Kilian Wegner Strafrecht Besonderer Teil I: Delikte gegen die Person und die Allgemeinheit Licensed under CC-BY-4.0

§ 17: Widerstand gegen und tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte (§§ 113 ff. StGB)

Autor: Johannes Busch

Die in den §§ 113115 StGB geregelten Tatbestände erfassen Widerstandshandlungen in Vollstreckungssituationen (§ 113 StGB) und Tätlichkeiten gegenüber Vollstreckungsbeamten (§ 114 StGB) sowie einer Reihe weiterer, diesen gleichgestellten Personen (§ 115 StGB). Der Strafrahmen für die Tatbestände der §§ 113115 StGB wurde 2011 angehoben,Vgl. dazu Singelnstein/Puschke, NJW 2011, 3473. im Jahr 2017 wurde u. a. die Tathandlung des tätlichen Angriffs aus § 113 Abs. 1 StGB herausgelöst und als eigenständiger Tatbestand mit wiederum erhöhter Mindeststrafe in § 114 StGB ausgestaltet.Busch/Singelnstein, NStZ 2018, 510 ff. Schutzgut des § 113 StGB sind sowohl staatliche Vollstreckungshandlungen als solche als auch der Schutz der dazu berufenen Personen. Durch die Herauslösung des tätlichen Angriffs aus § 113 Abs. 1 StGB und Einführung des § 114 StGB steht der Schutz der zur Vollstreckung berufenen Beamt:innen bei § 113 StGB nun nicht mehr gleichermaßen im Vordergrund.Rengier, BT II, 25. Aufl. (2024), § 53 Rn. 2, 44.

In Prüfungsarbeiten kommt den §§ 113115 StGB keine herausgehobene Bedeutung zu. Insbesondere im Nachgang der Reform im Jahr 2017 kam es jedoch wieder vermehrt zu Entscheidungen höherer Instanzen, die auch grundlegende Fragen der Auslegung des Tatbestandes und der Konkurrenzverhältnisse betrafen.BGH NJW 2020, 2347. Hervorzuheben ist hier etwa die Entscheidung des KG, dass das Festkleben der Hände auf dem Asphalt mit Sekundenkleber noch vor Beginn einer (späteren) Vollstreckungshandlung als Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte einordnet (hierzu unten → Rn. 9 und Rn. 12).KG NJW 2023, 2792. Angesichts dieser Entscheidungen und des angehobenen Strafrahmens könnten die §§ 113115 StGB in den nächsten Jahren wieder häufiger Gegenstand von Prüfungen werden.

Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte (§ 113 StGB)

Grundlagen

Ursprünglich wurde § 113 StGB als Privilegierung zu § 240 StGB eingeführt, d. h. Nötigungsfälle in Vollstreckungssituationen sollten exklusiv nur durch diesen Spezialtatbestand erfasst werden und nicht auf von dem mit schärferer Strafandrohung versehenen § 240 StGB. Durch die Anhebung des Strafrahmens von § 113 StGB auf das Niveau der Nötigung ist dieser Privilegierungseffekt weitgehend verloren. Er macht sich nur noch dadurch bemerkbar, dass ein Rückgriff auf § 240 StGB in Vollstreckungssituationen gesperrt ist (s. zu den umstrittenen Details unten → Rn. 38 ff.).

Bei § 113 StGB handelt es sich um ein unechtes Unternehmensdelikt,Zum echten Unternehmensdelikt vgl. § 11 Abs. 1 Nr. 6 StGB. bei dem es nicht auf die Herbeiführung eines bestimmten Taterfolges ankommt, sondern nur darauf, dass dieser Taterfolg intendiert wird (vgl. dazu unten → Rn. 11).Zum unechten Unternehmensdelikt Radtke, in: MüKo-StGB, Bd. 1, 4. Aufl. (2020), § 11 Rn. 142 ff.; zu § 113 Wessels/Hettinger/Engländer, BT 1, 47. Aufl. (2023), § 14 Rn. 600.

Objektiver Tatbestand des § 113 Abs. 1 StGB

Der objektive Tatbestand des § 113 StGB setzt dreierlei voraus: als geeignetes Tatobjekt einen Vollstreckungsbeamten (1.) oder diesen gleichgestellte Personen (§ 115 StGB), als Tatsituation die Vornahme einer Vollstreckungshandlung (2.) und als Tathandlung das Leisten von Widerstand (3.).

