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§ 9 Einzelne Staatszielbestimmungen

Autor:innen: Andreas Buser, Valentina Chiofalo, Jan-Louis Wiedmann

Notwendiges Vorwissen: Wirkungsweise der Staatsstrukturprinzipien

Lernziel: Erster Einblick in die Dogmatik der Staatszielbestimmungen

Im Grundgesetz finden sich zahlreiche sog. Staatszielbestimmungen, die sich von den Staatsstrukturprinzipien in ihrer Wirkungsweise unterscheiden. Es handelt sich um Verfassungsnormen, die dem Staat die dauerhafte Beachtung oder Erfüllung bestimmter Aufgaben vorschreiben, etwa das Bewahren einer lebenswerten Umwelt (Art. 20a GG) oder die Verwirklichung der Gleichberechtigung von Mann und Frau (Art. 3 Abs. 2 GG). Anders als die Staatsstrukturprinzipien, die die staatlichen Strukturen in ihrer Gesamtheit prägen, handelt es sich bei den Staatsstrukturprinzipien somit um (rechtlich verbindliche) politische Aufträge, die auf ihre Verwirklichung drängen.

Übersicht über die Staatszielbestimmungen

Dem Grundgesetz lässt sich eine kaum übersehbare Anzahl von Staatszielbestimmungen entnehmen. So wird der Staat

Im Folgenden sollen einige der für das Staatsorganisationsrecht besonders relevanten Staatszielbestimmungen näher beleuchtet werden. Davor gilt es aber, die Wirkungsweise dieser Verfassungsvorschriften allgemein zu klären.

Adressat und Wirkweise der Staatszielbestimmungen

Staatszielbestimmungen richten sich in erster Linie an den Gesetzgeber. Dieser steht in der Pflicht, die genannten Ziele durch entsprechende Rechtssetzung zu erreichen. Die Staatszielbestimmungen sind daher nicht als die Absicherung eines status quo, sondern als zukunftsgerichteter Appell an den Gesetzgeber zu verstehen. Hierbei kommt dem Gesetzgeber aber ein erheblicher Spielraum zu. Die Staatszielbestimmungen geben nur das „ob“ vor; die Frage des „wie“ hat weitestgehend der Gesetzgeber zu beantworten. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass die Staatszielbestimmungen extrem unbestimmt und entwicklungsoffen formuliert sind.

Beispiel: Art. 20 I GG gibt es dem Gesetzgeber auf, eine soziale Ordnung zu schaffen. Aber was bedeutet „sozial“? Hierüber besteht in einer pluralistischen Gesellschaft naturgemäß Streit. Die Verfassung nimmt insoweit keine Antwort vorweg, sondern überlässt sie dem plural besetzten Parlament.

Mit dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers korrespondiert ein eingeschränkter Prüfungsmaßstab der Gerichte. Gleichwohl handelt es sich bei den Staatszielbestimmungen um voll verbindliche Verfassungsnormen, die auch einer gerichtlichen Kontrolle zugänglich sind. Der Gesetzgeber darf keine Rückschritte bei der Erfüllung der Staatsziele machen, er muss bei neuen (wissenschaftlichen) Erkenntnissen Nachbesserungen vornehmen und darf die von der Verfassung formulierten Staatsziele nicht offensichtlich verfehlen. Die Anforderungen hieran sind allerdings sehr hoch, sodass eine gerichtliche Durchsetzung der Staatsziele gegen den Gesetzgeber in der Regel wenig erfolgsversprechend ist. Jedenfalls können konkrete legislative Maßnahmen nur höchst selten unter Berufung auf die Staatszielbestimmungen eingeklagt werden.

Examenswissen: Diese geringen Erfolgsaussichten bei der Durchsetzung von Staatszielbestimmungen gegen den Gesetzgeber können zu einer rechtlich unbefriedigenden Diskrepanz zwischen verfassungstextlichem Anspruch und einfach-gesetzlicher Realität führen. Beispielhaft sei das staatlich gebilligte Schreddern von Küken genannt, das über Jahrzehnte parallel zum verfassungsrechtlichen Auftrag des „Tierschutzes“ (!) praktiziert wurde. Ähnliche Divergenzen zwischen verfassungstextlichem Anspruch und Wirklichkeit bestehen im Umwelt- und Klimaschutzrecht. In seinem sog. „Klima-Beschluss" hat das BVerfG nun aber einen „innovativen" Ansatz verfolgt, um den verfassungsrechtlichen Anspruch der Staatszielbestimmungen zu effektivieren: Nach Ansicht des BVerfG können einfachgesetzliche Zielfestlegungen des Gesetzgebers zur Konkretisierung der Staatszielbestimmungen herangezogen und damit zum Maßstab der verfassungsgerichtlichen Prüfung gemacht werden. Das BVerfG geht davon aus, dass der Gesetzgeber seinen weiten Gestaltungsspielraum durch die einfach-gesetzlichen Zielfestlegungen (semi-)verbindlich festgelegt hat. Infolge dieser Selbstbindung des Gesetzgebers komme den Zielfestlegungen eine „verfassungsrechtliche Orientierungsfunktion" zu. Durch diese Einengung des gesetzgeberischen Spielraums zieht das Gericht die „Zügel" der Staatszielbestimmung straffer – freilich ohne damit den nach wie vor weiten Spielraum des Gesetzgebers grundsätzlich in Frage zu stellen.

