Olivia Czerny BGB AT – Anfängerfälle Licensed under CC-BY-4.0

010_Grundfall zur Anfechtung I

Sachverhalt

A will am Wochenende ihren 20. Geburtstag feiern. Hierfür schaut sie im Geschäft ihres Lieblingsgetränkelieferanten L vorbei. Sie bittet L, ihr am nächsten Tag „fünf Kästen Bier“ zu liefern. L ist einverstanden. A und L vereinbaren, dass der Kaufpreis von 100 EUR bei Lieferung gezahlt werden soll. 

Als L am Tag darauf mit fünf Bierkästen vor ihrer Tür steht, ist A entsetzt. Tatsächlich hatte sie fünf Kisten Wein bestellen wollen, sich aber offensichtlich von der bei L in Dauerschleife laufenden Bierwerbung ablenken lassen. Für Bier könnte sie aber nun wirklich keinen ihrer Freunde begeistern. A erklärt dem L daraufhin, dass Sie sich versprochen habe und eigentlich Wein bestellen wollte. Die Bierkästen könne er gleich wieder mitnehmen. 

Hat L gegen A einen Anspruch auf Bezahlung der fünf Bierkästen? 

Dieser Übungsfall ist ein „Grundfall“ ohne größere Probleme. Er dient dazu, Ihnen „am Normalfall“ die inhaltlichen Grundlagen, insbesondere die Voraussetzungen und den Prüfungsaufbau der Anfechtung zu vermitteln.  

Die folgende Darstellung zeigt Ihnen eine wichtige Unterscheidung: einerseits gibt es Gedanken, die Sie sich im Rahmen der Lösung eines Falls machen (= Prüfung im Kopf). Andererseits gibt es Inhalte, die Sie tatsächlich zu Papier bringen (= Prüfung auf dem Papier). Die Prüfung im Kopf fällt dabei oft viel umfassender aus als die Prüfung auf dem Papier. 

Alles, was im Folgenden kursiv ist oder in Fragen und Hinweisen, sollte sich in Ihrem Kopf und evtl. auch in Ihrer Lösungsskizze abspielen. In die ausformulierte Klausurlösung sollten hingegen nur die nicht-kursiv gehaltenen Inhalte Eingang finden. 

Lösung

Vorüberlegung: Was ist hier auf tatsächlicher Ebene bei der Erklärung von A das Problem (ohne Normen)?  

  • A erklärt etwas, was sie eigentlich nicht will

  • Was A eigentlich will, ist nach außen, insbesondere auch für L, aber nicht zu erkennen

Welche beiden Interessen kollidieren hier? 

  • Interesse der A, keine Verträge zu schließen, die sie nicht will (Privatautonomie)  

  • Interesse des L, dass Verträge so Bestand haben, wie sie aus seiner Perspektive geschlossen wurden (Verkehrsschutz) 

Welche drei Lösungswege sind für dieses Problem theoretisch vorstellbar? (es geht noch nicht darum, wie das BGB das Problem löst) 

  • Interesse der A setzt sich durch, Vertrag ist nichtig

  • Interesse des L setzt sich durch, Vertrag hat so Bestand, wie objektiv erkennbar geschlossen

  • Mittelweg: Vertrag grundsätzlich wirksam, aber Lösungsmöglichkeit 

Welche Lösungsmöglichkeit sieht das BGB vor? 

  • Zunächst: Vorrang des Verkehrsschutzes und Interesse des potenziellen Vertragspartners L. Deswegen Auslegung der Erklärung vom Standpunkt eines objektiven Empfängers, §§ 133, 157 BGB. Vertrag ist grundsätzlich wirksam.

  • Aber: Schutz der Willensentschließungsfreiheit der Erklärenden A durch Möglichkeit der Anfechtung als Gestaltungsrecht. 

Merken Sie sich:

Zweck Anfechtung: Schutz Willensentschließungsfreiheit des Erklärenden 

→ Ausgleich zur Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont (Schutz des Rechtsverkehrs in Gestalt des Erklärungsempfängers) 

Vorüberlegung: Welche zentrale Norm regelt die Rechtsfolge der Anfechtung? 

Normanalyse: Was ist Rechtsfolge, was sind Voraussetzungen von § 142 I BGB?

Ist § 142 I BGB eine Anspruchsgrundlage?

  • Nein.

Begründen Sie: Schritt 1:

Was ist ein Anspruch? Welche Norm regelt das? Was sind Beispiele für Anspruchsgrundlagen? 

  • Ein Anspruch ist das Recht, von jemandem ein Tun oder Unterlassen zu verlangen, § 194 I BGB. Ob eine Norm ein solches Recht vermittelt, bestimmt sich nach ihrer Rechtsfolge.

Beispiele für Anspruchsgrundlagen. 

→ Der Anspruchssteller hat danach etwas in der Hand

Begründen Sie: Schritt 2:  

Übertragen auf § 142 I BGB – warum ist die Norm keine Anspruchsgrundlage?  

