Kilian Wegner Strafrecht Besonderer Teil I: Delikte gegen die Person und die Allgemeinheit Licensed under CC-BY-4.0

§ 13: Freiheitsberaubung (§ 239 StGB)

Autoren: Kilian Wegner / Fynn Wenglarczyk

Der in § 239 StGB enthaltene Tatbestand der Freiheitsberaubung stellt es unter Strafe, einen anderen Menschen durch Einsperrung oder auf andere Weise daran zu hindern, sich von einem bestimmten Ort fortzubewegen.

Rechtsgut und Deliktsstruktur

Rechtsgut

§ 239 StGB schützt die persönliche Freiheit des Einzelnen, nicht an einem bestimmten Ort verweilen zu müssen, sondern sich von dort fortbewegen zu können (sog. Fortbewegungsfreiheit). Nicht geschützt ist dagegen die Freiheit, an einen bestimmten Ort zu gelangen oder an einem bestimmten Ort bleiben zu können.

Nicht abschließend geklärt ist, wie stark die Fortbewegungsfreiheit räumlich eingeschränkt sein muss, um verletzt zu sein. So hält der BGH den § 239 StGB beispielsweise nicht für einschlägig, wenn jemand daran gehindert wird, sich aus einem Staat der Größe Syriens fortzubewegen.BGH NStZ 2015, 338 (339 f.). Eine Freiheitsberaubung wurde dagegen darin gesehen, dass jemand auf dem Gelände einer Kaserne eingesperrt ist.OLG Köln NJW 1986, 333.

Umstritten ist ferner, ob der Verletzte den aktuellen Willen haben muss, seine Fortbewegungsfreiheit auszuüben, oder ob insofern ein potenzieller Wille genügt.

Beispiel: A sperrt B in dessen Schlafzimmer ein, damit jener nicht vor 10 Uhr das Haus verlässt. B, der ohnehin vorhatte, das Bett nicht zu verlassen, merkt davon nichts.

Meinungsstand

Eine im Schrifttum verbreitete Auffassung würde B im Beispiel aus → Rn. 4 nicht wegen vollendeter Freiheitsberaubung bestrafen, da von § 239 StGB nur geschützt sei, wer seinen Aufenthaltsort aktuell auch tatsächlich verlassen will, aber auf Grund des Täterverhaltens nicht kann.So zB Eidam, JuS 2010, 869 (870); ders., HRRS 2023, 40, 41 (Anmerkung zu BGH HRRS 2022 Nr. 801); Park/Schwarz, JURA 1995, 294 (295 f.); Kretschmer, JURA 2009, 590 (591). Nach dieser Auffassung ist § 239 StGB ein Spezialfall des § 240 StGB, bei dem der Nötigungserfolg darin liegt, dass der Täter den Fortbewegungsentschließungswillen des Verletzten beugt. In systematischer Hinsicht führt das Schrifttum zudem an, dass für die in § 239 Abs. 2 StGB angeordnete Versuchsstrafbarkeit zu wenig Raum bleibe, wenn der Täter schon bei Personen, die sich überhaupt nicht fortbewegen wollen, aus dem vollendeten Delikt bestraft wird.

Der BGH und die herrschende Literaturmeinung betrachten den § 239 StGB dagegen als Tatbestand zum Schutz der potenziellen Fortbewegungsfreiheit und würden daher im Beispielsfall aus → Rn. 4 eine Strafbarkeit wegen vollendeter Freiheitsberaubung bejahen, da in die potenzielle Fortbewegungsfreiheit auch eingegriffen wird, wenn der von der Tathandlung Betroffene sich gar nicht wegbewegen will.BGHSt 14, 314 (316); BGHSt 32, 183 (188); BGHSt 67, 79 (Rn. 19 ff.) – jew. mwN; Wieck-Noodt, in: MüKo-StGB, Bd. 4, 4. Aufl. (2021), § 239 Rn. 7; Strauß, NStZ 2024, 1; Kindhäuser/Schramm, BT I, 11. Aufl. (2024), § 15 Rn. 5 sprechen von der Garantie der Verfügbarkeit eines elementaren Bewegungsraums, der unabhängig davon garantiert werde, ob ihn der Betreffende tatsächlich oder hypothetisch nutzt. Entscheidend sei für die Tatbestandsverwirklichung allein, dass es dem Verletzten unmöglich gemacht wird, seinen Aufenthalt nach eigenem Belieben zu verändern, mag er es auch überhaupt nicht bemerken, dass ihm diese Möglichkeit genommen wird. Dies ergebe sich schon aus dem Wortlaut von § 239 StGB (s. näher → Rn. 8).BGHSt 67, 79 (Rn. 23). Für eine Versuchsstrafbarkeit verbleibe außerdem durchaus ein Anwendungsbereich (näher → Rn. 10). Schließlich überzeuge die Idee der Gegenauffassung nicht, wonach § 239 StGB nur ein Spezialfall des § 240 StGB sei, da (so der BGH) der Bewegungsfreiheit ein durch Art. 2 Abs. 2 GG verfassungsrechtlich hervorgehobener Schutz zukomme, der sich auch in dem gegenüber § 240 StGB erhöhten Strafrahmen des § 239 StGB niederschlage.BGHSt 67, 79 (Rn. 24); Wieck-Noodt, in: MüKo-StGB, Bd. 4, 4. Aufl. (2021), § 239 Rn. 7.

