Einleitung
In diesem letzten Abschnitt befassen wir uns mit dem Rechtsschutz im Vergaberecht. Da die unionsrechtlichen Vergaberichtlinien auch den Rechtsschutz nur für Auftragsvergaben vorsehen, welche die vergaberechtlichen Schwellenwerte überschreiten, ist auch der vergaberechtliche Rechtsschutz im deutschen Recht zweigeteilt. Wir legen den Schwerpunkt unserer Betrachtung auf den Rechtsschutz oberhalb der vergaberechtlichen Schwellenwerte, also im Anwendungsbereich des vierten Teils des GWB (B.). Danach folgt ein kurzer Überblick zum Rechtsschutz unterhalb der Schwellenwerte (C.). Jeweils sind Primär- und Sekundärrechtsschutz zu unterscheiden. Primärrechtsschutz ist darauf gerichtet, die verletzten Regelungen durchzusetzen, das Verfahren also rechtmäßig abzuschließen. Sekundärrechtsschutz entschädigt dagegen nur finanziell für den Schaden, der mit der Rechtsverletzung einhergeht.
Rechtsschutz oberhalb der vergaberechtlichen Schwellenwerte
Primärrechtsschutz
Der Primärrechtsschutz oberhalb der vergaberechtlichen Schwellenwerte findet seine Grundlage darin, dass die Unternehmen nach § 97 Abs. 6 GWB beanspruchen können, dass die Bestimmungen über das Vergabeverfahren eingehalten werden (1.). Damit dieser Anspruch wirksam durchgesetzt werden, das Verfahren aber auch zügig abgeschlossen werden kann, sehen die §§ 155 ff. GWB einen besonderen vergaberechtlichen Rechtsweg vor (2.). Gesichert wird der vergaberechtliche Primärrechtsschutz durch die Informations- und Wartepflicht nach § 134 GWB und eine Bestimmung in § 135 GWB über die Unwirksamkeit des öffentlichen Auftrags in bestimmten schwerwiegenden Fällen (3.). Eingeleitet wird der vergaberechtliche Primärrechtsschutz durch einen zulässigen und begründeten Nachprüfungsantrag (4.).
Grundlage: Anspruch auf Einhaltung der Bestimmungen über das Vergabeverfahren
Die unionsrechtlichen Vergaberichtlinien sehen vor, Unternehmen einen Anspruch darauf einzuräumen, dass die Bestimmungen über das Vergabeverfahren eingehalten werden. Zweck dieser Vorgabe ist es, den subjektiven Rechtsschutz dafür fruchtbar zu machen, dass es im Ergebnis nicht zu Verletzungen des objektiven Rechts kommt oder aber Rechtsverletzungen rückgängig gemacht werden. Der Gesetzgeber hat diese Vorgabe in § 97 Abs. 6 GWB umgesetzt. Dieses Recht zu schützen, ist Ansinnen der Bestimmungen über den vergaberechtlichen Primärrechtsschutz.
Wendet man § 97 Abs. 6 GWB unbefangen an, ist es konsequent, Unternehmen zu gestatten, sich auf jegliche Vorschriften des Vergabeverfahrens zu berufen, und zwar ungeachtet des Schutzzwecks der jeweiligen Verfahrensvorschriften. Ein so weitreichender subjektiver Rechtsschutz ist dem deutschen Recht eigentlich fremd. Regelmäßig wenden wir die Schutznormlehre an, die danach fragt, ob eine Vorschrift ausschließlich den Interessen der Allgemeinheit oder zumindest auch den Interessen Einzelner zu dienen bestimmt ist. Die Schutznormlehre auch im Vergaberecht durchgehend anzuwenden, liefe aber der Absicht des Unionsgesetzgebers zuwider, für eine effektive Durchsetzung der Verfahrensbestimmungen zu sorgen.
Wie sich dieses Problem dogmatisch sauber auflösen lässt, ist nicht ganz klar. Allerdings hat das Problem auch keine große praktische Bedeutung, da sich sehr viele Vorschriften des Vergabeverfahrens als Ausprägungen des Rechts der Unternehmen auf chancengleiche Teilnahme im Wettbewerb begreifen lassen und somit auch im Sinne der Schutznormlehre den Interessen Einzelner zu dienen bestimmt sind. Das gilt zum Beispiel für die Vorschriften über die Verfahrensarten und die Verfahrensgestaltung und für alle Vorschriften, die den Anwendungsbereich Vergaberecht betreffen. Auch auf die Vorschriften zu den jeweiligen Wertungsstufen können sich die Unternehmen berufen, also etwa verlangen, dass sie selbst nicht zu Unrecht vom Verfahren ausgeschlossen werden beziehungsweise dass ein auszuschließendes Unternehmen oder Angebot auch wirklich ausgeschlossen wird. Nicht unternehmensschützend sind ausschließlich Regelungen, die Pflichten begründen, die sich in keiner Weise auf Teilnehmer am Vergabeverfahren beziehen, wie etwa Meldungen und Berichte an die europäischen Organe.
Das Recht aus § 97 Abs. 6 GWB wird verletzt, wenn der öffentliche Auftraggeber eine umfasste Bestimmung über das Vergabeverfahren nicht einhält. Allerdings hat der öffentliche Auftraggeber die Möglichkeit, Fehler dadurch zu heilen, dass er das Verfahren in einen Stand zurückversetzt, indem er den Verfahrensschritt erneut und dieses Mal rechtsfehlerfrei durchführen kann. Einige Fehler lassen sich aber auch auf diese Weise nicht wieder gutmachen. Ist schon die Ausschreibung fehlerhaft, also etwa die Leistungsbeschreibung nicht eindeutig oder erschöpfend (§ 121 Abs. 1 S. 1 GWB), kommt nur eine Zurückversetzung an den Beginn des Verfahrens in Betracht, was einer neuen Ausschreibung gleichkommt.
Welche der folgenden Aussagen ist richtig?
- Der vergaberechtliche Primärrechtsschutz ist für Auftragsvergaben oberhalb und unterhalb der Schwellenwerte einheitlich geregelt.
- Im Rahmen von § 97 Abs. 6 GWB ist die Schutznormlehre konsequent anzuwenden.
