§ 323c Abs. 1 StGB statuiert eine allgemeine Hilfspflicht, die unabhängig von einer Garantenstellung iSd § 13 Abs. 1 StGB besteht. Das Delikt hat somit häufig eine Auffangfunktion, wenn eine anderweitige Strafbarkeit, zB wegen eines unechten Unterlassungsdelikts, scheitert.
Am 30. Mai 2017 ist § 323c StGB um einen zweiten Absatz ergänzt worden. Hintergrund war eine Debatte über den Umgang mit sog. „Gaffern“, die professionelle Nothelfer wie Rettungsdienst oder Feuerwehr bei ihren Einsätzen behinderten. Der Gesetzgeber sah hier eine Strafbarkeitslücke, die er mit § 323c Abs. 2 StGB schließen wollte.
Rechtsgut und Deliktsstruktur
§ 323c StGB schützt die (Individual-)Rechtsgüter des in Not Geratenen, nach dem BGH
Objektiver Tatbestand
Beide Absätze des § 323c StGB knüpfen an die Tatsituationen des Unglücksfalls, der gemeinen Gefahr oder der gemeinen Not an.
Tatsituation (Abs. 1 und 2)
Unglücksfall, gemeine Gefahr und gemeine Not
Praktisch (und in der Klausur) hauptsächlich relevant ist der Unglücksfall.
Ein Unglücksfall ist ein plötzliches Ereignis, das erheblichen Schaden an Menschen oder bedeutenden Sachwerten verursacht und weiteren Schaden zu verursachen droht.
Wie weit sich der Schutz von § 323c Abs. 1 StGB auch auf Sachen und Tiere erstreckt, ist umstritten.
Gleiches gilt nach hM für die Folgen gerechtfertigter Abwehrhandlungen:
Beispiel: A lauert an einer einsamen Straße auf Spaziergänger, um diese auszurauben. Spaziergängerin S kann den Überfall von A jedoch mit ihrem Taschenmesser abwehren. Dabei wird A so schwer verletzt, dass er alleine keine Hilfe mehr holen kann, aber nicht in Lebensgefahr schwebt. S erkennt die Lage zutreffend, holt aber keine Hilfe. A wird erst nach mehreren Stunden von anderen Passanten gefunden. Zu prüfen ist hier, ob sich S nach §§ 223 Abs. 1, 13 StGB und (subsidiär) nach § 323c StGB strafbar gemacht hat.
Denn auch hier greife der Gedanke der Mindestsolidarität.
Klausurhinweis: In diesen Fällen sollte die ebenfalls umstrittene Frage, ob sich aus einer Notwehrhandlung eine Garantenstellung aus Ingerenz ergeben kann, nicht vergessen werden. Diese Frage sollte in der Klausurlösung im Rahmen des unechten Unterlassungsdelikts diskutiert werden.
Umstritten ist, ob eine eigenverantwortlich begangene Selbsttötung einen Unglücksfall darstellt. Die Rechtsprechung bejaht dies grundsätzlich mit Hinweis auf die von § 323c StGB geschützte menschliche Solidarität und berücksichtigt den Willen des Suizidenten erst im Rahmen der Zumutbarkeit der Rettungshandlung. Unzumutbar soll ein rettendes Eingreifen demnach bei einer freiverantwortlichen Suizidentscheidung sein.
Anders stellt sich die Situation dar, wenn lediglich eine eigenverantwortliche Selbstgefährdung vorliegt. In diesem Fall möchte der Betroffene gerade nicht, dass sich der riskierte Erfolg auch realisiert:
Beispiel: D hat eigenverantwortlich Heroin konsumiert, um sich in einen Rauschzustand zu versetzen. Dass dies potenziell lebensgefährlich ist, weiß er. D nimmt aber nur die Lebensgefährdung, nicht auch die Lebensbeendigung in Kauf. Gerät er durch den Konsum in eine lebensbedrohliche Lage, liegt daher ein Unglücksfall nach § 323c Abs. 1 StGB vor.
Seltener zu prüfen sind die beiden anderen Tatsituationen des § 323c StGB, die gemeine Gefahr und, kaum relevant, die gemeine Not.
Eine gemeine Gefahr liegt vor, wenn aus objektiver Sicht ex ante ein Schaden für eine Vielzahl oder unbestimmte Zahl von Menschen droht, zB bei einer Naturkatastrophe oder einem Verkehrshindernis.
Unter der gemeinen Not versteht man eine die Allgemeinheit betreffende Notlage.
Beurteilungsperspektive: ex post oder ex ante?
Inwieweit es bei der Beurteilung der Tatsituation und, damit verbunden, der Erforderlichkeit der Hilfeleistung auf die ex-ante- oder ex-post-Perspektive ankommt, ist umstritten. Relevant wird diese Unterscheidung beispielsweise dann, wenn sich nachträglich zeigt, dass angesichts der erlittenen Verletzungen des potenziell zu Rettenden gar keine Rettung mehr möglich war, dies in der Situation am Unglücksort aber nicht erkennbar ist.