Tatobjekt: Vollstreckungsbeamte

Vom Schutzbereich der Norm umfasst sind Amtsträger gem. § 11 Abs. 1 Nr. 2 StGB sowie Soldaten der Bundeswehr, soweit sie als Vollstreckungsbeamte tätig werden, also im Einzelfall zur Vollstreckung von Gesetzen, Rechtsverordnungen, Urteilen, Gerichtsbeschlüssen oder Verfügungen berufen sind.

Vollstreckungsbeamte

Vollstreckungsbeamte sind Personen, zu deren Aufgabe es gehört, dem in Gesetzen usw. zum Ausdruck kommenden hoheitlichen Willen gegebenenfalls durch Zwang im Einzelfall zur Durchsetzung zu verhelfen.Bosch, in: MüKo-StGB, Bd. 3, 4. Aufl. (2021), § 113 Rn. 10.

Beispiel: Typische Beispiele für Vollstreckungsbeamte sind Polizist:innen, Gerichtsvollzieher:innen und Richter:innen. Bei letzteren zeigt sich, dass die gesetzesvollstreckende Tätigkeit nicht im Mittelpunkt stehen muss, sondern dass es genügt, wenn die Tätigkeit (hier: sitzungspolizeiliche Maßnahmen) auch zum Aufgabengebiet gehört.

Erweitert wird der geschützte Personenkreis durch § 115 StGB (vgl. dazu unter → Rn. 34 ff.).

Tatsituation: Vornahme einer Vollstreckungshandlung

Der Wortlaut der Norm erfasst Vollstreckungsbeamte bei der Vornahme „einer solchen Diensthandlung“. Es genügt also nicht jede Diensthandlung eines Vollstreckungsbeamten, sondern es muss eine konkrete Vollstreckungshandlung vorliegen, bei der im Einzelfall der bereits konkretisierte Staatswille – nötigenfalls mit Zwangsmitteln – gegenüber Personen oder Sachen durchgesetzt werden soll.BGHSt 25, 313 (314).

Beispiel: Tatbestandlich erfasst werden Eingriffsmaßnahmen der Polizei, die sich aufgrund eines Tatverdachts oder einer Gefahrenprognose konkret gegen bestimmte Personen richten, also beispielsweise eine Identitätsfeststellung, Durchsuchung, vorläufige Festnahme oder die zwangsweise Durchsetzung einer Blutentnahme.Bosch, in: MüKo-StGB, Bd. 3, 4. Aufl. (2021), § 113 Rn. 12. Selbiges gilt für das Anhaltegebot einer Polizeibeamt:in gem. § 36 Abs. 5 StVO gegenüber verkehrswidrig handelnden Personen sowie die Vollstreckungstätigkeit eines Gerichtsvollziehers.Rengier, BT II, 25. Aufl. (2024), § 53 Rn. 7. Noch nicht zur Durchsetzung des konkretisierten Staatswillens kommt es bei allgemeinen Diensthandlungen wie Streifenfahrten der Polizei. Auch beim Begleiten eines Demonstrationszugs durch die Polizei oder die Beobachtung von Personengruppen, von denen möglicherweise Straftaten ausgehen, handelt es sich noch nicht um Vollstreckungshandlungen.KG NStZ 1989, 121.

In zeitlicher Hinsicht erfasst sind Tathandlungen „bei“ der Vornahme einer Vollstreckungshandlung, diese muss unmittelbar bevorstehen oder noch andauern, darf im Umkehrschluss also noch nicht beendet sein.Paeffgen, in: NK-StGB, 6. Aufl. (2023), § 113 Rn. 18. Über die eigentliche Vollstreckungshandlung hinaus ist somit auch Verhalten erfasst, das sich im unmittelbaren räumlichen und zeitlichen Zusammenhang abspielt und mit der Vollstreckungshandlung eine Einheit bildet.Wessels/Hettinger/Engländer, BT 1, 47. Aufl. (2023), § 14 Rn. 598.

Beispiel: Rückkehr zum Dienstfahrzeug nach einem Polizeieinsatz,BGH NJW 1982, 2081. Abtransport von sachlichen HilfsmittelnBayObLGSt 1987, 135.. In zeitlicher Hinsicht nicht mehr erfasst sein dürfte das weit vor der Vollstreckungshandlung liegende Festkleben auf einer Straße, um die später erwartete polizeiliche Räumung der Fahrbahn zu erschweren.Seel, HRRS 2023, 313 (316 f.); aA KG NJW 2023, 2792 (2794).

Tathandlung: Widerstand leisten

Zur Erfüllung des Tatbestandes muss gegen die Vollstreckungshandlung Widerstand mit Gewalt oder durch Drohung mit Gewalt geleistet werden.