Der rechtspraktische Vorteil der Staatszielbestimmungen liegt daher auch anderswo: Es erfolgt eine verfassungsrechtliche Aufwertung politischer Ziele. Durch die Aufnahme von Staatszielen in die Verfassung erlangen bestimmte politische Anliegen Verfassungsrang. Die Staatszielbestimmungen begründen dabei zwar keine klarbaren, subjektiven Rechte der Einzelnen; es handelt sich um rein objektiv-rechtliche Verpflichtung des Staates. Sie können aber die bestehenden subjektiven Rechtspositionen der Einzelnen verfassungsrechtlich verstärken.

Beispiel: So wurde etwa aus dem Grundrecht auf Menschenwürde i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip (!) ein Anspruch auf menschenwürdiges Existenzminimum hergeleitet. Analog hierzu wird die Anerkennung eines Grundrechts auf ökologisches Existenzminimum (aus Art. 1 i.V.m. Art. 20a GG) diskutiert.

Vor allem aber schaffen die Staatszielbestimmungen in vielen Fällen erst die verfassungsrechtliche Grundlage dafür, grundrechtliche Freiheit zu beschränken, wo diese dem Ziel zuwiderläuft.

Beispiel: Zirkusaufführungen sind selbst dann von der Kunstfreiheit (Art. 5 III 1 GG) geschützt, wenn das Tierwohl durch die Aufführung erheblich beeinträchtigt wird. Das Staatsziel Tierwohl (Art. 20a GG) liefert allerdings die verfassungsrechtliche Grundlage dafür, derlei Aufführungen zu verbieten.

Insoweit fordern die Staatszielbestimmungen vom Gesetzgeber nicht nur die Erfüllung der Ziele. An vielen Stellen ermöglichen sie es dem Gesetzgeber erst, im Interesse des Staatsziels tätig zu werden. Das ist gerade deshalb wichtig, weil Privatpersonen nicht unmittelbar an die Staatsziele, wohl aber an die vom Parlament erlassenen Gesetze, gebunden sind.

Für die übrigen Staatsgewalten sind die Staatszielbestimmungen von geringerer Bedeutung. Doch auch sie haben die Staatszielbestimmungen bei ihrer Tätigkeit zu berücksichtigen. So haben die Gerichte bei der Auslegung des einfachen Rechts der Bedeutung der Staatsziele Rechnung zu tragen und die Exekutive hat die Staatsziele bei der Ausübung ihres gesetzlichen Spielraums einzubeziehen.

Weiterführende Studienliteratur

Schladebach, Staatszielbestimmungen im Verfassungsrecht, JuS 2018, 118-122.

Zusammenfassung: Die wichtigsten Punkte

  • Staatszielbestimmungen sind Verfassungsnormen, die dem Staat die dauerhafte Beachtung oder Erfüllung bestimmter Aufgaben vorschreiben.

  • Dabei handelt es sich nicht unmittelbar um subjektiv einklagbare Rechte. Trotzdem binden Staatszielbestimmungen den Gesetzgeber an verfassungsrechtlich determinierte Aufträge.

§ 9.1 Umweltschutz, Art. 20a GG

Staatsziel Umweltschutz (Art. 20a GG)

Das Staatsziel Umweltschutz wurde im Jahr 1994 auf Vorschlag der gemeinsamen Verfassungskommission, die nach der Wiedervereinigung eingesetzt wurde, in das Grundgesetz eingeführt, nachdem jahrzehntelang über die verfassungsrechtliche Verankerung des Umweltschutzes gestritten worden war. Art. 20a GG verpflichtet die gesamte Staatsgewalt auf den Schutz der „natürlichen Lebensgrundlagen“. Eine abschließende Definition dises Begriffs bereitet erhebliche Probleme. Als gesichert kann aber gelten, dass Art. 20a GG die natürliche Umwelt unter Schutz stellt. Hierunter fallen Menschen, Tiere, Pflanzen, Mikroorganismen, Boden, Wasser, Luft, Klima, Atmosphäre, Landschaft, die biologische Vielfalt, sowie das Wirkungsgefüge zwischen den genannten Aspekten. Die einzelnen Tiere fallen dagegen unter den in Art. 20a GG gesondert genannten Tierschutz.

Angesichts des vagen Wortlauts lässt sich Art. 20a GG nicht entnehmen, wie die Umwelt zu schützen ist. Dies ist dem Gesetzgeber anheimgestellt. Verfassungsrechtlich vorgegeben ist lediglich ein Mindestmaß an Umweltschutz. Doch auch bei der Festlegung dieses Mindestmaßes wird dem Gesetzgeber ein erheblicher Spielraum zugesprochen. Vor diesem Hintergrund leidet Art. 20a GG unter einer erheblichen Steuerungsschwäche.

Weiterführendes Wissen

Dennoch betont das BVerfG, dass es sich um eine voll überprüfbare Verfassungsvorschrift handelt, die der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers etwas entgegensetzt. Art. 20a GG wird insoweit ein relatives Rückschrittsverbotentnommen. Hiernach dürfen die rechtlichen Umweltschutzstandards insgesamt nicht hinter das Niveau von 1994 zurücktreten. Das schließt freilich weder eine Umgestaltung der rechtlichen Vorgaben, noch partielle Verschlechterungen des Schutzstandards aus. Zudem wird eine Nachbesserungspflicht des Gesetzgebersbei neuen umweltpolitischen Herausforderungen angenommen. Aufgrund der ausdrücklichen Inbezugnahme der „Verantwortung für künftige Generationen" wird zudem angenommen, dass Art. 20a GG das Nachhaltigkeitsprinzip, welches im einfachen Umweltrecht verschiedentlich umgesetzt ist, mit Verfassungsrang ausstattet.