In Modifikation der vom BGH und der hM vertretenen Position wird zudem teilweise vertreten, dass die potenzielle Fortbewegungsfreiheit nur dann geschützt sei, wenn vom Opfer der Wille gebildet werden könnte, den eigenen Aufenthaltsort zu verlassen.Rengier, BT II, 25. Aufl. (2024), § 22 Rn. 5; Eisele, in: Schönke/Schröder, 30. Aufl. (2019), § 239 Rn. 2. Das sei bei Kleinstkindern, Schlafenden oder Bewusstlosen nicht der Fall, sodass A im Beispielsfall aus → Rn. 4 nicht tatbestandsmäßig handelte, wenn B eingeschlossen wird, während er noch schläft.

Stellungnahme

Die besseren Argumente sprechen für die im Schrifttum verbreitete Auffassung, wonach lediglich der aktuelle Fortbewegungswille geschützt ist. Anders als der BGH und die hM meinen, lässt sich aus dem Wortlaut von § 239 StGB jedenfalls nicht zwingend ableiten, dass die Norm auch die potenzielle Fortbewegungsfreiheit schützt. Richtig ist zwar, dass die Worte „des Gebrauchs“ der Freiheit, die nach alter Rechtslage in § 239 Abs. 1 StGB enthalten waren, durch das 6. StrafrechtsreformgesetzBGBl. 1998 I S. 164. gestrichen wurden, sodass der Wortlaut nunmehr darauf abstellt, dass ein Mensch „der Freiheit beraubt“ werde.Wieck-Noodt, in: MüKo-StGB, Bd. 4, 4. Aufl. (2021), § 239 Rn. 7. Nach dem Alltagsverständnis der für die Reichweite von § 239 StGB zentralen Begriffe „einsperrt“ und „der Freiheit beraubt“ ist allerdings keineswegs klar, dass darunter Personen fallen, die sich gar nicht eingesperrt bzw. ihrer Freiheit beraubt fühlen.Vgl. Eidam, HRRS 2023, 40 (41) mwN. Die Tathandlungsalternative „auf andere Weise der Freiheit beraubt“ legt vielmehr nahe, dass der Tatbestand auf eine Begehungsweise abzielt, die nötigend ist und vom Opfer bemerkt wird.Eidam, HRRS 2023, 40, 41.

Nicht überzeugend ist ferner das (verfassungs-)systematische Argument des BGH und der hM, wonach der verfassungsrechtliche Stellenwert der Fortbewegungsfreiheit und der gegenüber § 240 StGB erhöhte Strafrahmen bei § 239 StGB dagegen sprächen, § 239 StGB nur als einen Spezialfall des § 240 StGB anzusehen und daher bei § 239 StGB ebenfalls einen Nötigungserfolg zu verlangen (vgl. dazu schon → Rn. 6). Denn dass der Gesetzgeber das Unrecht der Freiheitsberaubung tatsächlich für schwerwiegender erachtet als das „normale“ Nötigungsunrecht, bringt er mit der Formulierung eines schärfer bestraften § 239 StGB in der Tat zum Ausdruck. Es spricht aber nicht dagegen, dass § 239 StGB ein Spezialfall von § 240 StGB ist.