  • Die Rechtsfolge von § 142 I BGB lautet: Nichtigkeit des Rechtsgeschäfts. Das ist kein Recht, von jemandem ein Tun oder Unterlassen zu fordern.  

→ Der Anspruchssteller hat danach nichts in der Hand. 

Was für eine Art von Recht ist § 142 I BGB dann?  

  • Gestaltungsrecht

Was bedeutet das? Warum heißt es „Gestaltungsrecht“? 

  • Unmittelbare Gestaltung der Rechtslage durch Ausübung

Zu den Voraussetzungen des § 142 I BGB: Was verbirgt sich hinter „anfechtbares Rechtsgeschäft“? Welche Normen sind relevant? 

Tipp: Suchen Sie in den §§ 119 ff. BGB. 

Lesen Sie §§ 119, 120 und § 123 I BGB. Was sind deren Rechtsfolgen? 

  • Überschrift jeweils: „Anfechtbarkeit“ 

  • Rechtsfolge: „kann die Erklärung anfechten“. Damit sagen die Normen, wann ein anfechtbares Rechtsgeschäft vorliegt.

  • In Prüfungsschemata wird vom Anfechtungsgrund gesprochen. 

Was verbirgt sich hinter „wird angefochten“? Welche Normen sind relevant? 

Welche Grundvoraussetzungen jeder Anfechtung ergeben sich daraus? 

  • Grund

  • Erklärung

  • Frist

Zur Prüfung des Falls: Lesen Sie die Fallfrage. Beginnen Sie die Prüfung mit Benennung von Anspruchsziel und Anspruchsgrundlage. 

L gegen A auf Zahlung iHv 100 EUR aus § 433 II BGB

Was ist Voraussetzung für diese Anspruchsgrundlage?

Kaufvertrag zwischen L und A

Wie kommt ein Kaufvertrag zustande? Beginnen Sie die Prüfung.

Einigung

Antrag der A

Vorüberlegung: Welche Aspekte der Willenserklärung sollten sie im Kopf immer durchgehen? 

  • Bestimmtheit 

  • Rechtsbindungswille 

  • Wirksamwerden gegenüber L, § 130 I BGB (analog) 

Müssen Sie alle davon immer prüfen? 

  • Nein. Nicht wenn diese Punkte völlig unproblematisch sind. Im Normalfall eines Antrags

  • K sagt zu V: „ich möchte das Buch für 10 EUR von dir kaufen“, V versteht das Gesprochene richtig – gibt es an Bestimmtheit, Rechtsbindungswillen und dem Wirksamwerden keinen Zweifel. Dann müssen diese Punkte im schriftlichen Gutachten nicht erscheinen.

  • Wichtig: im Kopf müssen Sie diese Punkte trotzdem durchdenken! Wir prüfen hier ausnahmsweise das Wirksamwerden mit, weil es (leider) in Anfängerklausuren auch in unproblematischen Fällen immer mal wieder auftaucht. 

Was aber müssen Sie prüfen? 

  • Ob und was A erklärt hat, also ob tatsächlich ein entsprechender Antrag vorliegt. Letztlich ist das die Subsumtion unter den Punkt „Antrag“. 

Inhalt der Erklärung

Was erklärt A?

  • A bittet L darum, „fünf Kästen Bier“ für 100 EUR zu liefern. 

Was denkt A? Sind ihre Gedanken relevant? 

  • Eigentlich wollte A Wein bestellen

  • Aber: Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont, §§ 133, 157 BGB → für objektiven Dritten in Position des L nicht erkennbar

  • Gedanken der A (hier) nicht relevant 

Zwischenergebnis

  • Kaufangebot über fünf Kästen Bier für 100 EUR (+) 

A hat also eine Erklärung abgegeben. Was muss noch passieren, damit diese Erklärung Rechtswirkungen nach sich zieht? 

Wirksamwerden

Vorüberlegung: Nach welcher Norm richtet sich das Wirksamwerden?

Normanalyse: Was ist Rechtsfolge, was Voraussetzung von § 130 I BGB? 

Wann wird eine Erklärung in jedem Fall wirksam? Wie viel ist in so einem klaren Fall wie hier dazu zu sagen? 

Wirksamwerden gegenüber L mit tatsächlicher Kenntnisnahme, § 130 I BGB (analog) 

Halten Sie ein Zwischenergebnis fest und prüfen Sie weiter. 

Zwischenergebnis 
  • Wirksamer Antrag der A (+)

Wirksame Annahme des L (+)
Zwischenergebnis 
  • Einigung (+) 

In den Vorüberlegenen wurde bereits identifiziert, dass A möglicherweise anfechten kann. Mit welcher Norm und welcher Rechtsfolge ist in die Prüfung der Anfechtung einzusteigen? 

Keine Nichtigkeit von Anfang an (ex-tunc) nach § 142 I BGB

Welche Voraussetzungen müssen Sie nun hier prüfen? 