Widerstand leisten

Widerstand leistet, wer gegenüber Vollstreckungsbeamten ein aktives nötigendes Verhalten an den Tat legt, mit dem eine Behinderung oder Erschwerung der Diensthandlung bezweckt wird.Rengier, BT II, 25. Aufl. (2024), § 53 Rn. 12.

Auf einen Widerstandserfolg kommt es nach dieser Definition nicht an, d. h. auch erfolglose Widerstandshandlungen sind vom Tatbestand umfasst. Bei § 113 StGB handelt es sich somit um ein unechtes Unternehmensdelikt. Nicht ausreichend sind dagegen bloß passive Tätigkeiten zur Erschwerung oder Verhinderung einer Diensthandlung wie Sitzblockaden oder die bloße Verweigerung der Mitwirkung.Bosch, in: MüKo-StGB, Bd. 3, 4. Aufl. (2021), § 113 Rn. 17.

Der Widerstand wird mit Gewalt geleistet, wenn er durch eine körperliche Kraftausübung erfolgt, die gegen die Person des Vollstreckungsbeamten gerichtet ist und daher für ihn körperlich spürbar ist.BGH NStZ 2015, 388. Einwirkungen auf Sachen sind nur dann ausreichend, wenn sie zumindest mittelbar auf die Person des Vollstreckungsbeamten wirken.BGH NStZ-RR 2020, 288 (Ls.).

Beispiele: Widerstand mit Gewalt wird angenommen beim Zufahren mit dem Pkw auf kontrollierende Polizist:innen, sodass diese zur Seite springen müssen;BGH NJW 1953, 672 (672 f.). ebenso beim Springen vor ein Polizeifahrzeug, um dieses an der Weiterfahrt zu hindernBayObLGSt 1988, 7 (8 f.)..

Kein Widerstand mit Gewalt liegt vor bei der bloßen Missachtung eines Haltezeichens ohne Zufahren auf Polizei, der bloßen Flucht vor der Polizei, auch wenn dabei andere Verkehrsteilnehmer:innen gefährdet werden,BGH NStZ 2013, 336 (336 f.). bei bloßem Sitzenbleiben und unkooperativem Verhalten bei Vollstreckungshandlungen.Rengier, BT II, 25. Aufl. (2024), § 53 Rn. 14.

Nach hM soll die Grenze zur Gewaltanwendung aber überschritten sein, wenn Personen gegen die Vollstreckungshandlungen mehr als nur das eigene Körpergewicht einsetzen, beispielsweise durch Festhalten bzw. Festketten an Objekten oder dem Stemmen gegen die Laufrichtung.Dagegen Bosch, in: MüKo-StGB, Bd. 3, 4. Aufl. (2021), § 113 Rn. 19.

In der Diskussion ist derzeit, ob das Festkleben auf einer Straße, beispielsweise bei Klimaprotesten, ein gewalttätiges Widerstandleisten darstellt. Dies wird in der Rechtsprechung teilweise unter Verweis auf eine Vergleichbarkeit mit dem Festketten bejaht.KG NJW 2023, 2792 (2794). Das Festkleben ist jedoch nicht unmittelbar gegen die zur Räumung eingesetzten Beamt:innen gerichtet und für diese auch nur mittelbar spürbar. Weder das Festkleben durch die Demonstrierenden noch die Räumung setzt einen erheblichen Kraftaufwand voraus, sodass bereits keine Vergleichbarkeit mit dem Festketten besteht. Eine solche Auslegung würde jede Widerstandshandlung erfassen und damit das Merkmal der Gewalt seiner tatbestandsbegrenzenden Funktion berauben.Seel, HRRS 2023, 313 (315).

Unter der Drohung mit Gewalt wird die Ankündigung der Ausübung von Gewalt verstanden. Die Auslegung erfolgt parallel zur Drohung in § 240 StGB (→ § 15 Rn. 22 ff.), wobei hier die Drohung mit anderen empfindlichen Übeln nicht ausreichend ist.

Subjektiver Tatbestand

Der Vorsatz muss sich auf alle objektiven Tatbestandsmerkmale (Vollstreckungsbeamte, Vollstreckungshandlung, Widerstand leisten) beziehen. Bei Irrtümern über die tatsächlichen Voraussetzungen dieser Tatbestandsmerkmale führt dies ggf. zu einem Tatbestandsirrtum nach § 16 Abs. 1 S. 1 StGB.Rengier, BT II, 25. Aufl. (2024), § 53 Rn. 33. Der Vorsatz muss sich nicht auf die Rechtmäßigkeit der Vollstreckungshandlung beziehen, da es sich dabei nach hM um eine objektive Bedingung der Strafbarkeit handelt (vgl. dazu unter → Rn. 21). Irrtümer, die den Bereich der Rechtmäßigkeit der Vollstreckungshandlung betreffen, sind in § 113 Abs. 3 S. 2, Abs. 4 StGB abschließend geregelt.

