Kilian Wegner Strafrecht AT I: Übungsfälle Licensed under CC-BY-4.0

Einheit 3: Objektive Zurechnung (Sachverhalt)

Fall 1

Die engagierte Jurastudentin M fühlt sich am Morgen des ersten Vorlesungstages leicht krank. Sie klagt über Schnupfen und Halsschmerzen. Trotz dessen entschließt sie sich – um die ersten Studieninhalte nicht zu verpassen – die Vorlesungen zu besuchen. In der Universität trifft sie einige Kommiliton:innen wieder, die sie zuvor auf der Ersti-Fahrt kennengelernt hatte. Dabei stecken jene sich an und klagen bald auch über leichte Erkältungssymptome.

Hat M sich wegen Körperverletzung nach § 223 Abs. 1 StGB strafbar gemacht?

Fall 2

Rechtsanwältin R befindet sich am Morgen auf den Weg in ihre Kanzlei. Den Arbeitsweg bestreitet sie wie immer mit ihrem Auto. Da R Fachanwältin für Verkehrsrecht ist, weiß sie um die von ihr im Verkehr einzuhaltenden Pflichten. R fährt vorschriftsgemäß, doch durch einen unglücklichen Zufall kommt es zu einer Karambolage mit B, der seine kleine Tochter T im Auto hat. Der Aufprall ist so stark, dass T bei dem Unfall tödlich verunglückt.

Ist der Tod der T der R objektiv zuzurechnen?

Fall 3

A und B befinden sich auf dem Weg nach Hause nach einer Party. Dort begegnen sie dem C, einem Feind des A. Sofort holt C zu einem Schlag in Richtung des Kopfes von A aus. B reagiert schnell und lenkt den Schlag auf die Schulter des A ab. A erleidet ein Hämatom an seiner Schulter. Ohne das Eingreifen des B hätte A schwere Kopfverletzungen erlitten.

Strafbarkeit des B wegen Körperverletzung gem. § 223 Abs. 1 StGB?

Fall 4

A beschließt, den B zu töten, indem er ihm mit einem Messer in den Brustbereich sticht. Aufgrund eines Ausweichmanövers des B trifft A lediglich den Arm des B und erkennt, dass dieser dadurch nicht tödlich verletzt ist. Ein Passant, der das Geschehen beobachtet, ruft den Rettungswagen, woraufhin der B ins Krankenhaus gefahren wird. Aufgrund eines technischen Mangels am Fahrzeug kommt es zu einem Verkehrsunfall, bei dem B verstirbt.

Hat A sich gem. § 212 Abs. 1 StGB strafbar gemacht?

Fallabwandlung: Die durch den Messerstich verursachten Verletzungen sind so schwerwiegend, dass der Rettungswagen mit überhöhter Geschwindigkeit und Blaulicht möglichst schnell das Krankenhaus erreichen muss. Dafür muss der Rettungswagenfahrer auch rote Ampeln überfahren. Der unaufmerksame Autofahrer F übersieht an einer Kreuzung den herannahenden Rettungswagen und fährt auf die Kreuzung. Es kommt zu einer Kollision, bei der B verstirbt. Objektive Zurechnung?

Fall 5

(leichte Abwandlung von BGHSt 39, 322)

A legt im Obergeschoss eines Einfamilienhauses ein Feuer. Als der Hauseigentümer H bemerkt, dass es brennt, rennt er ins Obergeschoss, um seinen kleinen Sohn (S) zu retten. Jedoch hat sich das Feuer bereits so sehr verdichtet und die Rauchentwicklung so stark zugenommen, dass H eine Kohlenmonoxidvergiftung erleidet, die wenig später zum Tod führt. Der S konnte sich durch ein Fenster bereits selbst in Sicherheit bringen.

Kann der Tod des H dem A objektiv zugerechnet werden?

Fall 6

(leichte Abwandlung von BGH NStZ 2001, 29)

Die 17-jährige R befindet sich in einem andauernden Streit mit der 15-jährigen J. Vor diesem Hintergrund sucht R die J eines Abends auf, um ihr eine „Abreibung“ zu verpassen. Es kommt zum Kampf zwischen den beiden. Dabei schlägt R die J zu Boden und bringt ihr mit einem Klappmesser insgesamt 16 Stichverletzungen bei. Anfangs sticht sie ihr in den Bauch und in den Rücken. Mit weiteren Stichen fügt sie ihr Verletzungen an den Armen, der linken Hand und am Halse zu. Schließlich versetzt sie ihr in Tötungsabsicht mehrere wuchtige Messerstiche ins Gesicht, von denen einer das Nasenbein zertrümmert, ein anderer den Oberkiefer durchtrennt und drei Zähne herausbricht. Beim letzten Stich bleibt das Messer so fest im Gesicht stecken, dass die R es nicht mehr herausziehen kann. J lebt zwar noch, ist aber so übel zugerichtet, dass R sie für tot hält.

Anschließend läuft R nach Hause und berichtet ihrem Freund S, sie habe J erstochen. S begibt sich daraufhin zum Tatort, um die Spuren zu beseitigen und findet dort J, die mit blutüberströmtem Kopf regungslos auf dem Rücken liegt. S erkennt jedoch, dass J noch lebt und schlägt mit einer Wasserflasche auf ihren Kopf ein, so dass ihr Stirnbein zersplittert und sie deshalb auf der Stelle verstirbt. Wenn der S die J nicht mit der Wasserflasche getötet hätte, wäre sie wenige Zeit später auf Grund der Messerverletzung durch Verbluten gestorben.

Ist R der Tod der J objektiv zurechenbar?

Fall 7

(Abwandlung von BGH NStZ 2009, 92)

Ehemann M und Frau F gerieten in einen Streit. Vor Wut schlug der M seiner Frau wiederholt in den Brust- und Rippenbereich. F erleidet durch die heftigen Schläge 18 Rippenbrüche. Anschließend begab sich die F für eine mehrtägige stationäre Behandlung ins Krankenhaus. Bei den Röntgenuntersuchungen stellte der Arzt auf Grund eines leicht fahrlässigen Behandlungsfehlers lediglich drei Rippenfrakturen fest. Nach der stationären Behandlung suchte die F noch ihren Hausarzt auf, der ihr Schmerztabletten verschrieb. Der Gesundheitszustand der F verschlechterte sich jedoch zunehmend, bis sie schließlich nachts an einem Herz-Kreislauf-Stillstand verstarb. Ausgelöst wurde der Herz-Kreislauf-Stillstand durch eine Blutvergiftung, die durch die Rippenbrüche und daraus folgenden Verletzungen innerer Organe entstanden ist. Hätte der Arzt die weiteren Rippenbrüche entdeckt, wäre es aufgrund einer anpassten Behandlung nicht zu einer Sepsis und zum Tod F von gekommen.

Hat M den objektiven Tatbestand des § 212 Abs. 1 StGB erfüllt?