Das Nachhaltigkeitsprinzip gibt dem Staat vor, Ressourcen nur in einem Maße zu nutzen, welches die Möglichkeit künftiger Generationen, ihre Bedürfnisse zu befriedigen, nicht beeinträchtigt. Diesbezüglich brachte die Entscheidung des BVerfG vom 24.03.2021 zum Bundesklimaschutzgesetz eine entscheidende Aufwertung des Art. 20a GG. Das Gericht leitete aus Art. 20a GG nicht nur die staatliche Pflicht zum Klimaschutz und damit zur Herstellung von Klimaneutralität her. Es ging auch davon aus, dass die hierfür notwendige Reduktion von Treibhausgasen nicht einseitig auf künftige Generationen verlagert werden dürfe. Die Pflicht des Gesetzgebers, das Bundesklimaschutzgesetz insoweit nachzubessern, wurde aus den Grundrechten i.V.m. Art. 20a GG hergeleitet.

Neben dem Gesetzgeber sind – im Rahmen des geltenden Rechts – auch Judikative und Exekutive durch Art. 20a GG gebunden. Sie haben das Staatsziel Umweltschutz bei der Auslegung des einfachen Rechts und bei der Ausübung ihrer gesetzlichen Spielräume zu berücksichtigen.

Weiterführende Studienliteratur

Voßkuhle, Umweltschutz und Grundgesetz, NVwZ 2013, 1 ff.

BVerfG, B.v. 24.03.2021, Az.: 1 BvR 2656/18 = für BVerfGE vorgesehen – Bundesklimaschutzgesetz.

Zusammenfassung: Die wichtigsten Punkte

  • Der Klimaschutzauftrag des Art. 20a GG bindet die gesamte staatliche Gewalt, insb. aber den Gesetzgeber.

  • Bei der Umsetzung des Staatsziels kommt dem Gesetzgeber ein weiter Spielraum zu.

§ 9.2 Tierschutz, Art. 20a GG

Notwendiges Vorwissen:

Lernziel: Einen Überblick über das Staatsziel Tierschutz und dessen praktische Bedeutung gewinnen..

Geschichte

Im Jahr 2002 wurde Art. 20a GG um den Tierschutz ergänzt. Vorausgegangen waren zahlreiche Initiativen und Gesetzesanträge. Erst unter dem Eindruck der Entscheidung des BVerfG zum betäubungslosen Schächten kam es jedoch zu einem fraktionsübergreifenden Vorschlag, der die Zustimmung, der für eine Änderung des Grundgesetzes notwendigen Zwei-Drittel-Mehrheit, erhielt.

Weiterführendes Wissen

Das Schächten-Urteil beschäftigte sich mit der Möglichkeit der Erteilung einer Ausnahmegenehmigung an einzelne Schlachtbetriebe für das betäubungslose Schächten im TierSchG. Nach Ansicht des BVerfG mussten die Ausnahmevorschriften in verfassungskonformer Auslegung (Art. 2 I iVm Art. 4 I und II GG) so ausgelegt werden, dass muslimischen Metzger*innen grundsätzlich eine Ausnahmegenehmigung erteilt werden kann, obwohl der sunnitische Islam, dem der Beschwerdeführer angehörte, den Verzehr des Fleischs ungeschächteter Tiere nicht zwingend verbietet.

Mit der Verankerung des Tierschutzes in Art. 20a GG wollte der Gesetzgeber unter anderem die Einschränkung vorbehaltloser Grundrechte (insbesondere Art. 4 I und II; 5 III S. 1 GG) durch die Schaffung eines neuen „verfassungsrechtlichen Belangs“ ermöglichen. Damit wurde der bereits einfachrechtlich verankerte Tierschutz explizit zur Staatszielbestimmung erhoben (zur normativen Bedeutung einer Staatszielbestimmung Rn.) und normativ aufgewertet.

B. Schutzgut: „Die Tiere“

Geschützt sind zunächst einschränkungslos alle Tiere in einem biologischen Sinne. Allein der Mensch wird, trotz seiner biologischen Einordnung als Menschenaffe (höhere Säugetiere), nicht als Tier im Sinne des Art. 20a GG verstanden. Überwiegend wird dem Art. 20a GG, ausgehend von der Entstehungsgeschichte, ein abgestuftes Schutzkonzept abhängig von der Empfindungs- und Leidensfähigkeit einzelner Tierarten entnommen.

Weiterführendes Wissen

Anders als der Artenschutz verfolgt der Tierschutz den Schutz individueller Tiere und nicht allein deren Überleben als Art oder Spezies. Damit verfolgt der Tierschutz kein ökologisches Ziel im eigenen Sinne sondern bezweckt den Schutz einzelner Tier vor vermeidbarem Leid, Schäden oder Schmerzen. Damit geht ein pathozentrischer Ansatz einher, wonach zwar grdsl. alle Tiere um ihrer selbst willen geschützt werden, über die Leidensfähigkeit dann aber einzelne Tierarten vom Schutzzweck der Norm ausgenommen werden, oder jedenfalls einem geringerem Schutzniveau (abgestuftes Schutzkonzept) unterliegen. Auf Grund der schwierigen Bestimmbarkeit der Schmerz- und Empfindungsfähigkeit dürfte der Begriff des „Tieres“ aber eher weit zu verstehen sein.