Rechtmäßigkeit der Vollstreckungshandlung, § 113 Abs. 3, 4 StGB

Der Schutzbereich des § 113 StGB erstreckt sich nur auf rechtmäßige Diensthandlungen. Die Absätze 3 und 4 regeln daher die Rechtsfolgen fehlender oder irrtümlich angenommener bzw. verkannter Rechtmäßigkeit.

Rechtmäßigkeit der Vollstreckungshandlung als objektive Bedingung der Strafbarkeit, § 113 Abs. 3 S. 1 StGB

Nach § 113 Abs. 3 S. 1 StGB entfällt die Strafbarkeit, wenn die Vollstreckungshandlung nicht rechtmäßig war (S. 1). Dies gilt selbst dann, wenn der Täter sie irrtümlich für rechtmäßig hielt (S. 2).

Der Maßstab zur Bestimmung der Rechtmäßigkeit soll nach hM nicht das zugrundeliegende Fachrecht (Verwaltungs-, Vollstreckungs- oder Strafprozessrecht), sondern ein spezifisch strafrechtlicher sein. Entscheidend ist danach lediglich, dass die äußeren Voraussetzungen des Eingreifens vorliegen: Die sachliche und örtliche Zuständigkeit muss eingehalten, wesentliche Förmlichkeiten beachtet und das Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen pflichtgemäß geprüft worden sein.BGH NJW 1968, 710 (714).

BeispielNach BGH NJW 2015, 3109.: Die Voraussetzungen für den Vollzug einer Abschiebung ergeben sich aus den §§ 34 ff. AsylG. Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, wird die zuständige Polizeibehörde aber dennoch mit dem Vollzug der Abschiebung beauftragt, kann nach der hM trotzdem eine rechtmäßige Vollstreckungshandlung iSd § 113 Abs. 2 StGB vorliegen, wenn die zuständige Polizei handelt, die wesentlichen Förmlichkeiten eingehalten und das bestehende Ermessen pflichtgemäß ausgeübt wurde. Leistet die von der rechtswidrigen Abschiebemaßnahme betroffene Person gegen deren Vollstreckung Widerstand, entfällt die Strafbarkeit trotz der (Verwaltungs-)Rechtswidrigkeit der Maßnahme nach dem strafrechtlichen Rechtswidrigkeitsbegriff nicht.

Den handelnden Amtsträger:innen soll aufgrund der Einsatzsituation, die meist ein schnelles Handeln erfordert, ein gewisses Irrtumsprivileg eingeräumt werden, wenn die tatsächlichen Voraussetzungen des Einschreitens falsch eingeschätzt wurden und nicht vorlagen.Rengier, BT II, 25. Aufl. (2024), § 53 Rn. 26 f. Dies gilt allerdings nicht bei schwerwiegenden Mängeln, wenn beispielsweise die rechtlichen Voraussetzungen einer Eingriffsbefugnis oder die tatsächlichen Voraussetzungen fahrlässigerweise verkannt wurden.Wessels/Hettinger/Engländer, BT 1, 45. Aufl. 2021, § 14 Rn. 608 f.

Das BVerfG hält diesen eingeschränkten strafrechtlichen Rechtmäßigkeitsmaßstab für grundsätzlich mit Verfassungsrecht vereinbar, verlangt aber, dass bei der Anwendung des § 113 StGB grundrechtliche Schutzgehalte berücksichtigt werden müssen.BVerfG NVwZ 2007, 1180 (1182).

Beispiel: Ein Einschreiten gegen Teilnehmer:innen einer durch Art. 8 GG geschützten Versammlung setzt als wesentliche Förmlichkeit in der Regel voraus, dass zuvor die Versammlung aufgelöst oder die Teilnehmer:innen ausgeschlossen wurden. Wird stattdessen die Teilnahme an einer Versammlung unmittelbar durch eine Ingewahrsamnahme beendet, liegt danach keine rechtmäßige Diensthandlung vor, die Strafbarkeit eines dagegen gerichteten Widerstandes scheidet daher regelmäßig gem. § 113 Abs. 3 S. 1 StGB aus.BVerfG NVwZ 2007, 1180 (1182 f.).