- Öffentliche Auftraggeber können Recht aus § 97 Abs. 6 GWB dadurch schützen, dass sie nach einem Verfahrensfehler das Verfahren zurückversetzen und den Fehler heilen.
Organisation: Besonderer vergaberechtlicher Rechtsweg
Verfahren vor der Vergabekammer
Die Gewährleistung von Primärrechtsschutz steht in einem Spannungsverhältnis zum Grundsatz der Wirtschaftlichkeit (§ 97 Abs. 1 S. 2 GWB), weil sie Zeit in Anspruch nimmt und eine Verzögerung der Vergabe des öffentlichen Auftrags den Erfolg der staatlichen Aufgabenerledigung infrage stellen kann. Häufig benötigt der Staat eine Leistung nicht nur – er benötigt sie darüber hinaus zeitnah. Der Primärrechtsschutz ist daher zügig umzusetzen. § 167 GWB bringt dies zum Ausdruck, indem er den Grundsatz der Beschleunigung betont.
Unter anderem deswegen sieht das Gesetz für den Primärrechtsschutz einen besonderen vergaberechtlichen Rechtsweg vor: Die Vergabe öffentlicher Aufträge und von Konzessionen im Anwendungsbereich des vierten Teils des GWB unterliegt nach § 155 GWB der Nachprüfung durch die Vergabekammern. Die Vergabekammern sind keine Gerichte, sondern behördliche Einrichtungen. Trotzdem sind sie gerichtsähnlich mit einem Vorsitzenden und zwei Beisitzern besetzt (§ 157 Abs. 2 S. 1 GWB); eines der Mitglieder muss die Befähigung zum Richteramt besitzen (§ 157 Abs. 2 S. 3 GWB). Die Vergabekammer entscheidet unabhängig und ist nur dem Gesetz unterworfen (§ 157 Abs. 4 S. 2 GWB). Für Auftragsvergaben des Bundes sind Vergabekammern beim Bundeskartellamt in Bonn eingerichtet (§ 158 Abs. 1 S. 1 GWB). Die Länder sind für die Einrichtung ihrer Vergabekammern selbst verantwortlich.
Da die Entscheidung der Vergabekammer durch Verwaltungsakt ergeht (§ 168 Abs. 3 S. 1 GWB), ist das Nachprüfungsverfahren – wie das Widerspruchsverfahren im allgemeinen Verwaltungsrecht (§§ 68 ff. VwGO) – ein Verwaltungsverfahren im Sinne von § 9 VwVfG. Die allgemeinen verwaltungsverfahrensrechtlichen Vorschriften finden damit Anwendung, mit einigen besonderen Bestimmungen und Modifikationen in den §§ 160 ff. GWB. Verfahrensbeteiligte sind nach § 162 GWB der Antragsteller, der öffentliche Auftraggeber und die Unternehmen, deren Interessen durch die Entscheidung schwerwiegend berührt werden und die deshalb beizuladen sind. Es gilt nach § 163 Abs. 1 S. 1 GWB der Untersuchungsgrundsatz, das heißt, die Vergabekammer hat den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen. Die Beteiligten haben ein besonderes Akteneinsichtsrecht nach § 165 GWB. Grundsätzlich hat eine mündliche Verhandlung stattzufinden (§ 166 Abs. 1 S. 1 GWB). Beschleunigt wird das Verfahren dadurch, dass die Vergabekammer ihre Entscheidung nach § 167 Abs. 1 S. 1 GWB grundsätzlich innerhalb von fünf Wochen zu treffen hat. Außerdem haben die Beteiligten nach § 167 Abs. 2 S. 1 GWB die Pflicht, im Sinne eines raschen Abschlusses des Verfahrens an der Aufklärung des Sachverhalts mitzuwirken.
Prüfungsmaßstab und Entscheidungsinhalt
Prüfungsmaßstab der Vergabekammer (und damit Obersatz der Begründetheit) ist – wie bei einer Anfechtungsklage (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO) – die Frage, ob der Antragsteller in seinen Rechten verletzt ist (§ 168 Abs. 1 S. 1 GWB). Auf die Zweckmäßigkeit der Entscheidung kommt es nicht an. Insbesondere darf die Vergabekammer dem öffentlichen Auftraggeber nicht in die Entscheidungsspielräume hineinreden, die dem öffentlichen Auftraggeber im Verfahren und bei der Auswahlentscheidung zukommen. Sie hat aber zu prüfen, ob der öffentliche Auftraggeber diese Entscheidungsspielräume rechtmäßig ausgefüllt, also beispielsweise ihr Ermessen entsprechend den Vorgaben von § 40 VwVfG ausgeübt hat.
Die Vergabekammer trifft nach § 168 Abs. 1 S. 1 GWB die geeigneten Maßnahmen, um die Rechtsverletzung zu beseitigen und eine Schädigung der betroffenen Interessen zu verhindern. Welche Maßnahmen sie trifft, liegt im Ermessen der Vergabekammer, auf dessen Ausübung wiederum § 40 VwVfG anwendbar ist. Eine mögliche Maßnahme ist es, das Verfahren in einen früheren Stand zurückzuversetzen und das Verfahren von diesem Stand aus ohne den Rechtsfehler durchzuführen, also zum Beispiel einen zu Unrecht ausgeschlossenen Bieter nicht auszuschließen und auf den nächsten Wertungsstufen zu berücksichtigen oder einem Bieter mit einem Angebot, das nicht das wirtschaftlichste ist, nicht den Zuschlag zu erteilen und die Zuschlagswertung zu wiederholen. Wegen der ausdrücklichen Bestimmung in § 63 Abs. 1 S. 2 VgV kann die Vergabekammer den öffentlichen Auftraggeber indessen in aller Regel nicht dazu verpflichten, den öffentlichen Auftrag überhaupt oder gar einem bestimmten Bieter zu erteilen. Lässt sich der Rechtsfehler durch eine Zurückversetzung nicht beheben, kann die Vergabekammer das Verfahren auch vollständig aufheben. An die Anträge der Beteiligten ist die Vergabekammer bei alledem nicht gebunden (§ 168 Abs. 1 S. 2 GWB).