Schutzumfang

Das Tierschutzgebot umfasst staatliche Unterlassungspflichten und positive Handlungspflichten (ähnlich den grundrechtlichen Schutzpflichten) zum Schutz der Tiere vor Beeinträchtigungen durch Private. Sachlich beziehen sich die positiven Handlungspflichten vor allem auf die artgerechte Haltung, die Verhinderung vermeidbarer Leiden und den Schutz der Lebensräume wildlebender Tiere. Der Gesetzgeber hatte ein „ethisches Mindestmaß“ an Tierschutz vor Augen. Nach verbreiteter Auffassung soll Art. 20a GG ein Optimierungsgebot beinhalten, welches den Staat verpflichtet das Ziel Tierschutz so gut wie rechtlich und faktisch möglich zu verwirklichen. Allerdings hat die Erreichung dieses Ziels keinen absoluten Vorrang gegenüber anderen gegenläufigen Verfassungsprinzipien. So ist es dem Gesetzgeber und teilweise der Verwaltung überlassen, einen Ausgleich zwischen verschiedenen gleichrangingen Optimierungsgeboten, namentlich im Hinblick auf Grundrechte, zu schaffen. Angesichts der inhaltlichen Unschärfe des Art. 20a GG wird dem Gesetzgeber in Erfüllung der Tierschutzaufgabe ein weiter Gestaltungsspielraum zuerkannt, der ähnlich wie im Bereich der grundrechtlichen Schutzpflichten nur bei einer völlig unzulänglichen Tierschutzgesetzgebung verletzt sei Daneben dürfte sich für den Tierschutz – ebenso wie für den Umweltschutz – aus Art. 20a GG ein Verschlechterungsverbot ableiten lassen. Ein deutliches Herabsenken der materiellen Schutzbestimmungen des Tierschutzgesetzes und der darauf gestützten Verordnungen wäre also verfassungswidrig.


Subjektstellung und gerichtliche Durchsetzung

Die Subjektstellung von Tieren wird seit langem diskutiert. Dadurch, dass die Ecuadorianische Verfassung aus dem Jahre 2008 explizit Rechte der Natur anerkennt (Art. 71 ff.), Gerichte in einigen Staaten des Globalen Südens solche Rechte und ihre prozessuale Durchsetzung zuließen, und weitere Staaten solche Rechte einfachgesetzlich anerkannt haben, hat die Debatte erneut an Fahrt aufgenommen. In zahlreichen Verfahren versuchen Tierrechtsorganisationen mittlerweile Eigenrechte von Tieren gerichtlich durchzusetzen, so etwa im sog. "Monkey Selfie Copyright Dispute" der international für Schlagzeilen sorgte aber letztlich erfolglos blieb.

Vereinzelt finden sich auch Beiträge die Klagerechte „nichthumaner Rechtspersonen“ de lege lata über Rückgriff auf Art. 1 I iVm Art. 20a GG oder auf Art. 19 III iVm 20a GG herleiten. Einige Autor:innen treten de lege ferenda für die Einführung von Grundrechten für Tiere ein. Gestützt auf diese Entwicklungen hat PETA versucht im Namen deutscher Ferkel mit einer Verfassungsbeschwerde gegen die betäubungslose Kastration von Ferkeln vorzugehen. Das BVerfG lehnte die Beschwerde in einem Nichtannahmebeschluss jedoch als offensichtlich unzulässig ab. Damit steht die Rechtsprechung des BVerfG in Einklang mit der herrschenden Meinung in der Literatur. Überwiegend wird dem Grundgesetz eine anthropozentrische Perspektive attestiert (vgl. Art. 1 I GG) womit nicht-menschliche Eigenrechte unvereinbar wären. Schließlich gibt es auch kein Grundrecht auf Tierschutz, dass es Menschen erlauben würde Tierschutz gerichtlich einzufordern.

Weiterführendes Wissen

In einem ähnlich gelagerten älteren Fall reichten Umweltschützer im Jahr 1988 eine Klage vor dem VG Hamburg im Namen der deutschen Nordseeroben ein, die sich gegen die Verklappung von Dünnsäure und die Müllverbrennung auf hoher See richtete. Diese Praktiken standen im Verdacht für den damals rapiden Schwund der Nordseehundpopulationen verantwortlich zu sein. Das Gericht lehnte die Klage jedoch wegen fehlender Beteiligungsfähigkeit (§ 61 VwGO) als unzulässig ab.

Typische Fallgestaltungen: Tierschutz in der Abwägung

Adressaten der Verpflichtung zum Tierschutz sind alle Organe des Staates, also Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung. Auch im Bereich der mittelbaren Staatsverwaltung kann Art. 20a GG eine Rolle spielen, etwa bei der Haltung von Versuchstieren in staatlichen Universitäten. Auch bei erwerbswirtschaftlichen Betätigungen des Staates, kann Art. 20a GG, im Rahmen der Einflussmöglichkeiten auf einzelne staatliche Unternehmen, eine Rolle spielen. Praktische Bedeutung erlangt Art. 20a GG regelmäßig in Abwägungsentscheidungen mit Grundrechten von Menschen. Eine häufig anzutreffende Konstellation ist hier das religiös begründete Schächten.

Weiterführendes Wissen

Zwar gebietet wohl weder der muslimische noch der jüdische Glaube seinen Angehörigen überhaupt den Verzehr von Tieren, dass BVerfG hielt es im Hinblick auf die „Essgewohnheiten in der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland“ jedoch ebenso als unzumutbar an, auf Fleisch zu verzichten, als, im Hinblick auf den durch persönlichen Kontakt zum Schlachter geschaffenen Vertrauensbasis, auf importiertes Fleisch zurückzugreifen. Ob diese Wertung, angesichts der Verbreitung von Vegetarismus und Veganismus und veränderter Einkaufsgewohnheiten, noch tragfähig ist, kann bezweifelt werden.

