft werden, ohne vorher auf die Abgrenzung einzugehen.
Es ist umstritten, nach welchen Kriterien aktives Tun und Unterlassen voneinander abzugrenzen sind. Als Abgrenzungskriterium kann nach einer Ansicht der Einsatz von Energie herangezogen werden. Wer Energie in Richtung des Rechtsguts aufwendet, der handelt aktiv, wohingegen ein Unterlassen vorliegt, wenn kein Energieeinsatz erfolgt. Liegt ein aktives Tun aufgrund des Einsatzes von Energie vor, kommt ein Unterlassen nur noch subsidiär in Betracht, wenn die Begehungsstrafbarkeit aus anderen Gründen (etwa wegen fehlender Kausalität oder Zurechenbarkeit) ausscheidet. Danach ist in der Durchführung der Operation durch C ein Energieeinsatz zu sehen, sodass C aktiv gehandelt hat.
Eine andere Ansicht beurteilt die Abgrenzung anhand der Kausalität. Greift der Täter durch ein kausales Verhalten in die Außenwelt ein, so handelt er aktiv. Lässt er eine Kausalkette lediglich ablaufen, liegt darin ein Unterlassen. Durch die Operation des P setzt C einen Kausalverlauf in Gang, der zur Infektion des P führte. Auch nach dieser Ansicht liegt ein aktives Tun der C vor.
Die h.M. stellt auf den Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit ab. Die Abgrenzung muss danach anhand einer Wertung vorgenommen werden, für die nicht allein rein formale Kriterien herangezogen werden dürfen, sondern auch die Umstände des Einzelfalls und der soziale Handlungssinn des Verhaltens berücksichtigt werden müssen. Hier führte C die Operation selbst zwar lege artis aus, was dafürsprechen mag, auf das Unterlassen der Hepatitis-Tests abzustellen. Jedoch konnte es durch die Nichtvornahme der Kontrolluntersuchungen allein noch nicht zu einer Infektion des P kommen. Erst die Durchführung der Operation trotz Infektion führte zur Ansteckung des P. Dass C sich nicht vorab untersuchen ließ, kann vielmehr ein Außerachtlassen der erforderlichen Sorgfaltspflichten begründen, welches einer Fahrlässigkeitsstrafbarkeit sowohl beim aktiven Tun als auch beim Unterlassen immanent ist. Ist ein solches Unterlassen der Anwendung der gebotenen Sorgfalt wesensnotwendig mit einem (fahrlässigen) aktiven Tun verbunden, steht das dem Begehungscharakter des Verhaltens nicht entgegen. Entscheidend für die Erkrankung des P war demnach, dass C mit der ansteckenden Hepatitis-Infektion die Behandlung des P vornahm. Der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit liegt daher in dem in der Durchführung der Operation liegenden aktiven Tun.
Alle Ansichten führen zu dem Ergebnis, dass C die Infektion des P durch ein aktives Tun hervorrief. Ein Streitentscheid ist daher entbehrlich.
Zwischenergebnis
Es liegt ein aktives Tun der C vor.
Zwischenergebnis
Der Tatbestand der §§ 229, 13 Abs. 1 StGB ist nicht erfüllt.
Ergebnis
C hat sich nicht gem. §§ 229, 13 Abs. 1 StGB strafbar gemacht.
Hinweis: Es käme nun eine Strafbarkeit der C nach § 229 StGB durch aktives Tun in Betracht. Dies wird hier jedoch durch die Fallfrage, die explizit auf ein Unterlassen abstellt, ausgeschlossen.
Lösungshinweise zu Fall 2
Strafbarkeit der C wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen, §§ 222, 13 Abs. 1 StGB
C könnte sich nach §§ 222, 13 Abs. 1 StGB wegen einer fahrlässigen Tötung durch Unterlassen strafbar gemacht haben, indem sie keinen Notruf absetzte.
Tatbestand
C müsste durch ihr Unterlassen den Tatbestand der §§ 222, 13 Abs. 1 StGB erfüllen.