Besondere Antragsarten mit eigenständigem Prüfungsmaßstab und Entscheidungsinhalt finden sich in § 168 Abs. 2 S. 2 GWB und § 135 Abs. 1 GWB. Ist der Zuschlag bereits erteilt ist oder hat sich das Nachprüfungsverfahren auf andere Weise erledigt (Situation eines Fortsetzungsfeststellungsantrags), beschränkt sich die Entscheidung der Vergabekammer auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit (§ 168 Abs. 2 S. 2 GWB). Und in den Fällen des § 135 Abs. 1 GWB (dazu noch unten) stellt die Vergabekammer auf einen entsprechenden Antrag hin in ihrer Entscheidung fest, dass der vergebene Auftrag unwirksam ist. Diese Feststellung macht den Vertrag ex tunc unwirksam und hindert so zumindest faktisch die Durchführung des Vertrags.
Sofortige Beschwerde vor dem Oberlandesgericht
Gegen Entscheidungen der Vergabekammer ist gemäß § 171 Abs. 1 S. 1, Abs. 3 GWB die sofortige Beschwerde beim für den Sitz der jeweiligen Vergabekammer zuständigen Oberlandesgericht statthaft. Bei den Oberlandesgerichten ist nach § 171 Abs. 3 S. 2 GWB ein Vergabesenat zu bilden. Das Beschwerdeverfahren richtet sich nach den §§ 171 ff. GWB. Begründet ist die Beschwerde, soweit die Entscheidung der Vergabekammer rechtswidrig ist. Das Oberlandesgericht hebt insoweit die Entscheidung der Vergabekammer auf (§ 178 S. 1 GWB) und entscheidet selbst in der Sache oder verpflichtet die Vergabekammer, unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden (§ 178 S. 2 GWG). Eine weitere gerichtliche Instanz ist im vergaberechtlichen Nachprüfungsverfahren nicht vorgesehen. Zu Entscheidungen des Bundesgerichtshofs kommt es in Fällen der Divergenzvorlage nach § 179 Abs. 2 GWB, zu Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in Fällen der Vorlage nach Art. 267 Abs. 1 und Abs. 3 AEUV.
Welche der folgenden Aussagen ist richtig?
- Der besondere vergaberechtliche Rechtsweg soll unter anderem zur Beschleunigung des Primärrechtsschutzes beitragen und einen zügigen Abschluss des Vergabeverfahrens ermöglichen.
- Vergabekammern sind besondere gerichtliche Spruchkörper beim Oberlandesgericht.
- Da das Oberlandesgericht im Nachprüfungsverfahren die letzte Instanz ist, kann es nicht zu Entscheidungen des BGH und des EuGH kommen
Sicherung: Informations- und Wartepflicht sowie Unwirksamkeit unzulässiger Direktvergabe
Den wirksamen Primärrechtsschutz sichern die §§ 134 und 135 GWB. Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, dass es sich bei dem zustande kommenden öffentlichen Auftrag um einen privatrechtlichen Vertrag handelt, von dem der öffentliche Auftraggeber grundsätzlich auch dann nicht loskommt, wenn es im Vergabeverfahren zu Rechtsverstößen gekommen ist. Nach § 168 Abs. 2 S. 1 GWB kann ein wirksam erteilter Zuschlag nicht aufgehoben werden und allgemein gilt der Grundsatz „pacta sunt servanda“. Grundsätzlich führt ein schlichter Verfahrensverstoß auch nicht dazu, dass der Vertrag nach § 134 BGB wegen Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot oder nach § 138 BGB wegen Verstoßes gegen die guten Sitten unwirksam wäre. Die §§ 134 und 135 GWB müssen daher gewährleisten, dass der Vertrag erst dann zustande kommt, wenn die unterlegenen Unternehmen die Möglichkeit hatten, etwaige Verfahrensverstöße mit einem Nachprüfungsantrag geltend zu machen.
§ 134 Abs. 1 GWB verpflichtet den öffentlichen Auftraggeber daher dazu, die unterlegenen Bieter über den Ausgang des Verfahrens und die Gründe ihrer Nichtberücksichtigung zu informieren. Nach § 134 Abs. 2 S. 1 GWB darf der Vertrag grundsätzlich erst 15 Tage nach Absendung dieser Information geschlossen werden. Während dieser Wartefrist haben unterlegene Unternehmen die Möglichkeit, einen Nachprüfungsantrag zu stellen. Machen sie von dieser Möglichkeit Gebrauch, verlängert sich nach § 169 Abs. 1 GWB das Zuschlagsverbot bis zu einer Entscheidung der Vergabekammer und dem Ablauf der Beschwerdefrist. Die Bestimmung in § 169 Abs. 1 GWB ist ein gesetzliches Verbot im Sinne von § 134 BGB, sodass ein Verstoß dagegen zur Unwirksamkeit des Vertrags führt. Der Nachprüfungsantrag hat also aufschiebende Wirkung, ähnlich der Bestimmung in § 80 Abs. 1 S. 1 VwGO. Nach § 169 Abs. 2 GWB können der öffentliche Auftraggeber und das für den Zuschlag vorgesehene Unternehmen bei der Vergabekammer einstweiligen Rechtsschutz mit dem Ziel suchen, vom Zuschlagsverbot befreit zu werden.
Ergänzt wird die Vorabinformations- und Wartepflicht durch die Rechtsfolge des § 135 Abs. 1 Nr. 1 GWB: Ein öffentlicher Auftrag ist von Anfang an unwirksam, wenn der öffentliche Auftraggeber gegen das Zuschlagsverbot nach § 134 GWB verstoßen hat. Allerdings muss dieser Verstoß nach der Regelung in § 135 Abs. 1 Nr. 1 GWB in einem Nachprüfungsverfahren festgestellt werden. Es bedarf also eines Nachprüfungsantrags durch ein unterlegenes Unternehmen, gerichtet auf die Feststellung der Unwirksamkeit, und einer entsprechenden Entscheidung der Vergabekammer.