Die Einfügung des Tierschutzes in Art. 20a GG ändert nach Ansicht der Rechtsprechung nichts an der Verfassungsmäßigkeit der grdsl. behördlichen Befugnis das betäubungslose Schächten in Ausnahmefällen zu genehmigen. Jedoch muss die Erteilung einer solchen Genehmigung im Einzelfall nun auch auf ihre Vereinbarkeit mit Art. 20a GG geprüft werden. Auch das politische wiederholt diskutierte Töten männlicher Küken (sog. „Kükenschreddern“) und dagegen gerichtete behördliche Verbotsverfügungen beschäftigten bereits die Gerichte. Nach Ansicht des OVG Münster überwiegen in der notwendigen umfassenden Äbwägungsentscheidung die über Art. 12 I GG berücksichtigungsfähigen wirtschaftlichen Belange der Brütereien die Belange des Tierschutzes. Daneben hat die Rechtsprechung den in Art. 20a GG verankerten Tierschutz vor allem herangezogen, um Eingriffe in die Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 III S. 1 GG) und die Kunstfreiheit (Art. 5 III S. 1 GG) zu rechtfertigen. So lassen sich etwa Tierversuche unter Rückgriff auf Art. 20a GG einschränken. Im Einzelfall kommt es hier auf die abstrakte Wertigkeit der abzuwägenden Belange und deren konkrete Betroffenheit an. Die abstrakte Wertigkeit des Tierschutzes in der Abwägung ist schwer zu bestimmen. Teilweise wird angenommen, gegenüber dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen komme dem Tierschutz nur eine deutlich geringere Bedeutung zu. Dies wird damit begründet, dass der Schutz der Lebensgrundlagen im Zusammenhang mit Art. 1 I GG stehe. Das dürfte sich aber primär auf existentielle Lebensgrundlagen (z.B. eine erträgliche globale Durchschnittstemperatur die nicht zur Überschreitung von Kipppunkten führt) beziehen. Gegenüber sonstigen Allgemeinwohlbelangen dürfte Art. 20a GG als deutliche Aufwertung des Tierschutzes zu verstehen sein.

Einfaches Recht und dessen Durchsetzung

Der Tierschutz wird in Deutschland einfachgesetzlich über das TierSchG und begleitende Verordnungen (etwa zur Schlachtung und zum Transport) gestützt und ist in einigen Bereichen auch stark europarechtlich determiniert. Allerdings leidet der Tierschutz in Deutschland an einem erheblichen Durchsetzungsdefizit. Ob sich daran durch die Einführung der tierrechtlichen Verbandsklagemöglichkeit in einigen Bundesländern etwas ändern wird, bleibt abzuwarten. Anders als im Umweltschutz (Umweltrechtsbehelfsgesetz) existiert im Bereich Tierschutz keine bundeseinheitliche Regelung zu Verbandsklagen.

Ausblick

Zunehmende Bedeutung könnte dem in Art. 20a GG verankerte Tierschutz in Bezug auf die immer häufiger in die Kritik geratene Massentierhaltung zukommen. Die dort verbreiteten Methoden und Haltungsbedingungen entsprechen vielfach kaum einer artgerechten und qualfreien Haltung. Dies gilt selbst dann, wenn entsprechende Haltungsverordnungen eingehalten werden. Insofern muss die Frage aufgeworfen werden, ob entsprechende einfachgesetzliche und administrative Konkretisierungen des Tierschutzauftrags noch mit Art. 20a GG vereinbar sind. Wie bei jedem objektiven Verstoß gegen den Schutzauftrag des Art. 20a GG stellt sich dann aber die Frage der gerichtlichen Durchsetzbarkeit.

Weiterführende Studienliteratur

Fallbeispiel: https://www.jura.fu-berlin.de/studium/lehrplan/projekte/hauptstadtfaelle/faelle/grundrechte/wellensittich_im_glas/index.html

Buser/Ott, „Zur Ökologisierung des Rechts: Rechte der Natur als Paradigmenwechsel“, in: Adloff/Busse, Welche Rechte braucht die Natur?, 2021, 159-173.

Zusammenfassung: Die wichtigsten Punkte

  • Art. 20a GG verlangt als Staatszielbestimmung ein „ethisches Mindestmaß“ an Tierschutz

  • Subjektive Rechte für die Natur und Tiere gewährt Art. 20a GG nach hM nicht

  • In der Praxis ist Art. 20a GG bei der Rechtfertigung von Eingriffen in vorbehaltlose Grundrechte von Bedeutung

§ 9.3 Gleichstellung von Mann und Frau, Art. 3 II 2 GG

Notwendiges Vorwissen: Wirksweise der Staatszielbestimmungen

Lernziel: Kleiner Einstieg in die Gleichbehandlungsgrundsätze mit Fokus auf dem Staatziel der Gleichstellung erhalten

Neben den Gleichbehandlungsgrundsätze aus Art. 3 I bis III GG, findet sich in Art. 3 II 2 GG eine Staatszielbestimmungen wieder. Demnach habe der Gesetzgeber den Auftrag, die Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen zu fördern und bestehende Nachteile abzubauen. Bevor sich der rechtlichen Ausgestaltung gewidmet wird, soll kurz die geschichtliche Entwicklung der Staatszielbestimmung skizziert werden.

