Sachverhalt
A hat bei L fünf Kästen Bier für 100 EUR gekauft, ihre Willenserklärung aber wegen Erklärungsirrtums angefochten, da sie Wein bestellen wollte (siehe dazu Grundfall zur Anfechtung I).
A hat den Kaufpreis gleich vor Ort mit einem 100-Euro-Schein bar bezahlt. L hat diesen Schein separat verwahrt. Nach Aufklärung der Verwechslung fordert sie ihr Geld von L zurück.
Zu Recht?
Lösungsvorschlag
Dieser Übungsfall ist ein „Grundfall“ ohne größere Probleme. Er dient dazu, Ihnen „am Normalfall“ die inhaltlichen Grundlagen, insbesondere die Voraussetzungen und den Prüfungsaufbau der einschlägigen Normen zu vermitteln.
Die folgende Darstellung zeigt Ihnen eine wichtige Unterscheidung: einerseits gibt es Gedanken, die Sie sich im Rahmen der Lösung eines Falls machen (= Prüfung im Kopf). Andererseits gibt es Inhalte, die Sie tatsächlich zu Papier bringen (= Prüfung auf dem Papier). Die Prüfung im Kopf fällt dabei oft viel umfassender aus als die Prüfung auf dem Papier.
Alles, was im Folgenden als Frage oder Aufforderung formuliert ist oder kursiv dargestellt, sollte sich in Ihrem Kopf und evtl. auch in Ihrer Lösungsskizze abspielen. In die ausformulierte Klausurlösung sollten hingegen nur die nicht-kursiv gehaltenen Inhalte Eingang finden. Ein ausformuliertes Gutachten wird hier nicht abgebildet.
Vorüberlegung: Was ist Anspruchsziel und welche AGL kommen deswegen in Betracht?
A möchte ihre gezahlten 100 EUR zurück
Mit welcher AGL beginnen Sie?
Grund: Sachenrechtliche Ansprüche werden grds. vor bereicherungsrechtlichen Ansprüchen geprüft. Ergebnisse aus der sachenrechtlichen Prüfung können nämlich Relevanz für die bereicherungsrechtliche Prüfung entfalten. Details lernen Sie im Laufe des Studiums.
A gegen L auf Herausgabe des 100-Euro-Scheins, § 985 BGB
Normanalyse: Was ist Rechtsfolge, was Voraussetzung von § 985 BGB?
A als Anspruchsinhaberin = Eigentümerin des 100-Euro-Scheins
Wie prüfen Sie hier?
Chronologisch, also in der zeitlichen Reihenfolge
Mit welcher Feststellung beginnen Sie also Ihre Prüfung?
Ursprünglich: A = Eigentümerin des 100-Euro-Scheins
Wie könnte A ihr Eigentum verloren haben?
Verlust des Eigentums an L, § 929 S. 1 BGB?
Normanalyse: Was ist Rechtsfolge, was Voraussetzung von § 929 S. 1 BGB?
Übergabe (+)
Einigung
Vorüberlegung: Was ist eine Einigung? Welche Vorschriften des BGB sind daher anzuwenden?
Einigung = dinglicher Vertrag
Anwendung der Vorschriften des BGB AT
Wie kommt eine Einigung daher zustande? (Definition)
Zwei korrespondierende Willenserklärungen, Antrag und Annahme, gerichtet auf Eigentumsübertragung, vgl. §§ 145, 147 BGB
Wie haben sich A und L hier geeinigt?
Einigung über Eigentumsübergang jedenfalls konkludent mit Übergabe
Vorüberlegung: Da die Einigung ein Vertrag ist und die Normen des BGB AT Anwendung finden: Welche Thematik könnte hier in Bezug auf die Wirksamkeit der Einigung relevant werden?
A hat sich beim Abschluss des Kaufvertrags geirrt: Versprecher bzgl. des Kaufge-genstands, Bier statt Wein.
Wirkt sich der Versprecher der A bzgl. Bier/Wein auch bei der dinglichen Einigung aus?
Welche Prinzipien sind an dieser Stelle zu beachten?
Trennungsprinzip: Verpflichtungsgeschäft (Kaufvertrag) und Verfügungsgeschäft (dingliche Einigung) sind rechtlich voneinander zu trennen.
Abstraktionsprinzip: Die Wirksamkeit des Verpflichtungsgeschäfts (Kaufvertrag) hat keine Auswirkungen auf die Wirksamkeit des Verfügungsgeschäfts (dingliche Einigung).
Wirkt sich der Erklärungsirrtum im Rahmen des Kaufvertrags (Verpflichtungsgeschäft) nun auf die Willenserklärung der A im Rahmen der dinglichen Einigung (Verfügungsgeschäft) aus? Die Frage können Sie recht klar beantworten, wenn Sie sich verdeutlichen, was diese Willenserklärung konkret beinhaltet.
A erklärt bei der dinglichen Einigung: Willst Du, B, Eigentümer des 100-Euro-Scheins werden? (Sachenrechtlicher Minimalkonsens)
Hat sich A dabei geirrt? Konsequenz?
Nein
Keine Auswirkung des Versprechers auf die Einigung.
