Kilian Wegner Strafrecht AT I: Übungsfälle Licensed under CC-BY-4.0

Einheit 5: Notwehr (Sachverhalt)

Fall 1

(Ausschnitt aus einer Originalklausur)

Jäger J sitzt im Außenbereich einer Kneipe. Am Nebentisch sitzt ein Touristenehepaar, das gerade ein Abendessen serviert bekommt. Der schlecht gelaunte J, der Touristen ohnehin nie leiden konnte, steckt sich eine Zigarette an. Dabei ist ihm vollends bewusst, dass der Wind den Rauch an den Nachbartisch hinüberwehen wird. Im Außenbereich ist das Rauchen jedoch erlaubt und J will seinen Frust abreagieren, indem er die beiden Touristen ärgert. Obwohl J den Rauch nicht extra in Richtung des Nachbartisches bläst, fühlt sich das Paar schnell gestört. Der Mann M bittet J zunächst höflich darum, mit der Zigarette zu warten, bis M und seine Frau mit dem Essen fertig sind. Nachdem J dies verweigert, entwickelt sich ein kurzes Wortgefecht, bei dem jedoch keine Beleidigungen geäußert werden. Schließlich steht M auf und greift J an. Dieser hat im Kampfgeschehen keine andere Möglichkeit, als den ihm körperlich überlegenen M mit seinem Jagdmesser in den Oberschenkel zu stechen, wodurch M erheblich verletzt wird. Die einzige Alternative hätte für J darin bestanden, zu fliehen.

Hat J sich wegen Körperverletzung (§ 223 StGB) strafbar gemacht?

Fall 2

(angelehnt an BGH, Urt. v. 9.6.2015 − 1 StR 606/14)

G, der nach Deutschland geflüchtet war, sollte am 4. Februar 2020 auf Grundlage eines rechtmäßigen Verwaltungsakts nach Erbil (Irak) abgeschoben werden. Vorläufig wurde ihm aber eine weitere bis zum 14. April 2020 befristete Duldung ausgesprochen. Im Widerspruch zu dieser Duldungsverfügung wies die Behörde – ohne den G selbst darüber zu informieren – die zuständige Polizeibehörde an, den G zwecks Abschiebung am 4. Februar 2020 zuhause abzuholen und zum Flughafen zu transportieren. In dem an die Polizeidirektion gerichteten Schreiben teilte die Ausländerbehörde wahrheitswidrig mit, die Abschiebung sei gegenüber dem G schriftlich angekündigt und diesem aufgetragen worden, sich am festgesetzten Tag für die Durchführung der Abschiebung bereitzuhalten. Als die Polizei bei G auftauchte, war dieser völlig überrascht. Um sich auszuweisen, zeigte er seine Duldung vor. Den Aufforderungen der Polizist:innen, sich anzukleiden und mitzukommen, folgte er nicht. Er floh im weiteren Geschehensverlauf über den Balkon seiner Nachbarn hinter den Geräteschuppen und verbarrikadierte sich dort, bewaffnet mit einem Küchenmesser. Die Polizeibeamt:innen versuchten, den Schuppen zu öffnen, um G herauszuholen. Er aber stach mit dem Messer, in bogenartigen Bewegungen mindestens drei Mal durch die Öffnung in Richtung der Polizeibeamt:innen (mit Körperverletzungsvorsatz), in der Hoffnung der Abschiebung zu entgehen. Eine der Beamt:innen trug einen tiefen Schnitt in der Schultergegend davon.

Hat G sich durch die Messerstiche gem. § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB strafbar gemacht?