Geschichtliche Entwicklung

Verfassungskonvent von 1949

Der allgemeine Gleichheitsgrundsatz aus Art. 3 I GG hat eine ideengeschichtliche Tradition, die bis zur Antike zurückgeht. Zu Zeiten der Weimarer Republik war in Art. 109 I WRV festgelegt, dass „alle Deutschen vor dem Gesetz gleich“ sind. Während des Verfassungskonvents entschied sich der Parlamentarische Rat 1949, den Gleichheitssatz nicht mehr als Deutschengrundrecht zu formulieren, sondern Art. 3 I GG in der geltenden Fassung festzulegen.

Gleichzeitig wurde sich bereits 1949 auf den heutigen Satz 1 in Art. 3 II GG (und auf Satz 1 des Art. 3 III GG) geeinigt. Ursprünglich sollte der Gleichbehandlungsgrundsatz nur als Programmsatz gelten und auf staatsbürgerliche Rechte begrenzt sein. Elisabeth Selbert und Friederike Nadig konnten jedoch, unterstützt von der Frauenbewegung, im Parlamentarischen Rat durchsetzen, dass die Gleichheit der Geschlechter auch für das Zivilrecht gilt.

Gemeinsame Verfassungskommission und Änderung des GG (1994)

Nach dem Ende der DDR wurde die Gemeinsame Verfassungskommission Ende November 1991 durch Bundestag und Bundesrat eingesetzt, um sich nach Art. 5 des Einigungsvertrages „mit den im Zusammenhang mit der deutschen Einigung aufgeworfenen Fragen zur Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes“ zu befassen - dabei wurde erneut über die Geschlechtergleichstellung diskutiert. 1994 trat Satz 2 in Art. 3 II GG in Kraft: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ Ziel war es, den Gleichberechtigungsauftrag ausdrücklich in der Verfassung zu verankern und ein proaktives Gleichstellungsrecht zu sichern.

Die bereits davor bestehende Staatszielbestimmung wurde mithin durch Art. 3 II 2 GG verfassungsrechtlich normiert. Laut Begründung der Gemeinsamen Verfassungskommission sollten damit „die zuständigen staatlichen Organe angehalten werden, Maßnahmen zur Erreichung der tatsächlichen Gleichberechtigung zu ergreifen. Dabei geht es nicht nur darum, Rechtsnormen zu beseitigen, die Vor- oder Nachteile an die Geschlechtszugehörigkeit knüpfen, sondern darum, die Lebensverhältnisse von Männern und Frauen auch real anzugleichen. Es handelt sich insoweit weniger um den Versuch der Lösung eines rechtlichen als eines gesellschaftlichen Problems.“

Konkrete Ausgestaltung der Staatszielbestimmung

Dabei stellte die Verfassungskommission bereits 1993 klar, dass sich (anders als aus Art. 3 II 1 GG) kein Individualanspruch auf ein bestimmtes staatliches Handeln aus Art. 3 II 2 GG ergeben könne. Dass Art. 3 II 2 GG trotzdem einiges Gewicht zukommen kann, zeigt die Rechtsprechung des BVerfG vom Urteil zum Nachtarbeitsverbot 1992 bis zum Beschluss vom 15.12.2020, welcher sich mit dem Fehlen gesetzlicher Regelungen zur paritätischen Ausgestaltung des Wahlvorschlagsrechts bei der Bundestagswahl 2017 beschäftigte. Im Ergebnis

  • können über Art. 3 II 2 GG Rechtsnormen für verfassungswidrig erklärt werden, die Vor- oder Nachteile an Geschlechtsmerkmale knüpfen;

  • zielt Art. 3 II 2 GG auf die Angleichung der Lebensverhältnisse von Männern und Frauen ab und strebt die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung der Geschlechter für die Zukunft an;

  • ist Art. 3 II 2 GG ein Verfassungsgut, das beispielsweise Art. 38 I 1 GG und Art. 21 I GG gleichrangig gegenübersteht.

Strittig ist mithin der Umfang des Gleichberechtigungsgebots aus Art. 3 II 2 GG. Können über die Beseitigung bestehender Nachteile hinaus zur Schaffung gleicher Startchancen Fördermaßnahmen gestattet werden, auch wenn dadurch ein Geschlecht benachteiligt wird? Bereits der Wortlaut von Art. 3 II 2 GG weist auf die Zulässigkeit von Fördermaßnahmen hin. Wie weit diese gehen können, ist hingegen fraglich. Vor allem im Bereich des Berufs werden positive Fördermaßnahmen immer wieder diskutiert.

  • e.A.: So seien laut der h.M. im beruflichen Bereich nur solche Maßnahmen zulässig, die Chancengleichheit fördern ¬ nicht hingegen solche, die auf die Erfolgsgleichheit einwirken.

Grund dafür sei, dass Fördermaßnahmen nur gegen tatsächlich bestehende Beeinträchtigungen und Gefährdungen genutzt werden könnten. Zwischen der konkreten Benachteiligung und der Gewährung von Vorteilen müsste ein unmittelbarer Zusammenhang bestehen.

  • a.A.: Demgegenüber steht die Auffassung, dass Fördermaßnahmen in einem weiteren Umfang zulässig sind und anhand einer Zumutbarkeitsprüfung bewertet werden.

Gegen die h.M. wird angeführt, dass Diskriminierung anhand eines rein formalen Verständnisses erfasst werde – Diskriminierungen ergeben sich jedoch gerade aus strukturellen Elementen, die nicht ohne Fördermaßnahmen behoben werden könnten und gleichzeitig nicht immer unmittelbar zu fassen seien (materialer Diskriminierungsbegriff).