Einen zweiten Fall des unwirksamen Vertrags sieht § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB vor: Hier geht es um unzulässige Direktvergaben. Zwar kann es dem öffentlichen Auftraggeber gestattet sein, den öffentlichen Auftrag ohne vorherige Veröffentlichung einer Bekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Union (§ 37 VgV) zu vergeben, namentlich dann, wenn ein Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb zulässig ist (§ 14 Abs. 4 VgV). Liegen die Voraussetzungen dafür aber nicht vor oder führt der öffentliche Auftraggeber dieses Verfahren nicht rechtmäßig durch, lässt sich der vollständige Verzicht auf (ex-ante-)Transparenz nicht rechtfertigen. Damit die Grundsätze des Vergaberechts hinreichend zur Geltung kommen können, kann und muss die Vergabekammer in solchen Fällen auf einen Nachprüfungsantrag hin den Vertrag für unwirksam erklären.
Diese Situation lag unserem Eingangsbeispiel zur Luca-App zugrunde. Zwar lagen in diesem Fall die Voraussetzungen für eine Dringlichkeitsvergabe nach § 14 Abs. 4 Nr. 4 VgV vor. Die „gesetzliche Gestattung“ im Sinne von § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB, von der Veröffentlichung einer Auftragsbekanntmachung abzusehen, fordert nach umstrittener, aber überzeugender Auffassung auch des OLG Rostock, dass der öffentliche Auftraggeber das gewählte, weitgehend intransparente Verfahren vollständig rechtmäßig durchführt und zumindest auf diese Weise den Grundsätzen des Vergaberechts Rechnung trägt. Das Land Mecklenburg-Vorpommern hat in unserem Beispiel aber die Grenzen seines von § 14 Abs. 4 Nr. 4 VgV eingeräumten Ermessens dadurch überschritten, dass die Grundsätze der Chancengleichheit und des Wettbewerbs unverhältnismäßig eingeschränkt hat. Es hätte, anstatt nur mit A zu verhandeln, zumindest auch mit B in Verhandlungen eintreten müssen, weil es auch ohne Ausschreibung von der Leistungsbereitschaft der B und dem Umstand wusste, dass auch die Software von B die Anforderungen erfüllte. Damit lagen die Voraussetzungen einer gesetzlichen Gestattung im Sinne von § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB nicht vor. Auf einen zulässigen Nachprüfungsantrag der B hin hätte die Vergabekammer den Vertrag für unwirksam erklärt.
Welche der folgenden Aussagen ist nicht richtig?
- Verstöße gegen das Vergaberecht führen nach § 134 BGB zur Unwirksamkeit des Vertrags.
- §§ 134 und 135 GWB setzen unterlegene Unternehmen in die Lage, effektiv Primärrechtsschutz zu suchen.
- Einstweiliger Rechtsschutz im Nachprüfungsverfahren dreht sich um die Frage, ob das Zuschlagsverbot während des Nachprüfungsverfahrens fort gilt oder aufgehoben wird.
Einleitung: Stellung eines zulässigen und begründeten Nachprüfungsantrags
Die Vergabekammer leitet ein Nachprüfungsverfahren nach § 160 Abs. 1 GWB nur auf Antrag ein. Um Erfolg zu haben, muss dieser Antrag zulässig und begründet sein. Die Begründetheitsmaßstäbe lassen sich den Vorschriften in § 168 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 2 GWB (Rechtsverletzung des Antragstellers) und § 135 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 GWB entnehmen. Die Zulässigkeit lässt sich nach folgendem Schema prüfen:
Eröffnung des Rechtswegs zu den Vergabekammern (§ 155 GWB)
Vollständige Prüfung des Anwendungsbereichs des GWB-Vergaberechts
Statthaftigkeit des Antrags
Antrag auf Beseitigung der Rechtsverletzung oder Verhinderung von Schäden der betroffenen Interessen (§ 168 Abs. 1 S. 1 GWB)
Fortsetzungsfeststellungsantrag (§ 168 Abs. 2 S. 2 GWB)
Antrag auf Feststellung der Unwirksamkeit des Vertrags (§ 135 Abs. 1 GWB)
Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz (§ 169 Abs. 2 GWB)
Antragsbefugnis (§ 160 Abs. 2 GWB)
Interesse am Auftrag
Geltendmachung der Verletzung in Rechten nach § 97 Abs. 6 GWB
Entstandener oder drohender Schaden
Keine Präklusion (§ 160 Abs. 3 GWB)
Zumindest formelle Präklusion, wenn Vergabeverstoß entgegen § 160 Abs. 3 S. 1 Nr. 1-3 GWB nicht rechtzeitig gerügt wird
Dadurch insgesamt Beschleunigung des Verfahrens, Möglichkeit zeitnaher Abhilfe im jeweiligen Verfahrensstadium
Gilt nach § 160 Abs. 3 S. 2 GWB nicht für den Antrag nach § 135 Abs. 1 GWB
Form- und fristgerechter Antrag (§ 160 Abs. 1, 161, 135 Abs. 2 S. 1 GWB)
Schriftlich und begründet (§ 161 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 GWB)
Innerhalb von 15 Kalendertagen nach Mitteilung, dass der Rüge nicht abgeholfen wird (§ 160 Abs. 3 S. 1 Nr. 4 GWB)
Innerhalb von 30 Kalendertagen / sechs Monaten beim Antrag nach § 135 Abs. 1 GWB (§ 135 Abs. 2 S. 1 GWB)
Beteiligungs- und Handlungsfähigkeit der Beteiligten (§ 162 S. 1, §§ 11, 12 VwVfG)
Sachliche und örtliche Zuständigkeit der Vergabekammer (§ 156 Abs. 2, 159 GWB)
Im Einzelnen:
Eröffnung des Rechtswegs zu den Vergabekammern (§ 155 GWB)
Damit der Rechtsweg zu den Vergabekammern eröffnet ist, muss sich die Nachprüfung gemäß § 155 GWB auf die Vergabe öffentlicher Aufträge oder die Vergabe von Konzession im Sinne des GWB beziehen. Darüber hinaus darf kein (Ausnahme-)Tatbestand erfüllt sein, demzufolge der vierte Teil des GWB – und damit auch die §§ 155 ff. GWB – nicht anwendbar ist. Die Anwendbarkeit des vierten Teils des GWB ist mit Blick auf den Rechtsweg also inzident zu prüfen.
