Bei der Urkundenunterdrückung (§ 274 StGB) geht es darum, dass jemand eine Urkunde, technische Aufzeichnung oder bestimmte Daten beseitigen oder zumindest beschädigen will, um einem anderen einen Nachteil zuzufügen. Eine typische Fallkonstellation ist das Verbrennen des Examenszeugnisses eines Kommilitonen, damit dieser es für den anstehenden Bewerbungsprozess erst neu beim Justizprüfungsamt beantragen muss.
Schutzzweck und Deliktsnatur
Anders als bei den übrigen Urkundsdelikten des 23. Abschnitts des StGB schützt § 274 StGB ein Individualrechtsgut, nämlich die individuelle Berechtigung der Beweisführung mit Urkunden oder technischen Aufzeichnungen (Nr. 1), beweiserheblichen Daten (Nr. 2) oder – das ist aber praktisch irrelevant und kann bei der Prüfungsvorbereitung ruhig außer Acht gelassen werden – Grenz- und Wasserstandszeichen (Nr. 3). Da es um den Schutz eines Individualrechtsguts geht, ist eine Einwilligung der dispositionsbefugten Person mit der Folge möglich, dass die Rechtswidrigkeit der Tat entfällt. Nicht geschützt von § 274 StGB ist das Eigentum an der unterdrückten Urkunde.
Tatbestand
Objektiver Tatbestand
§ 274 Abs. 1 Nr. 1 StGB: Unterdrückung von Urkunden oder technischen Aufzeichnungen
Tatobjekt
Tatobjekte des § 274 Abs. 1 Nr. 1 StGB sind Urkunden und technische Aufzeichnungen (→ § 18 Rn. 5 ff. und § 19 Rn. 6 ff.). Es muss sich um echte Urkunden (→ § 18 Rn. 45 ff.) oder technische Aufzeichnungen handeln. Falsifikate fallen nicht unter § 274 Abs. 1 StGB, da ihr Bestand rechtlich nicht schützenswert ist.
Beispiel: Die Vernichtung eines eigenhändig angefertigten Impfausweises unter dem Namen eines Heilberufsträgers (unechte Urkunde bzw. unechtes Gesundheitszeugnis iSd § 278 StGB, da scheinbarer und wirklicher Aussteller divergieren, → § 18 Rn. 46 ff.) wird von § 274 Abs. 1 StGB nicht erfasst.
§ 274 Abs. 1 Nr. 1 StGB setzt voraus, dass dem Täter die Urkunde oder technische Aufzeichnung „entweder überhaupt nicht oder nicht ausschließlich gehört“. Mit dem Merkmal des Gehörens ist nicht das dingliche Eigentum an der Urkunde oder der technischen Aufzeichnung gemeint, sondern dem Schutzzweck entsprechend das individuelle Recht, mit der Urkunde oder technischen Aufzeichnung Beweis zu erbringen (Beweisführungsrecht bzw. Verfügungsbefugnis). Wem das Beweisführungsrecht zusteht, ist nicht immer leicht zu beantworten. Die Frage ist selbst in der Rspr. und der Literatur nicht abschließend geklärt.
a) Zivilrechtliche Vorlagepflichten ergeben sich etwa aus §§ 422 ff. ZPO, §§ 371, 402, 716, 810 BGB. Im Falle des § 422 ZPO ist der Gegner im Rahmen eines Zivilprozesses etwa zur Vorlage einer Urkunde verpflichtet, „wenn der Beweisführer nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts die Herausgabe oder die Vorlegung der Urkunde verlangen kann.“ Liegen die Voraussetzungen des § 422 ZPO vor, ist der „Gegner“ also beweisführungsbefugt und die in Rede stehende Urkunde oder die technische Aufzeichnung taugliches Tatobjekt.
b) Bei öffentlichen Urkunden verlieren Eigentümer ihre alleinige Verfügungsbefugnis in aller Regel bereits mit der Erstellung. Solche Urkunden „gehören“ ihnen daher nicht mehr iSv § 274 StGB. Stattdessen steht die Beweisführungsbefugnis dann dem (öffentlichen) Rechtsverkehr bzw. der zuständigen Behörde zu. Bei öffentlich-rechtlichen Vorlagepflichten ist nach der Rspr. zu unterscheiden: Dient die Vorlagepflicht der Rechnungslegung und damit vermögensrechtlichen Beweisinteressen (etwa bei der Belegvorhaltepflicht iRd Steuererklärung), besteht nach der Rspr. ein Beweisführungsrecht der Behörde. Hat die Vorlagepflicht hingegen nur den Zweck, Kontroll- oder Überwachungsaufgaben der Verwaltung zu ermöglichen,
c) Öffentlich-rechtliche Ausweispapiere, wie der Reisepass, Personalausweis oder Führerschein „gehören“ ausschließlich ihrem Inhaber, da sie allein dessen Gebrauchsbefugnis unterstehen, mögen sie auch im Eigentum des Staates verbleiben. Letzterer hat also keine Beweisführungsbefugnis, sodass eine Unterdrückung durch den Inhaber nicht unter § 274 Abs. 1 Nr. 1 StGB fällt. In diesem Fall ist aber an eine Strafbarkeit nach § 273 StGB zu denken.
d) Aussteller bzw. Eigentümer einer Urkunde können Dritten auch freiwillig eine Beweisführungsbefugnis einräumen. Mit dem Verbringen der Urkunde oder technischen Aufzeichnung in den Rechtsverkehr kann die Beweisführungsbefugnis aber nachträglich nicht mehr entzogen werden.