Abgrenzung von Tun und Unterlassen
Zunächst ist zu klären, ob ein aktives Tun oder ein Unterlassen der C vorliegend strafrechtlich relevant ist. Zwar kam es bei dem von C durchgeführten Eingriff – einem aktiven Tun – zum Herzstillstand des A, jedoch ist dessen Tod vor allem darauf zurückzuführen, dass die C keine sofortige Verlegung in ein Krankenhaus veranlasste. Der Eingriff selbst geschah auf Wunsch und mit der Einwilligung des A, sodass dieses aktive Tun der C nicht zum Vorwurf gemacht werden kann. Die anschließend eingeleiteten Reanimationsmaßnahmen konnten den Tod des A zwar nicht verhindern, waren aber auch nicht entscheidend für dessen Eintritt. Es erscheint vielmehr geboten, dass die C – neben der notwendigen Verständigung eines Notarztes, die sie unterließ – weitere Erste Hilfe-Maßnahmen einzuleiten hatte. Auch die erfolglosen Reanimationsversuche sind der C daher nicht vorzuwerfen. Der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit liegt stattdessen im Unterlassen des Notrufs.
Zieht man zur Abgrenzung das Kausalitätskriterium heran, so setzte die C mit der Durchführung der Operation zwar einen Kausalverlauf in Gang, der schlussendlich im Tod des A mündete. Jedoch war dieses Verhalten durch die Einwilligung des A gedeckt. Für die eingeleiteten Reanimationsmaßnahmen kann indes nicht festgestellt werden, dass sie den Tod des A verursacht oder beschleunigt hätten. Sie sind nicht für den Todeseintritt kausal geworden und stellen daher auch nach dieser Ansicht kein strafbarkeitsbegründendes aktives Tun dar. Den (gerechtfertigt) in Gang gesetzten Kausalverlauf ließ C ablaufen, ohne durch das Absetzen eines Notrufs darin einzugreifen. Auch nach dieser Ansicht liegt ein Unterlassen vor.
Schließlich lässt sich eine Abgrenzung zwischen Tun und Unterlassen anhand eines Energieeinsatzes vornehmen. Setzt der Täter eine gewisse Energie in Richtung des Rechtsguts ein, handelt er aktiv. Ein Unterlassen kommt dann nur noch subsidiär in Betracht, greift also dann, wenn eine Strafbarkeit wegen aktiven Tuns (etwa wegen fehlender Kausalität oder Zurechenbarkeit) ausscheidet. Hier setzte die C zunächst durch die Vornahme der Operation Energie ein. Insoweit handelte sie jedoch gerechtfertigt. Durch die Einleitung der Reanimationsmaßnahmen hat C ebenfalls Energie aufgewandt. Diese Maßnahmen konnten den Tod des A nicht verhindern, sind aber dennoch nicht ursächlich für den Todeseintritt geworden. Gleichzeitig setzte sie gerade keine Energie dazu ein, eine Einweisung in ein Krankenhaus zu veranlassen. Darin liegt folglich ein Unterlassen. Da die aktiven Verhaltensweisen der C, bei denen sie Energie einsetzte, nicht zu einer Strafbarkeit führen, ist auch nach dieser Ansicht auf das Unterlassen der Einweisung des A in ein Krankenhaus abzustellen.
Nach allen Auffassungen liegt ein Unterlassen vor.
Erfolgseintritt
A konnte trotz der Versorgung im Krankenhaus nicht gerettet werden und verstarb. Der Erfolg ist damit eingetreten.
Unterlassen einer physisch möglichen Rettungshandlung
Die C müsste eine ihr physisch mögliche Rettungshandlung unterlassen haben. Bereits unmittelbar nach dem Herzstillstand des A und der erfolglos durchgeführten Reanimationsmaßnahmen wäre es C möglich gewesen, einen Notarzt zu alarmieren, um so eine intensivmedizinische Betreuung des A zu erwirken und so zur Rettung des A beizutragen. Diese ihr physisch mögliche Rettungshandlung unterließ die C.
„Quasikausalität“
Das Unterlassen müsste für den Erfolgseintritt „quasikausal“ geworden sein. „Quasikausalität“ liegt vor, wenn nach Abwandlung der conditio sine qua non-Formel die gebotene Rettungshandlung nicht hinzugedacht werden kann, ohne dass der Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit entfiele. Hätte C zeitnah nach Eintritt des Herzstillstandes einen Notruf abgesetzt, wäre A rechtzeitig intensivmedizinisch behandelt worden und sein Tod hätte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vermieden werden können. Das Unterlassen der C war „quasikausal“ für den Tod des A.