Fall 3

(verkürzte Variante von BGHSt 48, 255)

F ist seit vielen Jahren mit M verheiratet, die beiden haben zwei gemeinsame Kinder. Schon seit Beginn ist die Beziehung geprägt durch Demütigungen und Gewalttaten von M gegenüber F, die sich im Laufe der Zeit erheblich intensivieren. Mehrmals dachte M, er habe die F bereits getötet; auch die Schwangerschaften hielten ihn nicht ab, die F schwer zu misshandeln. Zudem richteten sich die Taten nun regelmäßig und unkontrollierbar auch gegen die Kinder. Eines nachts sieht F keinen anderen Ausweg mehr, als den M, der sie in den Tagen vorher wieder teils zu Boden geschlagen hatte, zu töten. Nachdem er schlafen gegangen war, nahm sie seinen Revolver aus der Schublade, schlich blitzschnell ins gemeinsame Zimmer, in dem M tief schlief, und erschoss ihn mit den acht im Revolver enthaltenen Schüssen.

Kann F sich auf Notwehr berufen?

Fall 4

(angelehnt an BGH, Urt. v. 11.9.1995 – 4 StR 294/95)

E und F wohnen im selben Haus und sind seit langer Zeit verfeindet. Als sie eines Abends aufeinandertrafen, gerieten sie in eine zuerst harmlose Rangelei. Der betrunkene F zerrte E an den Haaren herum, nahm ihn in den sog. „Polizeigriff“ und zwang ihn so in die Knie. Daraufhin riss E einen Arm los, holte ein Messer aus der hinteren Hosentasche und drohte, im Sichtfeld des F und für diesen erkennbar, an, damit zuzustechen. F nahm das Messer nicht wahr, sondern schlug um sich und stieß Beleidigungen aus. E hätte sich diesen Angriffen durch einen Rückzug in seine Wohnung ohne weiteres entziehen können. Stattdessen geriet E in blinde Wut und wollte sich nun nicht mehr nur verteidigen, sondern F Schaden zufügen. Er stach wiederholt und heftig auf F ein und traf ihn im in Brust-, Genital- und Bauchbereich. Die Blutalkoholkonzentration (BAK) des F lag – wie E von Anfang erkannte – bei etwa 2,09 Promille. Er überlebte.

Ist E gerechtfertigt?

Fall 5

(angelehnt an RG, Urt. v. 20.9.1920 − I 384/20)

T ist eine alleinstehende ältere Frau, die aufgrund ihrer Tätigkeit als international tätige Unternehmerin finanziell gut abgesichert ist. Nach den vielen Jahren voller anstrengender Verhandlungen, beschloss sie, ihre Rente auf dem Land zu verbringen, um von nun an möglichst wenigen Menschen zu begegnen. Einige Tage nach ihrem Einzug kam sie in den Obstgarten und sah, dass mehrere Kinder aus dem Dorf in einem ihrer Kirschbäume saßen. Die kleinen Obstdiebe warfen die Kirschen vom Baum herunter in Körbe, um noch mehr wegtransportieren zu können. Die T schrie ihnen höchsterzürnt „Aufhören!“ zu, zog ihren Revolver, fuchtelte damit in der Luft herum, schoss gen Himmel – nichts davon schien die Kinder im Geringsten zu stören, die munter weiter pflückten. Daraufhin schoss die T, indessen zur Weißglut gebracht, das am lautesten lachende Kind in den Oberschenkel, woraufhin es vom Baum fiel.

Ist T gerechtfertigt?

Fall 6

A hasst B und möchte ihm wehtun. Da er weiß, dass B sehr leicht aufbrausend ist, erzählt er in Gegenwart des B und weiterer Personen wahrheitswidrig, die Freundin des B würde diesen betrügen. Wie von A vorausgesehen, regt sich B furchtbar auf. Nachdem A mit den Sticheleien aufgehört hat, geht B mit erhobenen Fäusten auf A zu, um ihn zu schlagen. A nimmt eine Dachlatte und wehrt B ab, indem er ihm die Dachlatte kräftig auf den Kopf schlägt, so dass B zu Boden fällt. Eine andere Verteidigungsmöglichkeit hatte A aufgrund der überlegenen Körperkräfte des B nicht.

Hat sich A der vorsätzlichen Körperverletzung nach § 223 StGB schuldig gemacht?