Kilian Wegner Strafrecht AT I: Übungsfälle Licensed under CC-BY-4.0

Einheit 1: Einführung in die juristische Klausurtechnik (Lösung)

Vorbemerkung für Leiter:innen von Arbeitsgemeinschaften und Tutorien, die mit der Fallsammlung arbeiten: Für die erste AG-Einheit ist bewusst wenig Stoff vorgegeben, um genügend Zeit zur Einführung in die Grundlagen der Klausurbearbeitung zu geben. Nach Möglichkeit sollte diese Einheit auch genutzt werden, um die wichtigsten Arten der juristischen Literatur (Lehrbücher, Fallbücher, Gesetzeskommentare) vorzustellen. Besonders wichtig ist auch, den Studierenden an der Leinwand vorzuführen, wie eine Verbindung zu den Datenbanken beck online und juris hergestellt wird. Es könnte zu diesem Zweck beispielsweise vorgeführt werden, wie man die Definition für eine Gesundheitsschädigung i. S. v. § 223 Abs. 1 StGB in einem Kommentar auf beck online findet oder wie sich aktuelle Entscheidungen zu dieser Norm auf juris recherchieren lassen.

Fall 1

Vorbemerkung: In einer universitären Klausur im Fach der Rechtswissenschaft besteht Ihre Aufgabe darin, ein Rechtsgutachten anzufertigen, das die Geschehnisse des Falls einer rechtlichen Bewertung unterzieht. Speziell im Strafrecht geht es meistens darum, ob das beschriebene Verhalten strafbar ist.

Anfangsschwierigkeiten bereitet das Schreiben von Gutachten oft deshalb, weil der Gutachtentext ganz bestimmten formellen Regeln entsprechen muss. Ähnliches kennen Sie aus dem Deutschunterricht: Wenn Sie beispielsweise eine Gedichtinterpretation anfertigen, können Sie nicht einfach „drauflosschreiben“, sondern müssten ganz bestimmte Elemente in den Text aufnehmen. Ähnlich ist es beim Rechtsgutachten.

Die wichtigste Grundregel, die Sie mit Blick auf das Rechtsgutachten im ersten Semester erlernen müssen, ist der sog. Gutachtenstil. Damit ist gemeint, dass Ihr Text einem bestimmten logischen Schema, dem sog. Syllogismus, folgen muss. Der Syllogismus besteht in seiner Grundform aus vier Schritten:

1.         Obersatz: Sie werfen eine Hypothese auf (z. B.: „Bei der von T zum Zuschlagen verwendeten Säge könnte es sich um ein gefährliches Werkzeug i. S. v. § 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 StGB handeln.“)

2.         Definition: Sie benennen den rechtlichen Maßstab, nach dem die These zu prüfen ist. (z. B.: „Ein gefährliches Werkzeug i. S. v. § 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 StGB ist ein Gegenstand, der nach seiner objektiven Beschaffenheit und der konkreten Art der Verwendung dazu geeignet ist, bei einem Menschen erhebliche Verletzungen herbeizuführen.“).

3.         Subsumtion: Sie prüfen, ob Ihr Sachverhalt mit definierten Normmerkmalen übereinstimmt. (z. B.: „Die von T verwendete Säge war sehr scharf und hatte spitze Zacken, so dass sie geeignet ist, um einem Menschen, der damit geschlagen wird, erhebliche Verletzungen beizubringen.“)

4.         Ergebnis: Sie stellen fest, ob Ihre Hypothese falsch oder richtig war. (z. B.: „Folglich handelt es sich bei der Säge um ein gefährliches Werkzeug.“)

Wenn Sie im Gutachtenstil schreiben, muss sich jeder Satz, den Sie schreiben, in dieses Schema einsortieren lassen. Alle zusätzlichen Informationen und Gedanken sind überflüssig und damit falsch.