  • Stellungnahme: Die erste Ansicht stellt die überwiegende h.M. dar, die zuletzt zumindest teilweise vom BVerfG bei der Frage der paritätisch besetzten Wahllisten bestätigt wurde. Das BVerfG lehnte eine Pflicht zur Herbeiführung einer Ergebnisgleichheit zumindest in Bezug auf das Wahlrecht ab. Zum einen stehe der Wortlaut der Norm einer solchen Auslegung entgegen, da Art. 3 II 2 GG von einer „Durchsetzung der Gleichberechtigung“ spreche und gerade nicht von einer Herbeiführung tatsächlicher „Gleichstellung“. Während des Gemeinsamen Verfassungskonvents 1994 fand ein Antrag, in Art. 3 II GG ausdrücklich das Staatsziel, die „Gleichstellung der Frauen in allen gesellschaftlichen Bereichen“ festzuschreiben, nicht die erforderliche Mehrheit. Daraus kann allerdings keine generelle Ablehnung eines materialen Gleichheitsverständnissesherausgelesen werden. Allgemein kann über ein materiales Verständnis des Art. 3 II (und auch Art. 3 III GG) die strukturelle Ungleichheit sozialer Gruppen abgebildet werden. Diskriminierung beruht nicht alleine auf der Tatsache, dass ein Person in einer spezifischen Situation nicht angemessen (weil ungleich) behandelt wird. Viel mehr begründen sich die problematisch gelagerten Fälle gerade aus historisch gewachsenen Annahmen und Lebensrealitäten. Somit sollte der zweiten Meinung durchaus Beachtung geschenkt werden, da nur so struktureller Diskriminierung langfristig entgegengewirkt werden kann.

Klausurtaktik

Art. 3 II 2 GG wird vor allem im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung relevant werden. Es wird meistens darum gehen, warum ein Gesetz gegen den Grundsatz der Geschlechtergleichheit verstößt - entweder, weil Frauen durch das zu prüfende Gesetz diskriminiert werden, oder weil Männer durch Fördermaßnahmen benachteiligt werden.

Weiterführendes Wissen zur gendergerechten Sprache

Im Jahr 2020 wies das BVerfG eine Verfassungsbeschwerde bezogen auf die Verwendung geschlechtergerechter Sprache in Sparkassenvordrucken und -formularen als unzulässig ab. Im Verfahrensgang klagte die Sparkassenkundin bis zum BGH, da sie in den Vordrucken ihrer Sparkasse als „Kundin“, „Kontoinhaberin“, „Einzahlerin“ oder „Sparerin“ bezeichnet werden wollte. Der BGH lehnte ab, nach dem allgemein üblichen Sprachgebrauch und Sprachverständnis, könne der Bedeutungsgehalt einer grammatisch männlichen Personenbezeichnung jedes natürliche Geschlecht umfassen. Die Klägerin sei mitgemeint. Über die Verfassungsbeschwerde rügte die Kundin eine Verletzung ihres allgemeinen Persönlichkeitsrechts sowie der gleichheitsrechtlichen Anforderungen aus Art. 3 III 1 i.V.m. Art. 3 II 1 und aus Art. 3 II 2 GG. Laut BVerfG hätte sich Beschwerdeführerin tiefergehend mit dem vom Bundesgerichtshof angeführten Argument auseinandersetzen müssen, dass das Grundgesetz selbst das generische Maskulinum verwendet. Das Verfassungsgericht bezog inhaltlich zu dieser Frage keine Stellung.

Weiterführende Studienliteratur

Röhner, Ungleichheit und Verfassung, 2019.

Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung: Eine rechtsdogmatische Untersuchung zu Artikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes, 2. Aufl. 1996.

Zusammenfassung: Die wichtigsten Punkte

  • Die Staatszielbestimmung aus Art. 3 II 2 GG vermittelt keinen Individualanspruch auf staatliches Handeln.

  • Trotzdem können Gesetze über Art. 3 II 2 GG für verfassungswidrig erklärt werden und der Auftrag ist ein Verfassungsgut, das Art. 38 I 1 und Art. 21 I GG gleichrangig gegenübersteht.

  • Dabei ist besonders strittig ist, inwiefern Förderungsmaßnahmen zum Abbau des Geschlechterunterschieds über Art. 3 II 2 GG gestützt werden können.

§ 9.4 Europäische Integration, Art. 23 I 1 GG

Notwendiges Vorwissen: Wirkweise der Staatszielbestimmungen und Grundwissen zum Verhältnis des nationalen Rechts/ Europarecht

Lernziel: Einblick in das Staatsziel der Europäischen Integration erhalten; Grundzüge der Verzahnung nationales und internationales Recht verstehen

Das Staatsziel der europäischen Integration wird aus Art. 23 I 1 GG und der Präambel des Grundgesetzes hergeleitet. Dabei dient Art. 23 GG als Europaartikel für viele europarechtlichen Fragen als Anknüpfungspunkt in der Prüfung: Art. 23 I 1 GG umfasst neben der weiten Formulierung der „europäischen Integration“ noch die Struktursicherungsklausel. Art. 23 I 2 und 3 GG ermächtigt den Bund, Hoheitsrechte an die Europäische Union zu übertragen. In Art. 23 II–VII GG wird die Kompetenzverteilung in Angelegenheiten der Europäischen Union geregelt. Dabei ist die Rolle des Bundestages bei der Europäischen Integration besonders relevant. Und auch die Kontrollvorbehalte des BVerfG werden anhand von Art. 23 I GG hergeleitet

Weiterführendes Wissen

Der sog. Europaartikel (Art. 23 GG) wurde 1992 in das Grundgesetz eingebaut – zuvor stellte Art. 23 a.F. die Öffnungsklausel für die deutsche Wiedervereinigung dar. Doch auch vor 1992 wurde die Europarechtsfreundlichkeit des GG durch die Rechtsprechung des BVerfG immer wieder betont. So stellte das Gericht bereits 1967 klar, dass die (damalige) Europäische Wirtschaftsgemeinschaft ein Prozess fortschreitender Integration eigener Art sei.