  • Anfechtungsgrund

  • Anfechtungserklärung

  • Einhaltung der Frist  

Anfechtungsgrund

Vorüberlegung: Welche Anfechtungsgründe gibt es? Arbeiten Sie genau. Es gibt sechs!

Was ist passiert? Welcher Anfechtungsgrund kommt daher in Betracht? 

  • A wollte eigentlich fünf Kisten Wein bestellen,

  • hat sich aber versprochen und fünf Kästen Bier gesagt. 

Welcher Anfechtungsgrund kommt in Betracht? 

Erklärungsirrtum, § 119 I Alt. 2 BGB 

Was ist Voraussetzung, was Rechtsfolge von § 119 I BGB? 

Vorüberlegungen: Welche Voraussetzungen müssen Sie bei § 119 I Alt. 2 BGB prüfen? 

  • Vorliegen eines Erklärungsirrtums

  • Kausalität

  • Objektive Erheblichkeit 

Was sind klassische Beispiele für einen Erklärungsirrtum? 

  • Versprechen

  • Verschreiben

  • Vergreifen. 

Subsumieren Sie! Wie liegt es hier im Fall?  

  • A wollte fünf Kisten Wein kaufen.

  • A hat erklärt, fünf Kästen Bier kaufen zu wollen.

  • A hat also etwas erklärt, was sie nicht erklären wollte: Erklärungsirrtum (+) 

Prüfen Sie weiter!

Kausalität und objektive Erheblichkeit

Wie viel ist hier dazu zu sagen?

  • Hätte A gewusst, was sie erklärt – Bier – hätte sie diese Erklärung nicht abgegeben

  • Der Unterschied von Bier und Wein ist auch objektiv erheblich (z.B. wegen des unterschiedlichen Geschmacks).

Zwischenergebnis? 

Anfechtungserklärung

Vorüberlegungen: Wo steht im Gesetz etwas zur Anfechtungserklärung? 

Welche Voraussetzungen hat § 143 I BGB 

  • Vorliegen einer Anfechtungserklärung

  • Erklärung gegenüber dem richtigen Anfechtungsgegner 

Was ist die Rechtsnatur der Anfechtungserklärung? 

  • Anfechtungserklärung = Willenserklärung

Wie wird daher ermittelt, ob eine Anfechtungserklärung vorliegt? 

Wann ist daher vor einer Anfechtungserklärung auszugehen (Maßstab)? Liegt hier eine vor? Prüfen Sie ausführlich im Kopf! 

  • Anfechtungserklärung (+), wenn eindeutig erkennbar wird, dass das angefochtene Rechtsgeschäft endgültig beseitigt werden soll.

  • Die Worte „ich fechte an“ müssen dabei nicht genannt werden.

  • A verweist auf ihren Irrtum und fordert L auf, die Kästen Bier zurückzunehmen. Damit wird hinreichend deutlich, dass sie vom Vertrag Abstand nehmen will. 

Wieviel sollten Sie dazu im Gutachten schreiben? 

  • Da A nicht ausdrücklich erklärt, dass sie anficht, müssen Sie subsumieren und können nicht lediglich feststellen.

  • Ein Problem liegt hier aber nicht. Vielmehr ist das Ergebnis recht offensichtlich. Es bietet sich daher eine Kurzsubsumtion an. Siehe dazu unten. 

Wo steht, wer der richtige Anfechtungsgegner ist?  

Welcher der Absätze passt hier? Warum? 

  • Die Anfechtung betrifft den Kaufvertrag mit L 

Subsumieren Sie hier nun kurz und knapp: Liegt hier eine Anfechtungserklärung gegenüber dem richtigen Anfechtungsgegner vor?  (= Formulierungsvorschlag)

  • "A erklärt dem Vertragspartner L, dass sie sich versprochen habe und er die Kästen Bier wieder mitnehmen solle. Damit macht sie deutlich, dass sie vom Vertrag Abstand nehmen möchte, §§ 133, 157 BGB, und hat gegenüber dem richtigen Anfechtungsgegner die Anfechtung erklärt, §§ 143 I, II Var. 1 BGB."

Anfechtungserklärung innerhalb der Frist 

Vorüberlegung: Welche Frist gilt hier? Nennen Sie die Norm. Was ist Voraussetzung?

  • Anfechtungserklärung muss „ohne schuldhaftes Zögern (unverzüglich) erfolgen, nachdem der Anfechtungsberechtigte von dem Anfechtungsgrund Kenntnis erlangt hat“.

Wie ist es hier? (Subsumtion) 

  • Erklärung bei Lieferung und sofort nach Kenntniserlangung ihres Irrtums

  • unverzüglich iSv § 121 I 1 BGB (+)

Zwischenergebnis 
  • Anfechtung (+)  

Zwischenergebnis  

Zwischenergebnis

  • Kaufvertrag zwischen A und L über fünf Kästen Bier für 100 EUR (-)

Ergebnis  

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