Dieses Ergebnis ist letztlich recht klar. Im Gutachten können Sie die Thematik daher entweder ganz weglassen, da Sie schon dadurch zeigen, dass Sie das Trennungs- und Abstraktionsprinzip verstanden haben. Oder Sie stellen das Ergebnis allenfalls kurz fest. Hierfür spricht, dass Sie ein Gutachten schreiben und die Lösung erst mit dieser Feststellung wirklich vollständig ist. Achten Sie dabei darauf, auch hier mit der Rechtsfolge der Anfechtung zu arbeiten.
Bei der konkludenten Einigung erklärt A, dass B Eigentümer des 100-Euro-Scheins werden soll.
Das wollte sie auch erklären.
kein Anfechtungsgrund, keine Nichtigkeit nach § 142 I BGB
Bilden Sie (Zwischen-)Ergebnisse.
Zwischenergebnis
A hat das Eigentum an dem 100-Euro-Schein nach § 929 S. 1 BGB an L verloren.
Zwischenergebnis
A ist nicht Eigentümerin des 100-Euro-Scheins.
Ergebnis
A gegen L auf Herausgabe des 100-Euro-Scheins aus § 985 BGB (-)
Prüfen Sie weiter mit § 812 I 1 Alt. 1 BGB. Vor dem Hintergrund der obigen Eigentumsprüfung: Was ist das Anspruchsziel?
A gegen L auf Rückübereignung und Herausgabe des 100-Euro-Scheins, § 812 I 1 Alt. 1 BGB
Normanalyse: Was ist Rechtsfolge, was Voraussetzung von § 812 I 1 Alt. 1 BGB?
Anspruchsgegner (L) hat etwas erlangt
Wie ist „etwas erlangt“ definiert?
etwas erlangt = jeder vermögenswerte Vorteil
Subsumtion: Was wurde hier erlangt? Seien Sie rechtlich präzise.
Eigentum und Besitz an dem 100-Euro-Schein
Hinweis: Das „erlangte Etwas“ juristisch präzise formulieren
Durch Leistung der Anspruchsinhaberin (A)
Wie ist „durch Leistung“ definiert?
Durch Leistung = bewusste, zweckgerichtete Mehrung fremden Vermögens
Subsumtion: Welchen Zweck verfolgte A mit Ihrer Zahlung? Warum hat sie gezahlt? Formulieren Sie juristisch präzise!
A zahlte in Erfüllung der vermeintlich bestehenden Verpflichtung nach § 433 II BGB aus dem Kaufvertrag bewusst, um Ls Vermögen zu mehren
Ohne Rechtsgrund
Vorüberlegung: Was käme als Rechtsgrund in Betracht?
Kaufvertrag (§ 433 BGB)
Müssen Sie dies hier ausführlich prüfen? Begründen Sie!
Nein. Es wurde bereits im Ausgangsfall geprüft und hier im Sachverhalt vorgegeben, dass zwar zunächst ein Kaufvertrag zustande gekommen ist, dieser aber wegen Anfechtung aufgrund Erklärungsirrtums nichtig ist.
Wie gehen Sie in diesem Fall vor?
Verweis nach oben.
Wie sieht das aus? Führen Sie die Prüfung zu Ende.
Kaufvertrag infolge Anfechtung von Anfang an nichtig gem. § 142 I BGB (s.o.)
ohne Rechtsgrund (+)
Ergebnis
A gegen L auf Rückübereignung und Herausgabe des 100-Euro-Scheins aus § 812 I 1 Alt. 1 BGB (+)
Verständnisfrage: Vorliegend wurden Ansprüche aus § 985 BGB und § 812 I 1 Alt. 1 BGB geprüft. Hätte A mit EC-Karte bezahlt oder hätte L die 100 EUR in seine Kasse zu seinen anderen Einnahmen gelegt oder würde der Sachverhalt gar keine Informationen zur Art der Zahlung enthalten, müssten Sie trotzdem beide Anspruchsgrundlagen prüfen? Begründen Sie anhand der Voraussetzungen von § 985 BGB.
§ 985 setzt voraus: Anspruchsteller = Eigentümer
Eigentum setzt Sachqualität (§ 90 BGB) voraus.
Kartenzahlung
Es gibt kein Geld als Sache und somit kein Eigentum.
§ 985 BGB muss GAR NICHT geprüft werden.
100 EUR werden zu anderen Einnahmen gelegt
Geldscheine (und Münzen) sind Sachen i.S.d. § 90 BGB. § 985 BGB kommt daher in Betracht.
Werden Geldscheine (und Münzen) aber in eine Kasse gelegt, vermischen sie sich mit anderen Sachen des Verkäufers.
Nach §§ 948 I, 947 I BGB werden Käufer und Verkäufer Miteigentümer.
Käufer kann jedenfalls nicht als Alleineigentümer (denn das ist er nicht mehr) Herausgabe der Sache verlangen.
§§ 948 I, 947 I BGB werden im Sachenrecht behandelt und sind idR im Rahmen von BGB AT nicht vorausgesetzt. Das bedeutet, Sie müssen § 985 BGB in diesen Fällen auch NICHT prüfen.
Keine Informationen
Wird nicht angegeben, wie gezahlt wurde, kann man auch nicht davon ausgehen, dass bar gezahlt wurde. Auch dann ist § 985 BGB NICHT zu prüfen.
Scheine wurden separat aufbewahrt
Ist die Prüfung von § 985 gewollt, steht im Sachverhalt (wie hier), dass die Scheine wurden separat aufbewahrt wurden.
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