Weiterführendes Wissen: Gegen diesen spezifisch strafrechtlichen Rechtmäßigkeitsbegriff wird insbesondere in der Literatur Kritik formuliert.Übersicht zum Meinungsstand bei Paeffgen, in: NK-StGB, 6. Aufl. (2023), § 113 Rn. 32 ff. In Ablehnung eines Irrtumsprivilegs zu Lasten von Bürger:innen und zugunsten der vollstreckenden Staatsgewalt wird stattdessen ein materieller Rechtmäßigkeitsbegriff vorgeschlagen, bei dem sich die Rechtmäßigkeit akzessorisch aus den fachrechtlichen Vorgaben ergibt. Danach gibt es kein generelles Irrtumsprivileg für Amtsträger:innen; entscheidend ist vielmehr, ob das Strafprozess-, Verwaltungs- oder Vollstreckungsrecht Einschränkungen in Form von Verdachts-, Gefahrtatbestände oder Regeln über die vorläufige Vollstreckbarkeit enthält.Roxin/Greco, AT I, 5. Aufl. (2020), § 17 Rn. 11 ff. Für diese Sichtweise spricht vor allem das Prinzip der Einheit der Rechtsordnung sowie die Geltung des Gesetzesvorbehaltes, nach dem es für jeden staatlichen Vollstreckungsakt einer Rechtsgrundlage bedarf.Wolters, in: SK-StGB, Bd. 2, 9. Aufl. (2019), § 113 Rn. 10 ff. Daneben wurde in der Vergangenheit ein sog. wirksamkeitsorientierter Rechtmäßigkeitsbegriff vertreten, der noch weitergehender als der strafrechtliche Begriff alle Vollstreckungshandlungen als rechtmäßig ansieht, die nicht nach § 44 VwVfG unwirksam sind. Diese Ansicht wird aber überwiegend als zu weitgehend abgelehnt.Rosenau, in: LK-StGB, Bd. 7, 13. Aufl. (2021), § 113 Rn. 35.

Die Rechtsnatur des § 113 Abs. 3 S. 1 StGB ist umstritten. Wegen der ausdrücklich angeordneten Rechtsfolge ist die praktische Relevanz der dogmatischen Einordnung für die Klausur allerdings gering. Nach hM handelt es sich um eine objektive Bedingung der Strafbarkeit, die durch die Irrtumsregelung in Abs. 4 modifiziert wird. Die Prüfung sollte daher erst im Anschluss an den subjektiven Tatbestand in einem eigenen Prüfungspunkt erfolgen.Vgl. die Aufbauempfehlung bei Rengier, BT II, 25. Aufl. (2024), § 53 Rn. 4.

Weiterführendes Wissen: Von anderen wird die Rechtmäßigkeit der Vollstreckungshandlung teilweise als unrechtskonstituierendes TatbestandsmerkmalEser, in: Schönke/Schröder, 30. Aufl. (2019), § 113 Rn. 20. oder als RechtfertigungsgrundBosch, in: MüKo-StGB, Bd. 3, 4. Aufl. (2021), § 113 Rn. 30 angesehen.

Irrtümer über die Rechtmäßigkeit der Vollstreckungshandlung, § 113 Abs. 3 S. 2, Abs. 4 StGB

Entsprechend der Einordnung der Rechtmäßigkeit der Vollstreckungshandlung als objektive Bedingung der Strafbarkeit (vgl. → Rn. 21) richten sich die Folgen eines Irrtums über dieses Merkmal nicht nach den allgemeinen Regeln der §§ 16, 17 StGB, sondern nach den abschließenden Regelungen in § 113 Abs. 3 S. 2 und Abs. 4 StGB. Erfasst sind dabei sowohl Fehlvorstellungen auf tatsächlicher Ebene als auch auf Ebene der rechtlichen Bewertung.Wessels/Hettinger/Engländer, BT 1, 47. Aufl. (2023), § 14 Rn. 614 f. Dabei sind zwei Konstellationen zu unterscheiden:

Hält der Täter eine rechtswidrige Vollstreckungshandlung irrtümlich für rechtmäßig, ist der dagegen gerichtete Widerstand nicht strafbar, § 113 Abs. 3 S. 2 StGB.