Hinweis: Wie die Kausalität bei Unterlassungsdelikten zu bestimmen ist, v.a. mit welchem Grad an Wahrscheinlichkeit der Erfolgseintritt ausbleiben muss, ist umstritten. Teilweise wird statt der Anwendung der angepassten conditio sine qua non-Formel die sog. Risikoverminderungslehre vertreten. Näheres dazu erfahren Sie im Fall 3 dieser Einheit.
Objektive Fahrlässigkeit und Objektive Zurechnung
Hinweis: Bei einem fahrlässigen unechten Unterlassungsdelikt müssen die besonderen Voraussetzungen des Fahrlässigkeitsdelikts (insbesondere Sorgfaltswidrigkeit und Vorhersehbarkeit) in den Aufbau des unechten Unterlassungsdelikts integriert werden.
C müsste die Rettung des A objektiv fahrlässig unterlassen haben. Dazu bedarf es eines objektiv sorgfaltswidrigen Verhaltens der C. Dabei ist auf einen durchschnittlichen Angehörigen des Verkehrskreises der C und dessen Verhalten in der betreffenden Situation abzustellen. Ein Arzt hätte bei Eintritt eines Herzstillstandes seines Patienten spätestens dann einen Notarzt alarmiert, wenn eigene Reanimationsversuche erfolglos geblieben sind. Die C handelte dadurch sorgfaltswidrig, dass sie keine intensivmedizinische Behandlung des A erwirkte. Im Rahmen der. objektiven Fahrlässigkeit müsste der Eintritt des Todes ferner objektiv vorhersehbar gewesen sein. Es liegt nicht außerhalb der Lebenserfahrung und war daher gerade für eine medizinisch ausgebildete Person wie die C vorhersehbar, dass ein Patient an einem Herzstillstand trotz sofort eingeleiteter Reanimationsmaßnahmen versterben kann. C handelte objektiv fahrlässig.
Der Tod des A müsste C auch objektiv zurechenbar sein. Bei pflichtgemäßem Verhalten der C wäre es nicht zum Tod des A gekommen, sodass der Pflichtwidrigkeitszusammenhang gegeben ist. Zudem dienen die an medizinisches Personal zu stellenden Sorgfaltsanforderungen auch gerade dazu, den Tod von Patienten während einer medizinischen Behandlung zu verhindern. Auch der Schutzzweckzusammenhang liegt vor, sodass der Tod des A der C objektiv zurechenbar ist.
Garantenstellung
Die C müsste eine Garantenstellung innegehabt haben, aufgrund der sie für das Leben des A einzustehen hatte, § 13 Abs. 1 StGB. Diese folgt hier aus dem Behandlungsvertrag zwischen A und C oder jedenfalls aus der faktischen Übernahme der Behandlung durch C. Sie war Garantin für das Leben des A.
Hinweis: In der Prüfung der Garantenstellung liegt häufig ein Schwerpunkt bei der Prüfung der unechten Unterlassungsdelikte. Die Garantenstellung wird in der nächsten Einheit ausführlich behandelt. Hier war dieses Merkmal unproblematisch. Die sog. Entsprechungsklausel oder Modalitätenäquivalenz (vgl. § 13 Abs. 1 Hs. 2 StGB: „wenn das Unterlassen der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch ein Tun entspricht“) spielt bei der Prüfung von Körperverletzungs- und Tötungsdelikten in der Regel keine Rolle. Sie kommt insbesondere bei sog. „verhaltensgebundenen Delikten“ zum Tragen, die Sie in späteren Semestern kennenlernen werden.
Zwischenergebnis
C erfüllt alle Tatbestandsvoraussetzungen.
Rechtswidrigkeit
Zugunsten der C greifen keine Rechtfertigungsgründe ein. Insbes. war das Nichtherbeirufen eines Notarztes nicht mehr durch die Einwilligung des A in den operativen Eingriff gedeckt. C handelte rechtswidrig.
Schuld
Allgemeine Schuldausschließungs- oder Entschuldigungsgründe liegen nicht vor.
Die C müsste jedoch auch subjektiv fahrlässig gehandelt haben. Anzeichen dafür, dass die C nach ihren individuellen Fähigkeiten nicht in der Lage gewesen wäre, die an einen durchschnittlichen Arzt zu stellenden Sorgfaltsanforderungen zu erfüllen und auch subjektiv das objektiv Vorhersehbare zu erkennen, sind nicht ersichtlich. C handelte subjektiv fahrlässig und damit schuldhaft.