Beispiel: Den klassischen Fall stellt das Hinterlassen eines Zettels mit Kontaktdaten an der Windschutzscheibe eines Kfz nach einem Unfall dar.
Tathandlung
Tathandlungen des § 274 Abs. 1 Nr. 1 StGB sind das Vernichten, Beschädigen und Unterdrücken:
Eine Urkunde oder technische Aufzeichnung wird vernichtet, wenn ihre beweiserhebliche Substanz gänzlich aufgehoben wird.
Dies ist der Fall bei Zerstörung, Unkenntlich- oder Unleserlichmachen oder bei zusammengesetzten Urkunden (→ § 18 Rn. 24 ff.) durch Trennung von Beweiszeichen und Augenscheinsobjekt.
Eine Urkunde oder technische Aufzeichnung wird beschädigt, wenn ihre Brauchbarkeit als Beweismittel erheblich beeinträchtigt wird, also ihr Beweiswert gemindert wird.
Das ist zB der Fall, wenn wesentliche Teile des Inhalts der Urkunde oder die Unterschrift entfernt oder unleserlich gemacht werden.
Achtung: Auch das Verfälschen einer Urkunde iSd § 267 Abs. 1 Var. 2 StGB (→ § 18 Rn. 62 ff.) ist in der Regel eine Beschädigung iSd § 274 Abs. 1 Nr. 1 StGB. Jedoch tritt § 274 StGB hinter §§ 267, 268 StGB im Wege der Gesetzeskonkurrenz zurück (materielle Subsidiarität → Rn. 22).
Wird die Urkunde weder beschädigt noch vernichtet, kann die Urkunde noch unterdrückt werden:
Eine Urkunde oder technische Aufzeichnung wird unterdrückt, wenn dem Beweisführungsberechtigten die Möglichkeit ihrer Benutzung als Beweismittel dauerhaft oder vorübergehend entzogen oder vorenthalten wird, ohne sie dabei zu beschädigen oder zu vernichten.
Beispiel: A will tanken, ohne zu bezahlen, dabei aber unentdeckt bleiben. Er überklebt das Kfz-Kennzeichen seines Fahrzeugs samt Dienststempel der Zulassungsbehörde mit einer gelben Folie und zwei schwarzen Buchstaben „GB“, um den Anschein zu erwecken, es handele sich um ein britisches Kennzeichen. Er hofft, dadurch weder auf den Videoaufzeichnungen der Tankstelle noch im Straßenverkehr von der Polizei identifiziert werden zu können.
Lösungsaspekte: Hier ist zunächst an Urkundenfälschung gem. § 267 Abs. 1 StGB zu denken. Kfz-Kennzeichen bilden zusammen mit dem Dienststempel der Zulassungsbehörde und dem Fahrzeug grundsätzlich eine zusammengesetzte Urkunde. Ein Herstellen einer unechten Urkunde iSd § 267 Abs. 1 Var. 1 StGB scheidet hier jedoch aus, weil A den Aussteller der zusammengesetzten Urkunde, nämlich die Zulassungsbehörde unkenntlich gemacht hat, so dass das manipulierte Kfz-Kennzeichen nunmehr überhaupt keine Urkunde im Sinne des § 267 Abs. 1 StGB darstellt. Zwar wird der Eindruck erweckt, dass das Fahrzeug im Vereinigten Königreich zugelassen ist, allerdings lässt das Kennzeichen nach der Manipulation keine konkrete Behörde als Aussteller mehr erkennen. Aus diesem Grund scheidet auch ein Verfälschen iSd § 267 Abs. 1 Var. 2 StGB aus. Soweit hierfür nämlich eine Veränderung der gedanklichen Erklärung dergestalt erforderlich ist, dass der geänderte Inhalt nicht mehr von dem scheinbaren Aussteller herrührt, setzt auch das Verfälschen voraus, dass eine Aussteller erkennbar sein muss.