In der umgekehrten Konstellation, wenn also der Täter eine rechtmäßige Vollstreckungshandlung irrtümlich für rechtswidrig hält, trifft § 113 Abs. 4 StGB eine abschließende Regelung. Diese ähnelt strukturell der Behandlung des Verbotsirrtums gem. § 17 StGB, weist in der Prüfung aber einige Besonderheiten auf. Zunächst wird – parallel zu § 17 StGB – zwischen vermeidbaren und unvermeidbaren Irrtümern unterschieden. Wie dort ist zu fragen, ob der Täter alle seine „individuellen Fähigkeiten und Erkenntnismöglichkeiten, die Einholung von vertrauenswürdigen Auskünften eingeschlossen“ eingesetzt hat, um zur Unrechtseinsicht zu gelangen.Rengier, AT, 15. Aufl. (2023), § 31 Rn. 20. War der Irrtum nach diesem Maßstab vermeidbar, kann das Gericht gem. Abs. 4 S. 1 die Strafe nach seinem Ermessen (§ 49 Abs. 2 StGB) mildern.Insofern besteht hier eine Abweichung von § 17 StGB, der für vermeidbare Irrtümer eine Milderung nach § 49 Abs. 1 StGB vorsieht. War der Irrtum hingegen unvermeidbar, erhöht Abs. 4 S. 2 die Anforderungen gegenüber der allgemeinen Regel des § 17 StGB. Die Strafbarkeit entfällt danach nur, wenn zusätzlich zur Unvermeidbarkeit des Irrtums die Einlegung von Rechtsbehelfen unzumutbar war, beispielsweise bei einem drohenden irreparablen Schaden.Rengier, BT II, 25. Aufl. (2024), § 53 Rn. 34. Wären hingegen Rechtsbehelfe zumutbar gewesen, um die Vollstreckungshandlung abzuwehren, kann das Gericht – wie bei Abs. 4 S. 1 – die Strafe nach seinem Ermessen mildern oder auch ganz von einer Bestrafung absehen.Wessels/Hettinger/Engländer, BT 1, 47. Aufl. (2023), § 14 Rn. 615: persönlicher Strafmilderungs- bzw. Strafausschließungsgrund.

Strafzumessung: Besonders schwere Fälle, § 113 Abs. 2 StGB

Absatz 2 enthält eine strafschärfende Strafzumessungsregel für besonders schwere Fälle und nennt für diese drei Regelbeispiele. Die Strafzumessung sollte – wie sonst auch – erst im Anschluss an die Schuld erörtert werden.

Für die Nr. 1 genügt bereits das bloße Bei-Sich-Führen einer Waffe oder eines anderen gefährlichen Werkzeugs, eine Verwendung im konkreten Fall wie bei § 224 StGB (→ § 8 Rn. 10 ff.) ist nicht erforderlich. Die zuvor erforderliche Verwendungsabsicht hat der Gesetzgeber im Jahr 201752. StÄG vom 23. Mai 2017, BGBl. 2017 I S. 1226. gestrichen und die Norm dadurch an § 244 Abs. 1 Nr. 1 lit. a) StGB angeglichen. Wie dort bestehen seitdem die gleichen praktisch nicht lösbaren Anwendungsprobleme der Norm, etwa, die Gefährlichkeit des Gegenstandes ohne Rückgriff auf die konkrete Verwendung zu bestimmen (→ BT II § 3 Rn. 12 ff.).Busch/Singelnstein, NStZ 2018, 510 (514).

Für die Verwirklichung von Nr. 2 muss der Täter den Angegriffenen durch eine Gewalttätigkeit in die Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung bringen. Die Gefahrerfolge entsprechen den Regelbeispielen in § 250 Abs. 1 Nr. 1 lit. c) StGB bzw. § 250 Abs. 2 Nr. 3 lit. b) StGB (vgl. dazu → § 6 Rn. 15 f. bzw. § 6 Rn. 35 f.) und müssen zumindest von bedingtem VorsatzWessels/Hettinger/Engländer, BT 1, 47. Aufl. (2023), § 14 Rn. 619. umfasst sein. Gewalttätigkeit geht über die Gewalt bei § 240 StGB im Sinne einer körperlichen Wirkung hinaus und verlangt eine Aggression mit unmittelbarem Kontakt der Körpersubstanz der angegriffenen Person.Wolters, in: SK-StGB, Bd. 2, 9. Aufl. (2019), § 113 Rn. 30.

Das Regelbeispiel der gemeinschaftlichen Begehung in Nr. 3 entspricht dem Merkmal in § 224 Abs. 1 Nr. 4 (vgl. dazu → § 8 Rn. 25 ff.).