Ergebnis
Indem sie eine intensivmedizinische Behandlung des A nicht besorgte, machte sich C nach §§ 222, 13 Abs. 1 StGB wegen einer fahrlässigen Tötung durch Unterlassen strafbar.
Lösungshinweise zu Fall 3
Strafbarkeit wegen fahrlässiger Körperverletzung durch Unterlassen zum Nachteil des F durch Nichtaustausch der Bremsbeläge, §§ 229, 13 Abs. 1 StGB
M könnte sich nach §§ 229, 13 Abs. 1 StGB strafbar gemacht haben, indem er die Bremsbeläge des LKW nicht wechselte. Dazu müsste er tatbestandsmäßig, rechtswidrig und schuldhaft gehandelt haben.
Tatbestand
Die Tatbestandsmerkmale der §§ 229, 13 Abs. 1 StGB müssten erfüllt sein.
Dazu müsste M durch ein Unterlassen gehandelt haben. Der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit liegt hier darin, dass M die Bremsbeläge nicht austauschte. Damit ließ der M einen Kausalverlauf, der durch den Verschleiß des LKW bereits in Gang gesetzt war, ungehindert ablaufen. Zwar wand M Energie bei der Inspektion des LKW auf. Die Inspektion an sich wurde jedoch nicht ursächlich für den Unfall. Vielmehr wäre der Unfall auch geschehen, wenn die Inspektion gänzlich hinweg gedacht wird. Somit ist auch nach der Ansicht, die zur Abgrenzung von Tun und Unterlassen das Energiekriterium heranzieht, subsidiär auf den fehlenden Einsatz von Energie wegen fehlenden Wechselns der Bremsbeläge abzustellen. Nach allen zur Abgrenzung vertretenen Ansichten liegt ein Unterlassen des M vor.
Erfolgseintritt
F wurde bei dem Unfall verletzt. Die Verletzungen stellen eine nicht nur unerhebliche Beeinträchtigung des körperlichen Wohlbefindens und der körperlichen Unversehrtheit des F dar und riefen bei diesem einen pathologischen Zustand hervor. Sowohl eine körperliche Misshandlung als auch eine Gesundheitsschädigung liegen vor, sodass der Erfolg eingetreten ist.
Unterlassen einer physisch möglichen Rettungshandlung
Dem M wäre es möglich gewesen, im Zuge der Inspektion die verschlissenen Bremsbelege auszutauschen. Er unterließ damit ihm physisch mögliche Rettungshandlungen.
„Quasikausalität“
Hinweis: Man spricht bei Unterlassungsdelikten von „Quasikausalität“ oder auch hypothetischer Kausalität, weil der Täter hier in einen anderweitig schon angestoßenen Kausalverlauf gerade nicht eingreift, sodass es streng genommen kein reales Beruhen des Erfolgs auf dem Unterlassen geben kann.
Der Verletzungserfolg müsste auf dem Unterlassen des M beruhen. Bei Unterlassungsdelikten kann zur Bestimmung der Kausalität nicht in gleicher Wiese auf die conditio-sine-qua-non-Formel zurückgegriffen werden, wie dies bei Begehungsdelikten der Fall ist. Denn würde man sich das Nichtstun des Täters hinwegdenken (indem man sich z.B. vorstellt, der Täter wäre gar nicht vor Ort gewesen), ändert dies am Geschehen und dem Erfolgseintritt nichts. Das Unterlassen wäre dann niemals kausal für den Erfolg. Will man mit der h.M. dennoch auf die c-s-q-n-Formel abstellen, so muss diese dahingehend angepasst werden, dass man die Vornahme der an sich gebotenen (vom Täter aber unterlassenen) Handlung hinzudenkt. Ein Unterlassen ist dann „quasikausal“, wenn die gebotene Handlung nicht hinzugedacht werden kann, ohne dass der Erfolgseintritt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeblieben wäre.
Eine teilweise abweichende Bestimmung der Quasikausalität – genauer: des erforderlichen Wahrscheinlichkeitsgrades – nehmen Vertreter der sog. Risikoverminderungslehre vor. Danach genügt es bereits, wenn die Vornahme der gebotenen Handlung das Risiko des Erfolgseintrittes verringert hätte.