Andererseits kann dem BGH und der hM in systematischer Hinsicht zugestanden werden, dass für eine Versuchsstrafbarkeit auch dann noch Raum ist, wenn man schon die Beeinträchtigung der potenziellen Fortbewegungsfreiheit für eine Vollendung genügen lässt. So wäre beispielsweise auch nach dieser Ansicht dann ein Versuch gegeben, wenn der Täter ein untaugliches Tatmittel einsetzt (etwa wenn der Täter den Verletzten durch das Abschließen einer Tür einsperren will, die sich überraschenderweise gar nicht schließen lässt) oder sein Plan, den Verletzten zum Zwecke der Freiheitsberaubung zu locken, nicht aufgeht, weil der Verletzte darauf nicht hereinfällt.BGHSt 67, 79 (Rn. 25). Konsequenterweise muss man dann aber auch den historische Ursprung der Ansicht von BGH und hM zu berücksichtigen. Bis zum Jahr 1998 war nach § 239 StGB nur die vollendete Freiheitsberaubung unter Strafe gestellt. Die Versuchsstrafbarkeit nach § 239 Abs. 2 StGB kannte die Vorschrift noch nicht, diese wurde erst mit dem 6. Strafrechtsreformgesetz eingeführt. Nach damaliger Rechtslage ging es bei dem Streit um den Schutz der potenziellen oder aktuellen Fortbewegungsfreiheit um die Frage, ob das unbemerkt gebliebene Einsperren eines Menschen strafbar oder straflos war, während heute nur zu klären ist, ob eine Vollendungs- oder Versuchsstrafbarkeit vorliegt.Strauß, NStZ 2024, 1, 2. Hätte man nach damaliger Rechtslage nur die aktuelle Fortbewegungsfreiheit als geschützt angesehen, wäre A im Beispielsfall aus → Rn. 4 gänzlich straflos gewesen. Insofern bestand unter der damaligen Rechtslage das Bedürfnis, das Versuchsunrecht der Verhinderung der Fortbewegungsmöglichkeit als vollendete Freiheitsberaubung zu erfassen. Dieses Bedürfnis ist mit Einführung der Versuchsstrafbarkeit nun aber entfallen.Sonnen, in: NK-StGB, 6. Aufl. (2023), § 239 Rn. 8.

Entscheidend dürfte letztlich die systematische Überlegung sein, dass mit dem Schutz der potenziellen oder aktualisierbaren Fortbewegungsfreiheit die Vollendungsstrafbarkeit contra legem in den Bereich bloßer Rechtsgutsgefährdung verlagert würdeEisele/Heinrich, BT, 2. Aufl. (2024), Rn. 266; Eidam, HRRS 2023, 40 (41). und die Vollendungsstrafbarkeit dann ein typisches Versuchsunrecht erfasste.Eidam, in: Matt-Renzikowski-StGB, 2. Aufl. (2020), § 239 Rn. 2. Für einen Rücktritt nach § 24 StGB bliebe dann kaum noch Raum,Sonnen, in: NK-StGB, 6. Aufl. (2023), § 239 Rn. 8; Eidam, in: Matt-Renzikowski-StGB, 2. Aufl. (2020), § 239 Rn. 2; ders., HRRS 2023, 40 (41). sodass etwa A im Beispielsfall aus → Rn. 4 bereits mit Zuschließen der Tür nicht mehr mit strafbefreiender Wirkung zurücktreten könnte, sollte er es sich doch anders überlegen.

Klausurhinweis: In der Klausur gibt es mehrere Möglichkeiten, den Streit um das Rechtsgut des § 239 StGB im Gutachten aufzugreifen.

Eine Möglichkeit besteht darin, einen Prüfungspunkt „Tatobjekt“ zu formulieren und dort die Frage zu stellen, ob es sich bei der eingesperrten Person um einen Menschen handeln muss, der sich während der Tat fortbewegen wollte (Aktualisierungstheorie), oder ob es genügt, dass dem Menschen die potenzielle Fortbewegungsfreiheit genommen wird. In diesem Zusammenhang kann (wenn der Fall dies aufwirft) auch geklärt werden, wie mit Betrunkenen, Bewusstlosen oder Schlafenden umzugehen ist.

