Kilian Wegner Strafrecht AT I: Übungsfälle Licensed under CC-BY-4.0

Einheit 10: Erlaubnistatumstandsirrtum (Sachverhalt)

Fall 1

(nach BGH NStZ 2012, 272)

A ist der für die Disziplin und Ordnung zuständige „Sergeant at Arms” im örtlichen „Chapter“ des Motorradclubs „Hells Angels”. Es gibt ernstzunehmende Gerüchte, dass ein Mitglied des verfeindeten Clubs der „Bandidos“ ihn (A) töten oder zumindest schwer verletzen will. Zugleich ermitteln die Strafverfolgungsbehörden gegen Mitglieder der „Hells Angels” wegen unterschiedlicher Delikte. In diesem Zusammenhang ist eine (formell und materiell rechtmäßig angeordnete) Durchsuchung geplant, die am frühen Morgen stattfinden soll. Da A als gewaltbereit eingeschätzt wird und – mit behördlicher Erlaubnis – über Schusswaffen verfügt, wird ein Spezialeinsatzkommando eingesetzt, um gewaltsam in das Haus des A einzudringen, diesen im Schlaf zu überraschen, eine „stabile Lage” herzustellen und eine ungestörte Durchsuchung zu ermöglichen. Gehen Sie davon aus, dass diese geplante Vorgehensweise eine verhältnismäßige Umsetzung des Durchsuchungsbeschlusses darstellt.

Zehn Beamte umstellten das Haus des A, um seine Flucht auszuschließen. Fünf Beamte postierten sich an der Vorderfront nahe der Eingangstür. Darunter befand sich der Beamte B als Türöffnungsspezialist. Er soll mit einem hydraulischen Gerät das Türschloss sowie zwei Zusatzverriegelungen zerstören, die der A nach früheren Einbrüchen von Dieben in sein Haus angebracht hatte, die Tür dann mit einer Ramme aus dem Rahmen drücken und so das Eindringen ermöglichen. Im Haus des A brennt zum Zeitpunkt des Einsatzbeginns kein Licht. B setzt, vor der Haustür kniend, das hydraulische Gerät zur Türöffnung zwischen Zarge und Türblatt an und bediente die Hydraulik, worauf eine der Verriegelungen mit lautem Knacken zerbrach. Der Beamte bringt das Gerät danach an der rechten Türseite in Höhe des Türschlosses an, das sodann mit lautem Knacken aufgebrochen wird. Schließlich musste in einem dritten Arbeitsgang noch eine letzte Türverriegelung an der Oberkante der Tür geöffnet werden. Die Ramme zum Eindrücken der Tür wurde schon herbeigeholt.

Inzwischen war A, der zusammen mit seiner Verlobten im Obergeschoss geschlafen hatte, von dieser geweckt worden, weil sie Geräusche gehört hatte; A versucht vergeblich, durch das Schlafzimmerfenster Personen zu erkennen. Er nimmt an, dass er das Opfer des angekündigten Überfalls von den „Bandidos” werden solle. Er nimmt seine Pistole, lädt sie mit einem Magazin mit 8 Patronen und betätigt den Lichtschalter für die Beleuchtung von Flur und Treppe. Dann geht A die Treppe hinab und nimmt wahr, dass trotz des eingeschalteten Lichts weiter an der Haustür gearbeitet wird. Die Beamten haben zwar über die Hörsprecheinrichtung ihrer Helme die Meldung „Licht” erhalten, gehen aber gleichwohl weiter verdeckt vor und geben sich nicht zu erkennen. Aus der Fortsetzung der Aufbruchstätigkeiten an der Haustür trotz Einschaltung der Beleuchtung im Hause schließt A, dass es sich nicht um „normale Einbrecher“ handelt. Dass es sich um einen Polizeieinsatz handeln könnte, kommt ihm nicht in den Sinn.

Durch zwei 10,5 mal 44 cm große Ornamentgläser in der Haustür kann A keine Einzelheiten erkennen, sieht aber Umrisse einer Person. Er bleibt am Treppenabsatz in Deckung stehen und ruft: „Verpisst euch!”, was jedoch von den Beamten nicht gehört wird, die das Aufbrechen der Haustür fortsetzen. A ist sich nun sicher, dass es sich um die „Bandidos“ handelt, die ihm und seiner Verlobten nach dem Leben trachten.

In dieser von ihm als lebensbedrohlich empfundenen Situation gibt A, der davon ausgeht, er würde alsbald durch die Tür oder sofort nach dem unmittelbar drohenden Aufbrechen der Tür von den vermeintlichen Angreifern beschossen werden, zu seiner Verteidigung 2 Schüsse auf die Tür ab, die der Bewegung der Person folgen, die sich an der Tür zu schaffen macht und die sich gerade aus gebückter Position aufrichtet. Bei der Schussabgabe nimmt A billigend in Kauf, dass ein Mensch tödlich getroffen werden kann. Der erste Schuss, der 111,5 cm über dem Boden die Haustür durchschlug, geht fehl; der zweite durchschlägt 121 cm über dem Boden die Tür und trifft B unter den erhobenen linken Arm. Das Geschoss dringt durch die Öffnung des Schutzpanzers am Oberarm in den Brustkorb ein und verletzt B tödlich.

Nun ruft ein anderer Beamter: „Sofort aufhören zu schießen. Hier ist die Polizei.” A legt die Waffe sofort weg, läuft zum Fenster und ruft: „Wie könnt ihr so was machen? Warum habt ihr nicht geklingelt? Wieso gebt ihr euch nicht zu erkennen?”. Er lässt sich widerstandslos verhaften.

Strafbarkeit des A wegen eines Tötungsdelikts?