Prüfungsschema

  1. Tatbestand

    1. Objektiver Tatbestand

      1. Tatobjekt: Vollstreckungsbeamte

      2. Tatsituation: Vornahme einer Vollstreckungshandlung

      3. Tathandlung: Widerstand leisten mit Gewalt oder unter Drohung mit Gewalt

    2. Subjektiver Tatbestand

  2. Rechtmäßigkeit der Vollstreckungshandlung, § 113 Abs. 3, Abs. 4 StGB

  3. Rechtswidrigkeit, Schuld

Tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte (§ 114 StGB)

Grundlagen

Der 201752. StÄG vom 23. Mai 2017, BGBl 2017 I S. 1226. neu eingeführte Tatbestand regelt den zuvor als Tatbestandsvariante des § 113 StGB ausgestalteten tätlichen Angriff auf Vollstreckungsbeamte. Gegenüber § 113 StGB wartet die Norm mit einer erhöhten Mindeststrafe (drei Monate Freiheitsstrafe) sowie einem durch den fehlenden Bezug zu einer Vollstreckungshandlung erweiterten Anwendungsbereich auf.

Tatbestand

Ein tätlicher Angriff ist jede mit feindseligem Willen unmittelbar auf den Körper des Beamten zielende Einwirkung, unabhängig von ihrem Erfolg.So zuletzt in Fortführung der ständigen Rechtsprechung BGH NJW 2020, 2347 (2347). Angesichts der zwingenden FreiheitsstrafeEine Geldstrafe ist nur unter den Voraussetzungen des § 47 Abs. 2 StGB möglich. ist insbesondere die untere Grenze des Tatbestandsmerkmals von Relevanz. Mit guten Argumenten wird dabei von zahlreichen Stimmen in der Literatur wegen der Mindeststrafe und der individuellen Schutzrichtung des Tatbestandes gefordert, dass die Einwirkung eine gewisse Erheblichkeitsschwelle erreichen oder eine Eignung zur Rechtsgutsverletzung aufweisen muss.Roggan, KriPoZ 2020, 144 (145); Übersicht bei Dallmeyer, in: BeckOK-StGB, 62. Ed. (Stand: 01.02.2024), § 114 Rn. 5. Die – mittlerweile auch durch den BGH bestätigte – Rechtsprechung hält ausgehend vom gleichen Wortlaut an der bisherigen Auslegung des tätlichen Angriffs fest und hält eine Einschränkung nicht für erforderlich.BGH NJW 2020, 2347 (2347 f.). Auch wenn diese Rechtsprechungslinie begriffliche Klarheit suggeriert, lagen dieser bisher Konstellationen zugrunde, bei der auch die Literaturansicht von einem tätlichen Angriff ausgehen würde.Rengier, BT II, 25. Aufl. (2024), § 53 Rn. 49. Ungeklärt sind demnach Konstellationen, in denen die Handlung bereits ungeeignet zur Verletzung der durch die Norm geschützten individuellen Rechtsgüter der Vollstreckungsbeamt:innen sind, beispielsweise leichtes Rempeln oder Schubsen.Singelnstein, NJW 2020, 2349. Hier scheint eine Begrenzung parallel zu § 223 Abs. 1 StGB (→ § 7 Rn. 20 ff.) angemessen, bei der bloße Bagatellen vom Tatbestand auszunehmen sind.Rengier, BT II, 25. Aufl. (2024), § 53 Rn. 49.

Beispiel: Beim Anspucken scheint eine Differenzierung wie folgt sinnvoll: Erfolgt dies auf bekleidete Körperteile, erfüllt die Handlung grundsätzlich mangels Verletzungseignung bzw. Erheblichkeit nicht den Tatbestand. Anders liegt es, wenn das Tatopfer im Gesicht getroffen wird, eine auf diesem Wege übertragbare Krankheit vorliegt oder dies unter Verstoß gegen infektionsschutzrechtliche Auflagen (Abstands- und Maskenregelungen) erfolgt.Dallmeyer, in: BeckOK-StGB, 62. Ed. (01.02.2024), § 114 Rn. 6; aA LG Fürth NStZ-RR 2021, 169 (170), das – wenig überzeugend – maßgeblich darauf abstellt, dass das Anspucken „besonders ekelerregend“ sei.

Tatobjekt ist auch weiterhin der Vollstreckungsbeamte (→ Rn. 6), nicht erforderlich ist hingegen, dass diese sich in einer Vollstreckungssituation befinden. Erfasst sind somit – zusätzlich zu den durch § 113 StGB erfassten Vollstreckungshandlungen – auch allgemeine Diensthandlungen wie Streifenfahrten, Vernehmungen, Befragungen oder Unfallaufnahmen.BT-Drs. 18/11161, S. 9.

Soweit die Diensthandlung eine Vollstreckungshandlung im Sinne des § 113 Abs. 1 StGB ist, gelten die Regelungen zur Rechtmäßigkeit der Vollstreckungshandlung entsprechend, § 114 Abs. 3 StGB.