Dem M bot sich mit dem Austausch der Bremsbeläge eine Rettungsmöglichkeit, die als gebotene Handlung hinzugedacht werden kann. Hätte M die Bremsbeläge bei der Inspektion ausgetauscht, so kann dennoch nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit festgestellt werden, dass der Unfall und damit auch die Verletzungen des F ausgeblieben wären. Dass M es unterlassen hat, die Bremsbeläge zu wechseln, wurde damit nicht „quasikausal“ für den Verletzungserfolg. Der Einbau neuer Bremsbeläge hätte allerdings bei lebensnaher Betrachtung das Risiko, dass es zu einem Unfall mit Verletzen kommt, gesenkt, sodass nach der Risikoverminderungslehre die „Quasikausalität“ zu bejahen ist.
Da die h.M. und die Risikoverminderungslehre somit zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, bedarf es einer Stellungnahme. Der Vorteil der Risikoverminderungslehre besteht v.a. darin, dass mit ihrer Hilfe Strafbarkeitslücken vermieden werden in Fällen, in denen sich das Ausbleiben des Erfolges nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststellen lässt. Dem lässt sich jedoch entgegenhalten, dass die Schließung von Strafbarkeitslücken allein Aufgabe des Gesetzgebers ist. Ferner wird für die Risikoverminderungslehre angeführt, dass keine überzogenen Anforderungen an die Überzeugungsbildung bei hypothetischen Verläufen gestellt werden dürfen, dies aber geschehe, wenn man ein Feststehen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit fordere. Indes stimmt der Wahrscheinlichkeitsgrad, den die h.M. fordert, gerade mit dem allgemein bestehenden Maßstab richterlicher Überzeugungsbildung überein. Auch im Übrigen muss das Gericht mit einem hohen Grad an Wahrscheinlichkeit von den Tatsachen, die es einem Urteil zugrunde legen möchte, überzeugt sein, sodass sich keine Widersprüche zur „Quasikausalität“ ergeben. Gegen die Risikoverminderungslehre spricht weiterhin, dass mit ihr Erfolgsdelikte, bei denen es gerade auf eine ursächliche Herbeiführung eines Erfolgs ankommt, in Gefährdungsdelikte umgewandelt werden, die sich dadurch auszeichnen, dass der Täter lediglich die Gefahr und damit ein Risiko schafft (bzw. dessen Abwendung unterlässt), dass ein Verletzungserfolg eintreten könnte. Aus diesen Gründen ist die Risikoverminderungslehre abzulehnen.
Unter Anwendung der abgewandelten c-s-q-n-Formel ist das Nichttauschen der Bremsbeläge nicht „quasikausal“ für die Verletzungen des F.
Zwischenergebnis
Mangels „Quasikausalität“ ist der Tatbestand nicht erfüllt.
Ergebnis
M machte sich nicht wegen einer fahrlässigen Körperverletzung durch Unterlassen gem. §§ 229, 13 Abs. 1 StGB strafbar, indem er die Bremsbeläge nicht wechselte.
Strafbarkeit wegen fahrlässiger Körperverletzung durch Unterlassen zum Nachteil des F durch Nichtmitteilung des fahruntauglichen Zustandes, §§ 229, 13 Abs. 1 StGB
Eine Strafbarkeit des M nach §§ 229, 13 Abs. 1 StGB könnte sich indes daraus ergeben, dass er dem U nicht mitteilte, dass sich der LKW in einem fahruntauglichen Zustand befand.
Tatbestand
M müsste den Tatbestand verwirklicht haben.
Das Nichtinformieren des U stellt nach allen zur Abgrenzung vertretenen Ansichten ein Unterlassen dar.
Taterfolg
Mit den Verletzungen des F ist der Taterfolg der fahrlässigen Körperverletzung eingetreten (s.o.).
Unterlassen einer physisch möglichen Rettungshandlung
M hatte die Möglichkeit, den U nach der Inspektion über den festgestellten fahruntauglichen Zustand des LKW zu informieren. Da er dies nicht tat, unterließ er eine ihm physisch mögliche Rettungshandlung.