In einer Klausur verwenden Sie den Gutachtenstil immer dort, wo sich eine Frage nicht sofort eindeutig für jedermann erschließt. Für offensichtliche Dinge können Sie dagegen den sog. Feststellungsstil verwenden. So wäre es z. B. verfehlt, im Gutachtenstil zu prüfen, ob ein Audi A6 ein „Personenkraftwagen“ im Sinne der Straßenverkehrsordnung ist. Hier könnten Sie schlichtweg feststellen: „Der Audi A6 ist ein Personenkraftwagen im Sinne der Straßenverkehrsordnung“. In manchen Fällen bietet sich auch der sog. erweiterte Feststellungstil an. Damit ist gemeint, dass Sie eine rechtliche Bewertung feststellen, dabei aber durchklingen lassen, welche rechtlichen Voraussetzungen diese Feststellung hat. Wenn Sie beispielsweise wissen, dass der Begriff der Gesundheitsschädigung i. S. v. § 223 Alt. 2 StGB voraussetzt, dass der menschliche Körper in einen pathologischen Zustand versetzt wird, könnten Sie in einem klaren Fall der Gesundheitsschädigung wie folgt feststellen: „Bei einem Knochenbruch handelt es sich um einen pathologischen körperlichen Zustand und mithin um eine Gesundheitsschädigung“. Der Vorteil des erweiterten Feststellungstils ist, dass Sie der Klausurenkorrektor:in zeigen können, dass Sie die Definition eines Rechtsbegriffs auswendig gelernt haben.

Die besondere Herausforderung beim Verfassen eines Rechtsgutachtens liegt nun darin, Gutachten- und Feststellungsstil sicher zu beherrschen und in der richtigen Mischung einzusetzen. Dafür gibt es keine festen Erfolgsrezepte. Zur Orientierung merken Sie sich, dass die vom Klausursachverhalt aufgeworfenen Rechtsprobleme äußerst gründlich im Gutachtenstil behandelt werden, während das Unproblematische sehr knapp im Feststellungsstil zu erledigen ist. Der Kontrast zwischen den gründlichen und den knappen Textpassagen darf dabei recht groß sein.

Auf keinen Fall sollten Sie in einer universitären Prüfung den sog. Urteilsstil verwenden. Dieser Stil ist der Abfassung von justiziellen Entscheidungen und anwaltlichen Schriftsätzen vorbehalten. Der Urteilsstil zeichnet sich dadurch aus, dass Sie an den Anfang Ihrer Überlegungen keine Hypothese, sondern das Ergebnis stellen. Dies lässt sich wie folgt schematisieren:

1.         Urteil: Sie nennen das Ergebnis (z. B.: „Bei der von T zum Zuschlagen verwendeten Säge handelt es sich um gefährliches Werkzeug i. S. v. § 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 StGB.“)

2.         Begründung: Sie begründen Ihr Ergebnis. (z. B.: „Denn die Säge war sehr scharf und hatte spitze Zacken, so dass sie geeignet ist, um einem Menschen, der wie das hiesige Opfer damit geschlagen wird, erhebliche Verletzungen beizubringen. Dies erfüllt die Anforderungen an das Tatbestandsmerkmal eines gefährlichen Werkzeugs i. S. v. § 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 StGB.“)

Gerade am Anfang der Ausbildung geraten viele Studierende aus Versehen in den Urteilsstil. Sie können das an Signalwörtern wie „denn“, „weil“, „da“ erkennen, die Sie unbedingt vermeiden sollten.

T könnte den objektiven Tatbestand der Körperverletzung nach § 223 Abs.1 StGB erfüllt haben, indem er den P bewusstlos geschlagen hat.

Hinweis: In den Begrifflichkeiten des Syllogismus handelt es sich bei diesem „indem“-Satz um die Hypothese / den Obersatz.