Statthaftigkeit des Antrags
Statthaft ist ein Antrag, der sich im Sinne von § 168 Abs. 1 S. 1 GWB darauf richtet, dass eine Rechtsverletzung beseitigt und eine Schädigung der betroffenen Interessen verhindert wird. An den konkreten Antrag ist die Vergabekammer nach § 168 Abs. 1 S. 2 GWB aber nicht gebunden. Hat sich das Nachprüfungsverfahren durch Erteilung des Zuschlags, durch Aufhebung oder Einstellung des Vergabeverfahren oder in sonstiger Weise erledigt, ist ein Fortsetzungsfeststellungsantrag statthaft (§ 168 Abs. 2 S. 2 GWB), der auf die Feststellung der Vergabekammer gerichtet ist, dass eine Rechtsverletzung vorgelegen hat. Nach § 135 Abs. 1 GWB ist auch ein Antrag statthaft mit dem Ziel, dass die Vergabekammer feststellt, dass der öffentliche Auftrag oder die Konzession von Anfang an unwirksam war. Anträge auf einstweiligen Rechtsschutz, bei dem es darum geht, ob das Zuschlagsverbot weiterhin gilt oder nicht, sind nach Maßgabe von § 169 Abs. 2 GWB statthaft.
Antragsbefugnis (§ 160 Abs. 2 GWB)
Antragsbefugt ist nach § 160 Abs. 2 S. 1 GWB jedes Unternehmen, das ein Interesse an dem öffentlichen Auftrag oder der Konzession hat und eine Verletzung in seinen Rechten nach § 97 Abs. 6 GWB durch Nichtbeachtung von Vergabevorschriften geltend macht. Außerdem muss das Unternehmen nach § 160 Abs. 2 S. 2 GWB darlegen, dass ihm durch die behauptete Verletzung der Vergabevorschriften ein Schaden entstanden ist oder zu entstehen droht.
Interesse am Auftrag
Um ein hinreichendes Interesse am Auftrag geltend machen zu können, müssen Unternehmen grundsätzlich ein Angebot abgegeben haben. Denn Unternehmen, die sich am Vergabeverfahren nicht beteiligen, bedürfen in der Regel keines Rechtsschutzes. Anderes gilt dann, wenn gerade der mit dem Nachprüfungsantrag geltend gemachte Rechtsverstoß dazu geführt hat, dass das Unternehmen kein Angebot abgegeben hat. Das kommt etwa in Fällen in Betracht, in denen der öffentliche Auftraggeber den Auftrag ohne vorherige Veröffentlichung einer Bekanntmachung (§ 37 VgV) vergibt (dann ist ein Antrag nach § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB statthaft) oder in denen die Ausschreibung fehlerhaft ist und dadurch Unternehmen von der Angebotsabgabe abhält.
Geltendmachung der Verletzung in Rechten nach § 97 Abs. 6 GWB
Ein Unternehmen macht eine Verletzung in Rechten geltend, wenn ein solche Verletzung zumindest möglich erscheint, das heißt nicht offenkundig ausgeschlossen ist. Die aus dem Verwaltungsprozessrecht bekannte Möglichkeitslehre findet hier Anwendung. Da § 97 Abs. 6 GWB schlicht die Vorschriften über das Vergabeverfahren subjektiviert, genügt es an dieser Stelle, dass das Unternehmen geltend macht, dass es zu einer Verletzung von Verfahrensbestimmungen gekommen ist. Ob und inwieweit diese Vorschriften ihrerseits drittschützende Wirkung entfalten können müssen, wurde schon oben dargestellt. In der Klausur lässt sich diese Frage hier kurz aufwerfen.
Entstandener oder drohender Schaden
Ein Schaden im Sinne von § 160 Abs. 2 S. 2 GWB liegt insbesondere darin, dass die mögliche Verletzung der Vergabevorschriften die Chance auf den Zuschlag beeinträchtigt. Geltend machen muss das Unternehmen also, dass es ohne den Rechtsverstoß eine echte Chance darauf (gehabt) hätte, den Auftrag zu erhalten. Auch hier genügt die konkrete Möglichkeit. Offenkundig chancenlose Unternehmen können demnach keinen zulässigen Nachprüfungsantrag stellen.
Keine Präklusion (§ 160 Abs. 3 GWB)
Ein wichtiges Instrument der Beschleunigung (vgl. § 167 GWB) und damit Grundlage einer wirtschaftlichen Beschaffung (§ 97 Abs. 1 S. 2 GWB) sind die Rügeobliegenheit des Antragstellers und die damit verbundenen Präklusionsvorschriften in § 160 Abs. 3 S. 1 GWB. Unternehmen dürfen hiernach grundsätzlich nicht das Ende des Vergabeverfahrens abwarten, ehe sie Rechtsschutz suchen, sondern müssen mithilfe einer rechtzeitigen Rüge gegenüber dem öffentlichen Auftraggeber mit dazu beitragen, dass Rechtsfehler zeitnah ans Licht kommen und vom öffentlichen Auftraggeber sogleich korrigiert werden können. Dadurch lassen sich Nachprüfungsverfahren idealerweise vermeiden. Zudem muss ein Unternehmen den Nachprüfungsantrag innerhalb von 15 Kalendertagen (§ 160 Abs. 3 S. 1 Nr. 4 GWB, dazu noch unten) nach der Mitteilung des öffentlichen Auftraggebers stellen, der Rüge nicht abhelfen zu wollen. Das führt dazu, dass Nachprüfungsverfahren sich nicht immer erst an ein schon abgeschlossenen Vergabeverfahren anschließen, sondern in jeder Phase des Vergabeverfahrens möglich sind. Der öffentliche Auftraggeber kann auf diese Weise nach und nach etwaige Fehler korrigieren, anstatt immer von vorne anfangen zu müssen.