Beispiel: Nach einem Verkehrsunfall ist A bewusstlos, aber ohne erkennbare schwere äußere Verletzungen. B erkennt, dass A Hilfe benötigt, unterlässt aber jede Form der Hilfeleistung und macht sich aus dem Staub. Im Nachhinein stellt sich heraus, dass A so schwere innere Verletzungen erlitten hat, dass er auch bei sofortiger Verständigung des Rettungsdienstes vor dessen Eintreffen gestorben wäre.
Der BGH stellt hier auf eine objektivierte ex-ante-Sicht ab, also auf die Perspektive eines objektiven Beobachters zum Zeitpunkt des relevanten Unterlassens. Eine Hilfspflicht besteht demnach auch dann, wenn die Hilfeleistung von vornherein vergeblich gewesen wäre, dies aber für einen verständigen Dritten nicht erkennbar war (wie im Beispielsfall). Ist der Verunglückte aber bereits unerkannt verstorben, ist die Hilfeleistungspflicht in jedem Fall ausgeschlossen.
Aufbauhinweis: Dieses Problem kann entweder im Prüfungspunkt „Unglücksfall“ oder bei der Erforderlichkeit der Hilfeleistung angesprochen werden.
Tatbestandsmäßiges Unterlassen der Hilfeleistung (Abs. 1)
Wer in einer von § 323c StGB genannten Notsituationen die erforderliche und zumutbare Hilfeleistung trotz Tatmacht unterlässt, verwirklicht den objektiven Tatbestand des Abs. 1.
Erforderlich ist, was aus Sicht eines objektiven, verständigen Beobachters ex ante geeignet und notwendig ist, um die drohenden Schäden abzuwenden oder erheblich zu mildern.
Damit ist nicht irgendeine, sondern die wirksamste Hilfsmaßnahme gemeint. Als Hilfsmaßnahme kommt häufig das Absetzen eines Notrufs in Betracht, aber je nach Unglückslage auch weitere Rettungsmaßnahmen. Wenn sich das Opfer selbst helfen kann, Hilfe ablehnt,
Ein strafrechtlicher Vorwurf kann nur der Person gemacht werden, die auch tatsächlich in der Lage ist, die erforderliche Rettungshandlung auszuführen (Tatmacht). Wer keinen Zugriff auf ein Telefon hat, kann keinen Notruf absetzen; wer nicht schwimmen kann, kann einen Ertrinkenden nicht selbst aus einem See retten – ihm aber zB einen Rettungsring zuwerfen.
Die Hilfeleistung muss außerdem zumutbar sein. § 323c Abs. 1 StGB nennt dafür zwei Beispiele. So muss die Hilfeleistung „ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten“ möglich sein. Diese Beispiele sind aber nicht abschließend. Entscheidend ist vielmehr eine umfassende Abwägung der betroffenen Interessen. Dabei müssen u.a. das Risiko für den Retter, die Rettungschancen und die drohenden Gefahren für das verletzte oder bedrohte Rechtsgut berücksichtigt werden.
Fälle, in denen der Täter sich oder Angehörige durch die Hilfeleistung dem Risiko der Strafverfolgung und damit einem drohenden Freiheitsentzug aussetzen würde, werden differenziert betrachtet. Wenn der Täter für den Unglücksfall verantwortlich ist, ist ihm gerade aufgrund seines Beitrags zur Notlage die Hilfeleistung zumutbar. In diesem Fall muss stets geprüft werden, ob nicht eine Garantenstellung und damit eine vorrangige Strafbarkeit wegen eines unechten Unterlassungsdelikts gegeben ist. Wenn die drohende Strafverfolgung keinen Zusammenhang zum Unglücksfall aufweist (Beispiel: eine Bankräuberin kommt auf der Flucht an einem verunglückten Fahrradfahrer vorbei) oder das Strafverfolgungsrisiko Angehörige betrifft, soll die Hilfeleistung hingegen idR unzumutbar sein. Ist die Hilfeleistung anonym möglich oder erhöht sie das Risiko der Strafverfolgung nicht nennenswert, erübrigt sich diese Debatte.
Zuletzt kann sich die Frage stellen, ab wann die Hilfeleistung unterlassen wird, oder, in anderen Worten, ab wann § 323c Abs. 1 StGB vollendet ist. Diese Frage ist bei § 323c Abs. 1 StGB darum besonders bedeutsam, weil der Versuch nicht strafbar ist. Die hM fordert, dass die Hilfeleistung unverzüglich erfolgen muss. Dann ist die Tat bereits vollendet, wenn der Täter unnötig zögert, auch wenn er schließlich Hilfe leistet. Da wegen der bereits eingetretenen Vollendung dann aber kein strafbefreiender Rücktritt mehr möglich ist und für den Täter dementsprechend kein Anreiz besteht, nach anfänglichem Unterlassen doch noch Hilfe zu leisten, wird in diesen Fällen über die analoge Anwendung der strafbefreienden tätigen Reue diskutiert.