In Betracht kommt aber eine Strafbarkeit des A wegen Urkundenunterdrückung iSd § 274 Abs. 1 Nr. 1 Var. 3 StGB. Im Gegensatz zu anderen öffentlich-rechtlichen Ausweispapieren besteht an einem Kfz-Kennzeichen kein ausschließliches Beweisführungs- bzw. Gebrauchsrecht des Inhabers bzw. Fahrzeughalters, da die Benutzung des Kfz-Kennzeichens bei Teilnahme im Straßenverkehr nicht allein im Interesse des Halters erfolgt, sondern auch zugunsten eines etwaigen Identifizierungsbedürfnisses (etwa bei Unfällen oder Verkehrsverstößen) im Interesse anderer Verkehrsteilnehmer oder Hoheitsträger steht.
Objektiver Tatbestand des § 274 Abs. 1 Nr. 2 StGB: Unterdrückung beweiserheblicher Daten
Tatobjekt sind beweiserhebliche Daten. Der Begriff der Daten ist in § 202a Abs. 2 StGB, auf den in § 274 Abs. 1 Nr. 2 StGB verwiesen wird, legaldefiniert. Beweiserheblich sind Daten, wenn sie im Fall ihrer (sinnlichen) Wahrnehmung eine Urkunde darstellen würden.
Tathandlungen sind das Löschen, Unterdrücken, Unbrauchbarmachen oder Verändern:
Das Löschen entspricht dem Vernichten bei § 274 Abs. 1 Nr. 1 StGB, meint also das endgültige und vollständige Unkenntlichmachen gespeicherter Daten, was etwa durch Überschreiben oder Löschen geschehen kann.
Unbrauchbarmachen bedeutet, die Daten in ihrer Gebrauchsfähigkeit so zu beeinträchtigen, dass sie ihren bestimmungsgemäßen Zweck nicht mehr erfüllen können.
Verändern bedeutet – entsprechend dem Beschädigen bei § 274 Abs. 1 Nr. 1 StGB – jede inhaltliche Umgestaltung gespeicherter Daten, soweit sie nicht zur Unbrauchbarmachung führt.
Unterdrücken bedeutet – wie bei der gleichlautenden Formulierung in § 274 Abs. 1 Nr. 1 StGB – den dauerhaften oder vorübergehenden Ausschluss des Beweisführungsberechtigten von der Verwendung der Daten.
Subjektiver Tatbestand
In subjektiver Hinsicht ist (jedenfalls bedingter) Vorsatz hinsichtlich der zum objektiven Tatbestand gehörenden Tatumstände erforderlich. Zusätzlich verlangt der Tatbestand in subjektiver Hinsicht ein Handeln in der Absicht, einem anderen einen Nachteil zuzufügen (Nachteilszufügungsabsicht). Nach hM ist dafür das Bewusstsein erforderlich, dass der Nachteil notwendige Folge der Tat ist. Nicht vorausgesetzt ist aber, dass es der Täter „gerade“ auf diesen Nachteil ankommt. „Absicht“ ist hier also nicht im Sinne eines dolus directus 1. Grades zu verstehen. Es genügt in subjektiver Hinsicht ein Handeln mit dolus directus 2. Grades.
Nachteil meint jede Beeinträchtigung fremder Beweisführungsbefugnisse.
Beispiel: In Betracht kommen Vermögenseinbußen, aber zB auch die Beeinträchtigung des seelischen Empfindens durch das Vorenthalten von Briefen
Nicht ausreichend für die Annahme einer Nachteilszufügungsabsicht ist übrigens die Vereitelung des staatlichen Bußgeld- oder Strafanspruchs, da § 258 Abs. 5 StGB insoweit eine abschließende Regelung enthält.
Versuch
Der Versuch der Urkundenunterdrückung ist gem. § 274 Abs. 2 StGB strafbar iSd § 23 Abs. 1 Alt. 2 StGB.
Konkurrenzen
§ 274 StGB tritt gegenüber §§ 267, 268 StGB im Wege der materiellen Subsidiarität zurück, wenn eine Beschädigung des Beweismittels zugleich ein Verfälschen iSd § 267 Abs. 1 Var. 2 StGB darstellt.
§ 274 Abs. 1 Nr. 1 StGB geht wegen des zusätzlichen Merkmals der Nachteilszufügungsabsicht § 303 StGB und § 274 Abs. 1 Nr. 2 StGB geht § 303a StGB als lex specialis vor (Spezialität).
§ 273 StGB ist formell subsidiär gegenüber § 274 StGB.
Wissen für die Zweite Juristische Prüfung
Der Diebstahl einer Urkunde und die daraus resultierende Unterdrückung iSd § 274 Abs. 1 StGB sind in der Regel als eine prozessuale Tat iSd § 264 StPO anzusehen.
Studienliteratur und Übungsfall
Studienliteratur
Kudlich, Urkundsdelikte und Straßenverkehr, JA 2019, 272
Übungsfall
Schrott, Fortgeschrittenenklausur – Strafrecht: Digitales Kleinvieh im kontaktlosen Nahfeld, JuS 2022, 138