Eine andere Möglichkeit besteht darin, bei der Prüfung der Tathandlung (→ Rn. 14 ff.) die Frage aufzuwerfen, ob jemand als „eingesperrt“ oder „auf andere Weise der Freiheit beraubt“ gelten kann, der zB im Tatzeitpunkt gar nicht den Willen hat, sich fortzubewegen oder der sich noch in einem größeren Areal (wie etwa einem Kasernengelände) bewegen kann. Bei der dann folgenden Auslegung der Begriffe „Einsperren“ bzw. „auf andere Weise der Freiheit berauben“ kann unter dem Gesichtspunkt der teleologischen Auslegung auf die Rechtsgutsfrage eingegangen werden.

Schließlich kann die Frage auch erst im Rahmen der Prüfung eines tatbestandsausschließenden Einverständnisses des Opfers angesprochen werden, da sich der Streit hier noch einmal bei der Frage auswirkt, welchen Bezugspunkt das Einverständnis für eine tatbestandsausschließende Wirkung haben muss.

Deliktsstruktur

Die Freiheitsberaubung ist ein Dauerdelikt. Es ist vollendet, sobald der Verletzte seine Fortbewegungsfreiheit verloren hat, aber erst beendet, wenn die Fortbewegungsfreiheit wieder hergestellt ist. Dies hat mehrere Konsequenzen:

  • Erstens können sich Dritte bis zur Beendigung der Freiheitsberaubung an dieser beteiligen (zB als Gehilfen, wenn sie dem Bewacher eines Entführten nach einigen Stunden der Bewachung etwas zu essen bringen, um den Entführungsplan zu fördern).

  • Zweitens ist die Freiheitsberaubung durchgehend als gegenwärtiger Angriff iSv § 32 StGB zu werten, so dass während der gesamten Tatzeit Notwehr und Nothilfe möglich sind.

  • Drittens beginnt die Verfolgungsverjährung nach Maßgabe von § 78a S. 1 StGB erst zu laufen, wenn der Verletzte die Freiheit wieder erlangt hat.

Objektiver Tatbestand

Tathandlung

Eine Freiheitsberaubung begeht, wer einen anderen Menschen einsperrt (§ 239 Abs. 1 Var. 1 StGB) oder ihn auf andere Weise der Freiheit beraubt (§ 239 Abs. 1 Var. 2 StGB).

Einsperren

Einsperren

Einsperren heißt jemand anderen durch eine äußere Vorrichtung oder sonstige Vorkehrungen daran zu hindern, einen Raum mit zumutbaren Mitteln bzw. auf zumutbare Weise zu verlassen.

Aus der Definition geht hervor, dass das vom Täter geschaffene Hindernis nicht unüberwindlich sein muss. So zählt jemand beispielsweise auch dann als eingesperrt, wenn die den Raum versperrende Tür durch einen geheimen Mechanismus geöffnet werden könnte, von dem das Opfer aber nichts weiß. Wenn sich das Opfer zwar befreien könnte, dabei jedoch in Gefahr geriete (zB bei einem Sprung aus dem Fenster eines Raumes im fünften Stock), ist es ebenfalls eingesperrt.

Beraubung der Freiheit auf „andere Weise“

Wenn der Verletzte allein durch eine Drohung des Täters gehindert ist, sich fortzubewegen, erfüllt dies § 239 Abs. 1 Var. 2 StGB nach hM nur, wenn es sich um eine Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben handelt.BGH NStZ-RR 2021, 281; BGH NStZ 2015, 338 (339) – jew. mwN. Die Drohung mit einem empfindlichen Übel unterhalb dieser Schwelle genügt nicht.

Beispiel: Keine Freiheitsberaubung liegt vor, wenn A dem B droht, sie werde den Arbeitsvertrag des B kündigen, wenn dieser vor 22 Uhr seinen Arbeitsplatz verlasse. In Betracht kommt aber eine Strafbarkeit nach § 240 StGB.

Begehung durch Unterlassen

Die Freiheitsberaubung kann in beiden Varianten des § 239 Abs. 1 StGB auch durch Unterlassen begangen werden. Dann muss den Täter eine Garantenpflicht iSv § 13 Abs. 1 StGB treffen, dem Verletzten Fortbewegungsfreiheit zu verschaffen. Eine Garantenstellung, aus der eine entsprechende Pflicht folgt, kann sich zB aus Ingerenz ergeben.

Beispiel (nach RGSt 24, 339): A hat den B versehentlich eingeschlossen. Als ihm dies später klar wird, befreit er B trotzdem nicht und macht sich damit strafbar nach §§ 239 Abs. 1, 13 Abs. 1 StGB.