In § 160 Abs. 3 S. 1 GWB finden sich drei voneinander unabhängige Rügeobliegenheiten:
Nr. 1: Erkennt der Antragsteller einen Verstoß gegen Vergabevorschriften (positive Kenntnis), muss er ihn innerhalb einer Frist von zehn Kalendertagen rügen. Das gilt nur, wenn der Antragsteller den Verstoß vor Einreichen des Nachprüfungsantrags erkennt. Das bedeutet, dass sich die Rügeobliegenheit nicht auf solche Verstöße bezieht, die erst während eines schon laufenden, anlässlich eines anderen Rechtsverstoßes eingeleiteten Nachprüfungsverfahrens zutage treten. Nach der Rechtsprechung muss das Unternehmen einen solchen Verstoß dann aber unverzüglich bei der Vergabekammer geltend machen und ihn sich nicht „aufheben“, um das Verfahren insgesamt zu verzögern.
Nr. 2: Ist ein Verstoß gegen Vergabevorschriften schon aufgrund der Bekanntmachung erkennbar, muss der Antragsteller ihn spätestens bis zum Ablauf der in der Bekanntmachung benannten Bewerbungs- oder Angebotsfrist rügen. Positive Kenntnis setzt die Rügeobliegenheit nicht voraus. Ab dem Zeitpunkt positiver Kenntnis greift aber zusätzlich die Zehn-Tages-Frist aus Nr. 1.
Nr. 3: Ist ein Verstoß gegen Vergabevorschriften erst in den Vergabeunterlagen erkennbar, muss der Antragsteller ihn ebenfalls spätestens bis zum Ablauf der in der Bekanntmachung benannten Bewerbungs- oder Angebotsfrist rügen. Insofern gilt entsprechendes wie nach Nr. 2.
Da der Antrag auf Feststellung der Unwirksamkeit nach § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB in Fällen statthaft ist, in denen der öffentliche Auftraggeber den Auftrag ohne vorherige Veröffentlichung einer Bekanntmachung vergeben und damit weitgehend intransparent gehandelt hat, gelten die Rügeobliegenheit und Präklusionsvorschriften hier nicht (§ 160 Abs. 3 S. 2 GWB).
Kommt das Unternehmen seiner Rügeobliegenheit nicht nach, ist es mit dem geltend gemachten Verfahrensverstoß präkludiert. Es greift die Rechtsfolge des § 160 Abs. 3 S. 1 GWB, wonach der Nachprüfungsantrag unzulässig ist, das Unternehmen also den Verstoß verfahrensrechtlich nicht mehr geltend machen kann (formelle Präklusion). Ob das Unternehmen darüber hinaus auch materiell-rechtlich seine Rechtsposition aus § 97 Abs. 6 GWB in diesem Umfang einbüßt (materielle Präklusion), was etwa Schadensersatzansprüche ausschließen würde, ist umstritten.
Form- und fristgerechter Antrag (§§ 160 Abs. 1, 161, 135 Abs. 2 S. 1 GWB)
Der Antrag (§ 160 Abs. 1 GWB) ist nach § 161 Abs. 1 S. 1 GWB schriftlich bei der Vergabekammer einzureichen und unverzüglich zu begründen, und zwar mit dem Inhalt aus § 161 Abs. 2 GWB. Darüber hinaus soll der Antrag nach § 160 Abs. 1 S. 2 GWB ein bestimmtes Begehren enthalten.
Die Frist für den Nachprüfungsantrag ergibt sich für den Regelfall aus § 160 Abs. 3 S. 1 Nr. 4 GWB. Hiernach ist der Antrag wegen Verfristung unzulässig, wenn mehr als 15 Kalendertage vergangen sind, die mit dem Eingang der Mitteilung des Auftraggebers beginnen, einer Rüge nicht abhelfen zu wollen. Diese relativ knappe Frist dient wie auch die Präklusionsvorschriften und die kurzen Entscheidungsfristen für die Vergabekammer dazu, das Verfahren zu beschleunigen und letztlich so schnell wie möglich die Auftragsvergabe abschließen zu können.
Der Antrag auf Feststellung der Unwirksamkeit des öffentlichen Auftrags oder der Konzession nach § 135 Abs. 1 GWB unterliegt der besonderen Fristbestimmung in § 135 Abs. 2 GWB. Der Antragsteller muss die Unwirksamkeit nach § 135 Abs. 2 S. 1 GWB grundsätzlich innerhalb von 30 Kalendertagen nach der Information der betroffenen Bieter und Bewerber durch den öffentlichen Auftraggeber über den Abschluss des Vertrags in einem Nachprüfungsantrag geltend machen. Fehlt es an einer solchen Information (und auch an einer an ihre Stelle tretende Vergabebekanntmachung nach § 135 Abs. 2 S. 2 GWB), greift die Frist von 30 Tagen nicht ein. In jedem Fall aber kann die Unwirksamkeit nicht später als sechs Monate nach Vertragsschluss geltend gemacht werden.
Beteiligungs- und Handlungsfähigkeit (§ 162 S. 1 GWB, §§ 11, 12 VwVfG)
Beteiligte des Verfahrens sind neben dem Antragsteller und dem Auftraggeber auch diejenigen Unternehmen, deren Interessen durch die Entscheidung schwerwiegend berührt werden und die deswegen von der Vergabekammer beigeladen worden sind (§ 162 S. 1 GWB). Das ist jedenfalls dasjenige Unternehmen, mit dem der öffentliche Auftraggeber gedenkt, den Vertrag abzuschließen, und das deswegen in der Information der unterlegenen Bieter nach § 134 Abs. 1 S. 1 GWB genannt ist. Da es sich bei dem Nachprüfungsverfahren um ein Verwaltungsverfahren handelt (§ 168 Abs. 3 S. 1 GWB, § 9 VwVfG), richtet sich die Beteiligungs- und Handlungsfähigkeit der Beteiligten nach den §§ 11 und 12 VwVfG.
Sachliche und örtliche Zuständigkeit der Vergabekammer (§§ 156 Abs. 2, 159 GWB)
Die sachliche Zuständigkeit der Vergabekammer ergibt sich aus § 156 Abs. 2 GWB und erstreckt sich auf Rechte aus § 97 Abs. 6 GWB und sonstige Ansprüche gegen Auftraggeber, die auf die Vornahme oder das Unterlassen einer Handlung in einem Vergabeverfahren gerichtet sind. Die örtliche Zuständigkeit bestimmt sich nach § 159 GWB.