Prüfungsschema

  1. Tatbestand

    1. Objektiver Tatbestand

      1. Tatobjekt: Vollstreckungsbeamte

      2. Tathandlung: Tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte

    2. Subjektiver Tatbestand

  2. Bei Vollstreckungshandlungen: Rechtmäßigkeit, §§ 114 Abs. 3, 113 Abs. 3, 4 StGB

  3. Rechtswidrigkeit

  4. Schuld

Vollstreckungsbeamten gleichstehende Personen (§ 115 StGB)

§ 115 StGB erweitert den persönlichen Schutzbereich der §§ 113, 114 StGB und stellt drei weitere Personengruppen, den Vollstreckungsbeamten gleich.

Insbesondere Jagd- und Fischereiaufseher sind Personen, die nach Abs. 1 ohne Amtsträger zu sein, Rechte und Pflichten von Polizeibeamten haben oder Ermittlungspersonen der Staatsanwaltschaft sind.Vgl. § 25 Abs. 2 BJagdG, weitere Beispiele bei Bosch, in: MüKo-StGB, Bd. 3, 4. Aufl. (2021), § 115 Rn. 4 ff.

Von Abs. 2 erfasst sind Personen, die zur Unterstützung bei der Diensthandlung hinzugezogen sind. Beispielhaft genannt sei hier das medizinische Personal bei körperlichen Untersuchungen gem. § 81a StPO oder Mitarbeiter:innen privater Abschleppdienste, die im Auftrag der Polizei Fahrzeuge abschleppen.Dallmeyer, in: BeckOK-StGB, 62. Ed. (Stand: 01.02.2024), § 115 Rn. 3.

Abs. 3 erweitert den Anwendungsbereich der §§ 113, 114 StGB um die dort genannten professionellen Hilfeleistenden.Zuletzt erweitert um Hilfeleistende des ärztlichen Notdienstes und der Notaufnahme, vgl. dazu Engländer, NStZ 2021, 385 (386).

Konkurrenzen, Verhältnis zu anderen Tatbeständen

§ 113 StGB regelt einen speziellen Fall der Nötigung und ist damit im Verhältnis zu § 240 StGB lex specialis und verdrängt diesen mit Sperrwirkung.BGHSt 48, 233 (238); differenzierend Bosch, in: MüKo-StGB, Bd. 3, 4. Aufl. (2021), § 113 Rn. 64.

Ob der Rückgriff auf § 240 StGB auch dann gesperrt ist, wenn in einer Vollstreckungssituation mit einem (bei § 113 StGB nicht tatbestandsmäßigen) empfindlichen Übel gedroht wird, ist umstritten. Zum Teil wird ein Rückgriff auf § 240 StGB erlaubt, wenn die Voraussetzungen des § 113 StGB nicht vorliegen; dabei sollen die Abs. 3 und 4 analog anwendbar sein.Heger, in: Lackner/Kühl/Heger, 30. Aufl. (2023), § 113 Rn. 26. Da § 113 StGB aber den Schutz der Willensfreiheit von Vollstreckungsbeamten abschließend regelt, erscheint es überzeugender, auch in diesen Konstellationen bei der Sperrwirkung zu bleiben.Wessels/Hettinger/Engländer, BT 1, 47. Aufl. (2023), § 14 Rn. 601.

Kein Spezialitätsverhältnis zwischen § 113 StGB und § 240 StGB liegt hingegen vor, wenn die Drohung außerhalb der tatbestandlichen Grenzen des § 113 StGB erfolgt und beispielsweise gar keine Vollstreckungssituation gegeben ist.Wolters, in: SK-StGB, Bd. 2, 9. Aufl. (2019), § 113 Rn. 25. In diesem Fall ist § 240 StGB anwendbar.

Verwirklicht der Täter sowohl § 114 Abs. 1 StGB als auch § 113 Abs. 1 StGB stehen die beiden Tatbestände wegen ihrer unterschiedlichen Schutzrichtungen aus Klarstellungsgründen in Tateinheit (§ 52 StGB) zueinander.BGH NJW 2020, 2347 (2348).

Übungsfall und weiterführende Studienliteratur

  • Esser/ Nerb, Fortgeschrittenenklausur – Strafrecht: „Widerstand ist zwecklos“, JuS 2023, 427

  • Puschke/Rienhoff, Zum strafrechtlichen Schutz von Polizeibeamtinnen und -beamten, JZ 2017, 924

  • Busch/Singelnstein, Was ist ein „tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte“?, NStZ 2018, 510