Handeln ohne oder gegen den Willen des Betroffenen

Wenn der Betroffene damit einverstanden ist, in seiner Fortbewegungsfreiheit eingeschränkt zu werden, ist dies als tatbestandsauschließendes Einverständnis zu werten.

Welchen Bezugspunkt das Einverständnis haben muss, hängt davon ab, welches Rechtsgut man von § 239 StGB als geschützt ansieht (s. zu diesem Streit → Rn. 4 ff.). Folgt man dem BGH, der die Freiheitsberaubung als Delikt zum Schutz des potenziellen Fortbewegungswillens ansieht, dann ist dieser potenzielle Fortbewegungswille auch Bezugspunkt des Einverständnisses. Ein Einverständnis liegt nach dieser Lesart also nur dann vor, wenn sich der Betroffene der Freiheitsentziehung und der Freiheitsentziehende über das Ausmaß und die Dauer der Freiheitsentziehung einig sind. Ahnt der Betroffene hingegen nicht, dass er sich selbst dann nicht fortbewegen könnte, wenn er dies wollte, ist der Tatbestand des § 239 StGB erfüllt.

Beispiel (nach BGHSt 67, 79): A und B spiegeln der O vor, mit ihr nach Polen fliegen zu wollen. Sie bringen sie dafür im Auto zum Flughafen und setzen sie in ein Flugzeug. In Wirklichkeit geht die Reise nach Georgien, wo O unter die Kontrolle ihrer Familie gebracht werden soll. A und B wissen, dass O dies nicht will und sind während der Autofahrt sowie am Flughafen jederzeit bereit, O im Falle des Widerstandes mit Gewalt zur Weiterreise zu zwingen.

Weiterführendes Wissen: Dass eine Zustimmung des Betroffenen hier bereits auf Tatbestandsebene und nicht erst bei der Rechtfertigung als rechtfertigende Einwilligung zu berücksichtigen ist, liegt daran, dass § 239 StGB tatbestandlich einen nicht vorhandenen oder entgegenstehenden Willen des Betroffenen voraussetzt. In der Literatur wird allerdings darauf hingewiesen, dass dies genau genommen nur dann gilt, wenn man im Streit um das Rechtsgut des § 239 StGB (→ Rn. 4 ff.) nicht der Potenzialitätstheorie, sondern der Aktualitätstheorie folgt. Denn nach der Potenzialitätstheorie ist bereits die bloße Möglichkeit geschützt, einen Fortbewegungswillen zu bilden, ohne dass der tatsächliche Willen des Betroffenen von Bedeutung ist. Wenn man das so sieht, kann es für die Tatbestandsverwirklichung aber konsequenterweise nicht auf eine Willensbetätigung des Betroffenen in Gestalt eines Einverständnisses ankommen.Fischer, StGB, 71. Aufl. (2024), § 239 Rn. 4; Eidam, HRRS 2024, 40 (42); Otto, Grundkurs Strafrecht, 7. Aufl. (2005), § 28 Rn. 9; aA Schumann, Das mittels List erschlichene Einverständnis im Rahmen des § 239 Abs. 1 Alt. 2 StGB, 2018 S. 159.

Subjektiver Tatbestand

Um den subjektiven Tatbestand des § 239 StGB zu erfüllen, genügt es, wenn der Täter mit Eventualvorsatz handelt.

Rechtswidrigkeit

Wenn der Betroffene damit einverstanden ist, in seiner Fortbewegungsfreiheit eingeschränkt zu werden, ist dies nicht erst auf Ebene der Rechtfertigung als Einwilligung, sondern bereits auf Ebene des Tatbestands als tatbestandsausschließendes Einverständnis zu werten (→ Rn. 19 ff.).

Schuld

Auf Ebene der Schuld weist § 239 StGB keine Besonderheiten auf.

Täterschaft und Teilnahme

Da die Freiheitsberaubung ein Dauerdelikt ist, können Dritte sich so lange an der Tat beteiligen, bis der Verletzte seine Fortbewegungsfreiheit zurückerlangt hat (dazu schon → Rn. 13).

Die Freiheitsberaubung kann auch in mittelbarer Täterschaft begangen werden, was insbesondere dann in Betracht kommt, wenn der unmittelbare Täter gutgläubig und rechtmäßig handelt.