Behindern von hilfeleistenden Personen (Abs. 2)
Zum Kreis der hilfeleistenden Personen iSv § 323c Abs. 2 StGB gehören alle, die in den von § 323c Abs. 1 StGB beschriebenen Notlagen Hilfe leisten wollen. Die Norm ist damit nicht beschränkt auf professionelle Nothelfer und setzt auch nicht voraus, dass die Hilfe bereits geleistet wird. Auch für § 323c Abs. 2 StGB ist aber die Erforderlichkeit der Hilfeleistung Voraussetzung (→ Rn. 14).
Der Täter muss die hilfeleistende Person außerdem behindern.
Eine Behinderung liegt in jeder spürbaren, nicht unerheblichen Störung der Rettungstätigkeit, die die Hilfeleistung mindestens erschwert.
Eine konkrete negative Auswirkung auf die Person, der geholfen werden soll, ist nicht notwendig. Als Beispiele nennt die Gesetzesbegründung sowohl passive (Nichtbeiseitetreten; keine Bildung von Rettungsgassen) als auch aktive Verhaltensweisen (Beschädigen von Rettungsgerät).
Subjektiver Tatbestand
Der Täter muss vorsätzlich handeln. Hierzu ergeben sich im Vergleich zu anderen Delikten keine Besonderheiten. Irrt der Täter dementsprechend über tatsächliche Umstände, welche zB das Vorliegen des Unglücksfalls oder der Zumutbarkeit begründen, handelt er ohne Vorsatz. Erkennt er diese Umstände, denkt aber, er müsse nicht helfen, ist dieser Irrtum für die Strafbarkeit grds. unbeachtlich (Ausnahme: § 17 S. 1 StGB).
Beispiel: An einem heißen Sommertag denkt A, die B halte nur ein Nickerchen am Strand, obwohl diese in Wahrheit einen Hitzschlag erlitten hat und ohnmächtig geworden ist. A handelt hier ohne Vorsatz. Erkennt A jedoch, dass B einen Hitzschlag erlitten hat, geht aber davon aus, dass sie nichts machen müsse, da ja auch Bademeister C anwesend sei, der sich um B kümmern könne, ist dieser Irrtum unbeachtlich.
Rechtswidrigkeit und Schuld
Die Einwilligung der in Not geratenen Person schließt bereits die Erforderlichkeit der Hilfeleistung aus, nicht erst die Rechtswidrigkeit. Ebenso ist die Zumutbarkeit bzw. Unzumutbarkeit einer Rettungshandlung nicht erst in der Schuld, sondern bereits im Tatbestand zu prüfen.
Konkurrenzen
Im Verhältnis zu einem tateinheitlich begangenen vorsätzlichen unechten Unterlassungsdelikt ist § 323c Abs. 1 StGB subsidiär.
Beispiel: Der garantenpflichtige Vater, der sein Kind ertrinken lässt, macht sich nach §§ 212, 13 StGB strafbar. Der gleichzeitig verwirklichte § 323c Abs. 1 StGB tritt dahinter zurück.
Hat der Täter den Unglücksfall durch eine vorsätzliche Straftat selbst herbeigeführt, tritt § 323c Abs. 1 StGB regelmäßig ebenfalls hinter die Vorsatztat zurück, da das verwirklichte Unrecht durch die ursprünglich begangene Straftat oft schon hinreichend abgebildet wird.
Beispiel: A schlägt B nieder (§ 223 StGB) und lässt ihn verletzt zurück, ohne Hilfe zu holen (§ 323c Abs. 1 StGB ist verwirklicht, tritt aber zurück).
Gleiches gilt für § 323c Abs. 2 StGB, wenn die aktive Behinderung von Rettungskräften für den in Not Geratenen tatsächlich negative Folgen hat, und dadurch zB die §§ 223 ff. StGB verwirklicht werden.
Aufbauschema
§ 323c Abs. 1 StGB
Tatbestand
Objektiver Tatbestand
Tatsituation (Unglücksfall/gemeine Gefahr/gemeine Not)
Unterlassen der erforderlichen Hilfeleistung ...
... trotz Tatmacht ...
... und Zumutbarkeit der erforderlichen Hilfeleistung
Subjektiver Tatbestand: Vorsatz
Rechtswidrigkeit
Schuld
§ 323c Abs. 2 StGB
Tatbestand
Objektiver Tatbestand
Tatsituation (Unglücksfall/gemeine Gefahr/gemeine Not)
Behinderung hilfeleistender Personen
Subjektiver Tatbestand: Vorsatz
Rechtswidrigkeit
Schuld
Studienliteratur und Übungsfälle
Studienliteratur
Geppert, Die unterlassene Hilfeleistung (§ 323c StGB), JURA 2005, 39
Lenk, Die Strafbarkeit des „Gaffers“ gem. § 323c II StGB, JuS 2018, 229
Übungsfälle
Esser/Herz, „Hochzeits-Blockade“ mit Todesfolge, JA 2021, 373