Achten Sie speziell im Strafrecht darauf, dass Sie nach dem Wort „indem“ das möglicherweise strafbare Verhalten faktisch beschreiben, ohne dabei rechtliche Begriffe zu verwenden. Schreiben Sie also nie „A könnte sich strafbar gemacht haben, indem er O ermordete / am Körper verletzte / beraubte“, sondern „A könnte sich strafbar gemacht haben, indem er O mit dem Messer erstach / ohrfeigte / O eine Pistole vor das Gesicht hielt und die goldene Uhr herausverlangte“.

Dies setzt voraus, dass T eine andere Person körperlich misshandelt oder an der Gesundheit geschädigt hat.

Hinweis: Dieser Satz beschreibt die rechtlichen Voraussetzungen, nach denen Sie Ihre Eingangshypothese bewerten.

Das Niederschlagen könnte dabei zunächst als körperliche Misshandlung zu bewerten sein.

Hinweis: Mit diesem Satz eröffnen Sie eine neue (Zwischen-)Hypothese (auch als Obersatz 2. Ordnung bezeichnet), die Sie zunächst untersuchen müssen, um Ihre Eingangshypothese bewerten zu können.

Eine körperliche Misshandlung liegt vor, wenn ein Mensch auf unangemessene und üble Weise in seinem körperlichen Wohlbefinden beeinträchtigt ist.

Hinweis: Hier wird festgelegt, nach welchen rechtlichen Voraussetzungen die (Zwischen-)Hypothese untersucht wird.

Diese Voraussetzungen werden durch heftigen Schlag, der durch Schmerz das körperliche Wohlbefinden beeinträchtigt erfüllt.

Hinweis: Dieser Satz stellt die Subsumtion dar, also die Prüfung, ob der Sachverhalt „Schlagen“ mit den rechtlichen Voraussetzungen an eine körperliche Misshandlung übereinstimmt.

Der Taterfolg einer körperlichen Misshandlung liegt damit vor.

Hinweis: Mit diesem (Zwischen-)Ergebnis beantworten Sie Ihre (Zwischen-)Hypothese.

Zusätzlich könnte auch eine Gesundheitsschädigung vorliegen.

Hinweis: Eine erneute (Zwischen-)Hypothese.

Darunter wird jede negative Abweichung vom körperlichen Normalzustand verstanden.

Hinweis: Definition.

Die bei P herbeigeführte Bewusstlosigkeit stellt einen solchen pathologischen Zustand dar.

Hinweis: Subsumtion.

Auch der Taterfolg der Gesundheitsschädigung ist also eingetreten.

Hinweis: (Zwischen-)Ergebnis.

Der objektive Tatbestand der Körperverletzung ist damit erfüllt.

Hinweis: (End-)Ergebnis.

Weiterführender Hinweis: Vorstehend wurde der Fall ausführlich im Gutachtenstil gelöst, um Ihnen das Prinzip näherzubringen. Da der Fall recht eindeutig ist (ein Schlag, mit dem jemand bewusstlos gemacht wird, erfüllt den objektiven Tatbestand der Körperverletzung!), könnte in einer Klausur hier auch mit dem Feststellungsstil gearbeitet werden. Sie würden dann formulieren: „Der Schlag des T gegen den P erfüllt den objektiven Tatbestand der Körperverletzung.“ Gut würde sich auch der erweiterte Feststellungstil eignen: „Der Schlag des T stellt eine üble und unangemessene Beeinträchtigung des körperlichen Wohlbefindens und mithin eine körperliche Misshandlung dar. Zugleich ist die dadurch verursachte Bewusstlosigkeit des P auch als pathologischer Zustand und damit als Gesundheitsschädigung zu werten. Damit sind beide Taterfolge i. S. v. § 223 Abs. 1 StGB eingetreten und der objektive Tatbestand der Körperverletzung erfüllt.“