Beispiel: A zeigt B zu Unrecht wegen einer schweren Straftat an. B wird in der Folge auf Grundlage eines prozessrechtskonformen Haftbefehls in Untersuchungshaft genommen.

Qualifikationen (§ 239 Abs. 3, Abs. 4 StGB)

In § 239 Abs. 3 StGB ist eine Qualifikation der Freiheitsberaubung enthalten, wonach der Täter mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft wird, wenn er

  • das Opfer länger als eine Woche der Freiheit beraubt (Nr. 1) oder

  • durch die Tat oder eine während der Tat begangene Handlung eine schwere Gesundheitsschädigung des Opfers verursacht (Nr. 2).

Der Begriff der schweren Gesundheitsschädigung entspricht dem gleichlautenden Merkmal in § 250 Abs. 1 Nr. 1 lit. c) StGB (dazu → BT II § 6 Rn. 15 f.).

Eine weitere Qualifikation enthält § 239 Abs. 4 StGB, wonach mit Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren bestraft wird, wer durch die Freiheitsberaubung oder eine während der Freiheitsberaubung begangene Handlung den Tod des Opfers verursacht.

Sowohl bei § 239 Abs. 3 Nr. 2 StGB als auch bei § 239 Abs. 4 StGB handelt es sich um Erfolgsqualifikationen, d. h. mit Blick auf den Eintritt der schweren Folge genügt Fahrlässigkeit (§ 18 StGB).

Versuch

Der Versuch der Freiheitsberaubung ist gem. § 239 Abs. 2 StGB strafbar.

Bei den Qualifikationstatbeständen gem. § 239 Abs. 3, Abs. 4 StGB ergibt sich die Versuchsstrafbarkeit schon aus § 23 Abs. 1 Var. 1 StGB, da es sich um Verbrechen (§ 12 Abs. 1 StGB) handelt.

Konkurrenzen

Nutzt der Täter ein Nötigungsmittel, um den Verletzten seiner Fortbewegungsfreiheit zu berauben, so werden die §§ 240, 241 StGB nach hM durch § 239 StGB verdrängt.BGH NStZ-RR 2021, 281 mwN.

Beispiel (nach BGH NStZ-RR 2021, 281): T fordert O mit einem Küchenmesser in der Hand auf, sich auf den Fußboden des Wohnzimmers zu setzen. Dem kommt O aus Angst vor Angriffen mit dem Messer nach. Sodann hält T der O die Klinge an den Hals und bedroht sie. Er erlaubt ihr für eine Stunde nicht, ihren Sitzplatz auf dem Boden zu verlassen.

Wissen für die Zweite Juristische Prüfung

Für die Freiheitsberaubung mit Todesfolge gem. § 239 Abs. 4 StGB ist sachlich die große Strafkammer am Landgericht als Schwurgericht zuständig (§ 74 Abs. 2 S. 1 Nr. 10 GVG). In Fällen von § 239 Abs. 3 StGB (und erst Recht von § 239 Abs. 4 StGB) besteht eine Nebenklagebefugnis gem. § 395 Abs. 1 Nr. 4 StGB. Nach § 397a Abs. 1 Nr. 3 StPO kann dem Nebenkläger dann ein anwaltlicher Beistand auf Staatskosten bestellt werden.

Aufbauschema

  1. Tatbestand

    1. Objektiver Tatbestand

      1. Grunddelikt (§ 239 Abs. 1 StGB)

        1. § 239 Abs. 1 Var. 1 StGB: Einsperren

        2. § 239 Abs. 1 Var. 2 StGB: auf andere Weise der Freiheit berauben

        3. Gegen oder ohne den Willen des Betroffenen

      2. Qualifikation (§ 239 Abs. 3 oder Abs. 4 StGB)

    2. Subjektiver Tatbestand

  2. Rechtswidrigkeit

  3. Schuld

Studienliteratur und Übungsfälle

Studienliteratur

Eidam, Verpasste Chancen beim Tatbestand der Freiheitsberaubung, HRRS 2023, 40

Eidam, Die Straftaten gegen die persönliche Freiheit in der strafrechtlichen Examensklausur, JuS 2010, 869

Bosch, Der Schutz der Fortbewegungsfreiheit durch den Tatbestand der Freiheitsberaubung (§ 239 StGB), Jura 2012, 604

Übungsfälle

Ziegler, Femme fatale, JuS 2018, 883