„Quasikausalität“
Die unterlassene Unterrichtung des U ist auf ihre „Quasikausalität“ für den Erfolgseintritt hin zu überprüfen. Hätte M den U über den fahruntauglichen Zustand des LKW informiert, wäre dennoch nicht ausgeschlossen, dass U die Fahrt trotzdem angeordnet und es daher trotzdem zum Unfall und den Verletzungen gekommen wäre. Zieht man die oben dargestellte abgewandelte c-s-q-n-Formel (s. I. 1. c.) heran, so ist der Erfolg also auch beim Hinzudenken der Unterrichtung des U nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschließen. Das Unterlassen wäre daher nicht „quasikausal“.
Eine Gegenansicht möchte von dieser Formel der „Quasikausalität“ jedoch eine Ausnahme machen, wenn das Unterlassen des Täters darin besteht, eine andere Person, die ebenfalls zum Handeln verpflichtet gewesen wäre, zu informieren. Der Täter soll sich nicht dadurch von seinem pflichtwidrigen Unterlassen entlasten können, dass sich eine andere Person, wenn sie vom Täter informiert worden wäre, hypothetisch ebenfalls pflichtwidrig verhalten hätte. Vielmehr müsse immer von einem pflichtgemäßen Verhalten anderer ausgegangen werden. Obwohl nicht auszuschließen ist, dass U die Fahrt des F angeordnet hätte, selbst wenn er von der Fahruntauglichkeit des LKW gewusst hätte, ist nach dieser Ansicht bei der Bestimmung der „Quasikausalität“ des Verhaltens von M zu fingieren, dass U sich pflichtgemäß verhalten, also die Fahrt nicht angeordnet hätte. Es wäre demnach mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht zum Unfall gekommen und das Verhalten von M wäre „quasikausal“.
Für diese letztgenannte Ansicht lässt sich zwar anführen, dass das pflichtwidrige Verhalten des U hier nicht sicher ist, sondern nur hypothetisch angenommen werden kann und zudem kaum beweisbar ist. Allerdings beruht auch die Annahme, der U hätte sich pflichtgemäß verhalten, allein auf einer Fiktion. Diese würde den M allerdings – im Gegensatz zu der Fiktion, der U würde sich pflichtwidrig verhalten – ohne gesetzliche Grundlage belasten. Eine solche belastende Unterstellung ist mit Art. 103 II GG schwer zu vereinbaren. Überzeugender ist es daher, auch dann, wenn das Verhalten handlungspflichtiger Dritter einzubeziehen ist, die „Quasikausalität“ strikt nach der o.g. Formel zu bestimmen. Danach ist die unterlassene Information des U nicht „quasikausal“.
Betrachtet man das Nichtinformieren des U durch M unter dem Blickwinkel der Risikoverminderungslehre, so ergibt sich, dass, weil zumindest nicht vollkommen ausgeschlossen ist, dass U bei Kenntnis des Zustandes des LKW die Fahrt unterbunden hätte, die Information des U das Risiko einer Unfallfahrt jedenfalls gemindert hätte. Das Unterlassen des M ist folglich „quasikausal“.
Die unterlassene Unterrichtung des U ist bei Anwendung der abgewandelten c-s-q-n-Formel nicht „quasikausal“. Dabei darf, wie oben dargelegt, nicht zu Lasten des M ein fiktiv pflichtgemäßes Verhalten des U angenommen werden, wenn daran Zweifel bestehen. Nach der Risikoverminderungslehre ist die „Quasikausalität“ auch bzgl. der fehlenden Information des U zu bejahen. Gegen die Risikoverminderungslehre sprechen indes die bereits dargestellten Erwägungen (s. I. 1. c. – Stellungnahme), sodass der h.M. zu folgen ist. Die Nichtmitteilung des fahruntauglichen Zustandes des LKW von M an U ist nicht „quasikausal“ für den Eintritt der Verletzungen geworden.
Zwischenergebnis
Der Tatbestand ist wegen der fehlenden „Quasikausalität“ zwischen dem Unterlassen und dem Erfolgseintritt nicht erfüllt.
Ergebnis
M machte sich nicht wegen einer fahrlässigen Körperverletzung durch Unterlassen zum Nachteil des F strafbar, indem er den U nicht über den Zustand des LKW informierte.
Endergebnis
M ist nicht nach §§ 229, 13 Abs. 1 StGB zu Lasten des F strafbar.