Welche der folgenden Aussagen ist richtig?
- Antragsbefugt sind stets nur Unternehmen, die ein Angebot abgegeben und damit ihr Interesse am Auftrag bekundet haben.
- Nachprüfungsanträge kommen nur in Betracht, wenn das Vergabeverfahren mit Ausnahme der Zuschlagserteilung schon vollständig abgeschlossen ist.
- Ein Verstoß gegen die Rügeobliegenheiten in § 160 Abs. 3 S. 1 GWB führt zur formellen Präklusion, macht also den Nachprüfungsantrag unzulässig.
Sekundärrechtsschutz
Sekundärrechtsschutz gewährleisten im Wesentlichen die Anspruchsgrundlagen in § 181 S. 1 GWB und in §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2 Nr. 3, 241 Abs. 2 BGB. Daneben kommen deliktische Schadensersatzansprüche nach § 823 Abs. 1 BGB, § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit §§ 97 ff. GWB und nach § 826 BGB in Betracht. Schadensersatzansprüche sind nicht vor den Vergabekammern einzuklagen, sondern im Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten (§ 156 Abs. 3 GWB).
Anspruch auf Schadensersatz nach § 181 S. 1 GWB
Nach § 181 S. 1 GWB kann ein Unternehmen Schadensersatz für die Kosten der Vorbereitung des Angebots oder der Teilnahme am Vergabeverfahren verlangen, wenn es ohne den Verstoß gegen eine seinen Schutz bezweckende Vorschrift bei der Wertung eine echte Chance auf den Zuschlag gehabt hätte, die aber durch den Rechtsverstoß beeinträchtigt wurde. Die Vorschrift scheint den Anspruchsinhalt recht eng zu begrenzen. Sie wird aber so verstanden, dass die Kosten der Vorbereitung des Angebots oder der Teilnahme am Vergabeverfahren nur beispielhaft genannt werden und das gesamte negative Interesse zu ersetzen ist, das sich nach den §§ 249 ff. BGB bestimmt. Der Geschädigte ist also so zu stellen, wie er stünde, wenn er sich am Vergabeverfahren nicht beteiligt und keine Vorbereitungsmaßnahmen dafür getroffen hätte. Den Ersatz des positiven Interesses, also etwa entgangenen Gewinn aus der betreffenden öffentlichen Auftragsvergabe, kann der Anspruchssteller dagegen nicht verlangen.
Die Anspruchsvoraussetzung, dass der öffentliche Auftraggeber gegen eine den Schutz des Unternehmens bezweckende Vorschrift verstoßen haben muss, verweist auf die Maßgaben des § 97 Abs. 6 GWB. Primär- und Sekundärrechtsschutz sind insofern deckungsgleich. Das Merkmal der „echten Chance auf den Zuschlag“ hat nach der Rechtsprechung hohe Anforderungen. Es muss innerhalb des Wertungsspielraums des Auftraggebers liegen, auf das betreffende Angebot den Zuschlag zu erteilen. Diese strenge Auslegung führt dazu, dass vor allem frühzeitige Fehler im Vergabeverfahren keinen Anspruch aus § 181 S. 1 GWB begründen können, weil zu diesem Zeitpunkt häufig noch nicht ersichtlich ist, welche Angebote überhaupt in die engere Wertung kommen. Ein Verschulden des öffentlichen Auftraggebers setzt der Anspruch aus § 181 S. 1 GWB nicht voraus.
Wie oben angesprochen ist umstritten, ob ein Verstoß gegen die Rügeobliegenheiten in § 160 Abs. 3 S. 1 GWB auch eine materielle Präklusion zur Folge hat, sodass nicht nur ein Nachprüfungsantrag unzulässig, sondern auch jeglicher Schadensersatzanspruch ausgeschlossen wäre. Der Wortlaut von § 160 Abs. 3 S. 1 GWB verlangt eine solche Deutung nicht. Warum Unternehmen Schadensersatz verlangen können sollten, wenn ihr Nachprüfungsantrag wegen Präklusion unzulässig ist, lässt sich allerdings kaum plausibel begründen. Alternativ zur materiellen Präklusion lassen sich die unterlassene Rüge und damit der Verursachungsbeitrag zur Rechtsverletzung auch im Rahmen des Mitverschuldens nach § 254 Abs. 1 und Abs. 2 BGB berücksichtigen.
Eine weitere offene Frage ist, ob der Schadensersatzanspruch wegen Mitverschuldens auszuschließen ist, wenn der Anspruchssteller den Rechtsverstoß zwar gerügt, aber danach keinen Nachprüfungsantrag gestellt, auf Primärrechtsschutz also verzichtet hat. Dafür spricht, dass der Vorrang des Primärrechtsschutzes ein übergreifendes Anliegen des deutschen Staatshaftungsrechts ist und, wo es keine ausdrückliche Bestimmung wie in § 839 Abs. 3 BGB gibt, über § 254 BGB umgesetzt wird. Der Bundesgerichtshof nimmt indessen keinen Vorrang des vergaberechtlichen Primärrechtsschutzes an.
Anspruch auf Schadensersatz nach §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2 Nr. 3, 241 Abs. 2 BGB
Da die Einleitung eines Vergabeverfahrens ein vorvertragliches Schuldverhältnis gemäß § 311 Abs. 2 Nr. 3 BGB begründet, trifft den öffentlichen Auftraggeber ab diesem Zeitpunkt die Pflicht, auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen der Unternehmen Rücksicht zu nehmen (§ 241 Abs. 2 BGB). Zu den Rücksichtnahmepflichten zählen neben den allgemeinen Aufklärungs- und Mitteilungspflichten auch die unternehmensschützenden Pflichten, die das Vergaberecht normiert. Ein Verstoß gegen diese Pflichten begründet Schadensersatzansprüche nach § 280 Abs. 1 BGB (culpa in contrahendo), wenn sich der Auftraggeber hinsichtlich des Vertretenmüssens nicht entlasten kann (§ 280 Abs. 1 S. 2 BGB). Anders als der Anspruch aus § 181 S. 1 GWB ist hier also in der Regel Vorsatz oder Fahrlässigkeit erforderlich (§ 276 Abs. 1 S. 1 BGB). Mitverschulden des Unternehmens führt zur Kürzung oder zum Ausschluss des Anspruchs (§ 254 BGB).