Fall 2

Vorbemerkung: Machen Sie sich keine Sorgen, dass Sie Voraussetzungen des Diebstahls nicht kennen – dies wird in einem späteren Semester behandelt. Der Übungsfall soll lediglich zeigen, dass das Schreiben eines Rechtsgutachtens oft dadurch erschwert wird, dass die rechtlichen Voraussetzungen eines Tatbestandsmerkmals auf Ebene 2 des Syllogismus (= Definition) umstritten sind. Ihre Aufgabe ist es dann, verschiedene Auslegungsmöglichkeiten aufzuzeigen, zu prüfen, welche Folgen die einzelnen Varianten für Ihr Gutachten haben und ggf. Stellung dazu zu nehmen, welche Auffassung vorzugswürdig ist. Wenn möglich, sollten Sie sich bei einer solchen Stellungnahme der juristischen Auslegungsmethoden (Wortlaut, Telos, Systematik) bedienen.

Zu erörtern ist, ob es sich bei dem Haus der B um eine Wohnung i. S. v. § 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB handelt. Wohnungen sind abgeschlossene und überdachte Räume, die Menschen zumindest vorübergehend als Unterkunft dienen. Diese Voraussetzung erfüllt die Immobilie der B grundsätzlich. Fraglich ist jedoch, ob sie mit dem Tod der B ihre Wohnungseigenschaft verloren hat und damit im Zeitpunkt des Einbruchs mangels aktuelles Wohnnutzung keine Wohnung mehr war.

Gegen eine solche Auslegung des Begriffs der „Wohnung“ ließe sich zunächst der Wortlaut des § 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB anführen, da mit dem Terminus der „Wohnung“ üblicherweise eine für die private Lebensführung geeignete und in sich abgeschlossene Einheit von mehreren Räumen bezeichnet wird und es nach dem allgemeinen Sprachgebrauch nicht darauf ankommt, ob diese Stätte tatsächlich genutzt wird. In diesem Sinne wird beispielsweise auch ein Wohnmobil selbst dann als Wohnmobil bezeichnet, wenn (z. B. außerhalb der Urlaubssaison) niemand darin wohnt.

In dieselbe Richtung deutet auch eine systematische Auslegung: Das Strafgesetzbuch sieht bei Einbruchdiebstählen eine Staffelung in Deliktsschwere und Strafmaß vor, die vom besonders schweren Fall des Diebstahls gemäß § 243 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StGB über den Wohnungseinbruch im Sinne des § 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB bis zum Einbruch in eine dauerhaft genutzte Privatwohnung nach § 244 Abs. 4 StGB reicht. Die sprachliche Betonung des zusätzlichen Tatbestandsmerkmals „dauerhaft genutzt“ in § 244 Abs. 4 StGB wäre überflüssig, wenn das Erfordernis der (dauerhaften) Nutzung der Wohnung auch schon tatbestandliche Voraussetzung des einfachen Wohnungseinbruchdiebstahls nach § 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB sein würde.

Schließlich gebieten auch der Sinn und Zweck der Qualifikation aus § 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB die Einbeziehung von unbewohnten Immobilien, jedenfalls so lange sie nicht als Wohnstätte entwidmet sind. Die Vorschrift soll das Eigentum an höchstpersönlichen Gegenständen und die häusliche Integrität an sich schützen. Diese Rechtsgüter können auch dann verletzt sein, wenn sie neben den aktuellen Bewohnern weiteren Personen zuzuordnen sind, die einen Bezug zu den Räumlichkeiten aufweisen – etwa, weil sie sich häufig in ihnen aufhalten, weil es sich um ihr Elternhaus handelt oder weil sie in dem Haus private Gegenstände lagern.

Nach vorzugswürdiger Auslegung ist der Tatbestand des § 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB daher erfüllt.

Hinweis: Das Ergebnis muss Sie keineswegs überzeugen und wurde z. B. von Bock/Manheim, HRRS 2020, 341 ff. mit sehr guten Argumenten abgelehnt. Es ging hier nur darum, Ihnen die Grundzüge einer streitigen Normauslegung zu zeigen, wie sie in einer Klausur von Ihnen verlangt wird.