Der Anspruchsinhalt bestimmt sich nach den §§ 249 ff. BGB. Häufig wird es um den Ersatz des negativen Interesses gehen. Anders als nach § 181 S. 1 GWB gibt es hier aber keine ausdrückliche, dahingehende Festlegung. Daher kann es über die Anwendung von §§ 249 ff. BGB auch dazu kommen, dass das positive Interesse zu ersetzen ist. Das ist namentlich dann der Fall, wenn sich begründen lässt, dass der öffentliche Auftraggeber den Auftrag ohne die zu vertretende Pflichtverletzung dem Anspruchssteller erteilt hätte. Zurechenbare Schadensfolge der Pflichtverletzung ist dann unter anderem der entgangene Gewinn (§ 252 BGB).
Welche der folgenden Aussagen ist nicht richtig?
- Der Anspruch aus § 181 S. 1 GWB ist auf den Ersatz des vollständigen negativen Interesses gerichtet.
- Nach der Rechtsprechung gilt im Vergaberecht der Vorrang des Primärrechtsschutzes vor dem Sekundärrechtsschutz.
- Der Anspruch aus §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2 Nr. 3, 241 Abs. 2 BGB kann je nach Situation auch den Ersatz des positiven Interesses erfordern.
Rechtsschutz unterhalb der vergaberechtlichen Schwellenwerte
Primärrechtsschutz
Die unionsrechtlichen Vergaberichtlinien erfassen öffentliche Aufträge und Konzessionen unterhalb der vergaberechtlichen Schwellenwerte nicht. Daher zwingen sie die Mitgliedstaaten auch nicht dazu, für solche Vergaben Primärrechtsschutz vorzusehen. Der deutsche Gesetzgeber hat dementsprechend den vergaberechtlichen Primärrechtsschutz in den §§ 155 ff. GWB nicht für Aufträge außerhalb des Anwendungsbereichs des GWB vorgesehen. Das Bundesverfassungsgericht ist der Auffassung, dass dies weder gegen Art. 3 Abs. 1 GG noch gegen die Garantie effektiven Rechtsschutzes verstößt, die hier nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts aus dem allgemeinen Justizgewährleistungsanspruch abzuleiten ist (nicht aus Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG, weil es sich bei der öffentlichen Auftragsvergabe nicht um einen Akt öffentlicher Gewalt handeln soll).
Das heißt allerdings nicht, dass unterhalb der Schwellenwerte keinerlei Primärrechtsschutz denkbar ist. Hier können Unternehmen subjektive Rechte zwar nicht aus § 97 Abs. 6 GWB ableiten, immerhin aber aus dem allgemeinen verfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgebot in Art. 3 Abs. 1 GG.
Zahlreiche Fragen sind allerdings umstritten. So ist schon nicht klar (und wird von den Gerichten unterschiedlich beantwortet), ob für diesen Rechtsschutz der ordentliche Rechtsweg oder der Verwaltungsrechtsweg eröffnet ist. Das hängt davon ab, ob das Vergaberecht dem Privatrecht zuzuordnen ist und damit eine privatrechtliche Streitigkeit vorliegt, weil das Vergaberecht auf den Abschluss eines privatrechtlichen Vertrags gerichtet ist, oder dem öffentlichen Recht mit der Folge einer öffentlichen-rechtlichen Streitigkeit im Sinne von § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO, weil in ihm gerade öffentlich-rechtliche Bindungen des öffentlichen Auftraggebers (namentlich aus Art. 3 Abs. 1 GG) zum Ausdruck kommen. Die Annahme einer öffentlich-rechtlichen Einordnung erscheint überzeugender.
Umstritten ist auch, ob und inwieweit die Informations- und Wartepflicht aus § 134 GWB, die effektiven Primärrechtsschutz in aller Regel erst ermöglicht (siehe dazu oben), auf die öffentliche Auftragsvergabe unterhalb der Schwellenwerte zu übertragen ist. Eine Analogie dürfte mangels planwidriger Regelungslücke ausscheiden. Fehlt es im jeweiligen Landesrecht an einer ausdrücklichen Bestimmung (wie etwa nach § 12 des Vergabegesetz Mecklenburg-Vorpommern), kommt nur in Betracht, solche Pflichten damit zu begründen, dass auch das verfassungsrechtliche Gleichbehandlungsgebot in Art. 3 Abs. 1 GG ein bestimmtes Maß an Transparenz verlangt. Jedenfalls gilt auch unterhalb der vergaberechtlichen Schwellenwerte der Grundsatz, dass die Gerichte einen wirksam geschlossenen Vertrag nicht aufheben können.
Sekundärrechtsschutz
Unterhalb der vergaberechtlichen Schwellenwerte ist § 181 GWB nicht anwendbar. Sekundärrechtsschutz gewährleisten daher nur der Anspruch auf Schadensersatz nach §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2 Nr. 3, 241 Abs. 2 BGB und deliktische Schadensersatzansprüche.
Welche der folgenden Aussagen ist nicht richtig?
- Dass der Primärrechtsschutz unterhalb der vergaberechtlichen Schwellenwerte weniger formalisiert ist, liegt daran, dass Unternehmen sich hier nicht auf subjektive Rechte berufen können.
- Primärrechtsschutz unterhalb der Schwellenwerte können Unternehmen suchen, indem sie im einstweiligen Rechtsschutz Abwehr- und Unterlassungsansprüche gegen rechtswidrige Zuschlagsentscheidungen durchsetzen.
- Auch unterhalb der vergaberechtlichen Schwellenwerte ist/wäre es für einen effektiven Primärrechtsschutz wichtig, eine Informations- und Wartepflicht des öffentlichen Auftraggebers vorzusehen.
Literatur
Burgi, Vergaberecht, 3. Auflage 2021, §§ 20, 21
Pünder, in Ehlers/Fehling/Pünder, Besonderes Verwaltungsrecht Band 1, 4. Auflage 2019, § 17 Vergaberecht, Rn. 172–209