Bevor Art. 23 I GG als eigene Kompetenzgrundlage zur Übertragung von Hoheitsrechten geschaffen wurde, nutzte der Gesetzgeber Art. 24 GG. Dabei wirkte das BVerfG maßgeblich an der Verzahnung zwischen nationalem Recht und Gemeinschaftsrecht mit. Die durch die Rechtsprechung ausgearbeiteten Rechtssätze wurden dann 1992 in Art. 23 I GG übertragen. Allgemein ist die Struktur des Art. 23 GG heute mit Art. 24 bis 26 GG zu vergleichen.

Staatszielbestimmung des Art. 23 I 1 GG

Art. 23 I 1 GG legt, gemeinsam mit der Präambel des Grundgesetzes, fest, dass Deutschland an der „Verwirklichung eines vereinten Europas“ mitwirkt – dadurch wird eine Integrationsverpflichtung geschaffen, die als Staatszielbestimmung zu verstehen ist. Trotz dieser klaren Verpflichtung ist Art. 23 I 1 GG nicht als einklagbares subjektives Recht zu verstehen. Allerdings sollen die deutschen Hoheitsträger im Rahmen des politischen Gestaltungsspielraums konstruktiv an der Europäischen Union mitwirken.

Fraglich ist, wie weit der Integrationsauftrag über Art. 23 I 1 GG zu verstehen ist. Ist durch den Vertrag von Maastricht 1992/1993 oder durch den Vertrag von Lissabon 2007/2009 das Integrationsziel des Art. 23 I 1 GG bereits erreicht worden? Das BVerfG deutete in seinem Lissabon-Urteil an, dass sich die Mitwirkung auf die Entwicklung des Staatenverbunds beschränken lasse. Schlussendlich ist aber abzulehnen, dass das Integrationsziel des Art. 23 I 1 GG sich auf den status quo der heutigen Europäischen Union beschränke. Im Kern würde eine solche Argumentation einer dynamischen Weiterentwicklung der Europäischen Union widersprechen. Die Grenzen der Ever Closer Union sind mithin nicht anhand der Staatszielbestimmung des Art. 23 I 1 GG zu bemessen.

Klausurtaktik

In der Klausur sollte der Staatszielbestimmung aus Art. 23 I 1 GG nicht zu viel Bedeutung beigemessen werden. In der Regel kann über Art. 23 I 1 GG die Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetz begründet werden, die staatliches Handeln verpflichtet, konstruktiv am Integrationsprozess mitzuwirken.


Weiterführendes Wissen zu den europäischen Verträgen

Überblick der europäischen Verträge

  • 1951: Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle- und Stahl (EGKS) – Mitgliedstaaten: Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande

  • 1957: Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom) in Rom durch die Römischen Verträge

  • 1967: Vertrag über die Fusion der EWG, der EGKS und der Euratom zur Europäischen Gemeinschaft (EG)

  • 1985: Prozess der Europäischen Integration soll durch eine „Einheitliche Europäische Akte (EEA)“ vorangetrieben werden; es wird eine europäische politische Zusammenarbeit beschlossen und der Vertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft reformiert. Die EEA tritt 1987 in Kraft.

  • 1992/1993: Gründung der Europäischen Union und Einführung des Vertrags über die Europäische Union (EG-Vertrag) durch den Vertrag von Maastricht. Dabei ersetzt die Europäische Union nicht die EG, sondern inkorporiert sie: Der seit 1957 bestehende EWG-Vertrag wird zum EG-Vertrag, es wird eine Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik geschaffen und die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres beschlossen. Die drei Säulen der Europäischen Union sind entstanden.

  • 1997/1999: Reform des EG-Vertrags durch den Vertrag von Amsterdam

  • 2001/2003: Reform des EG-Vertrags durch den Vertrag von Nizza

  • 2005: Scheitern des Vertrags über eine Verfassung für Europa aufgrund der Referenden in Frankreich und den Niederlanden

  • 2007/2009: Reform über den Vertrag von Lissabon; der EG- Vertrag wird reformiert und die heutigen primärrechtlichen Quellen (Vertrag der Europäischen Union (EUV) und der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), sowie die Grundrechte-Charta (GR-Ch)) treten am 1.12.2009 in Kraft.

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Struktursicherungsklausel aus Art. 23 I 1 GG

Daneben muss die Staatszielbestimmung von der Struktursicherungsklausel aus Art. 23 I 1 GG abgegrenzt werden. Zwar wird über Art. 23 I 1 GG die Pflicht des konstruktiven Mitwirkens begründet, gleichzeitig wird über den zweiten Teil des Art. 23 I 1 GG (kursiv hervorgehoben) die Übertragung der Hoheitsrechte an Bedingungen geknüpft.

Art. 23 I 1 GG: Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet.

Die Integrationsermächtigung des Art. 23 I 1 GG wird somit auf eine EU beschränkt, die den in Art. 23 I 1 GG erwähnten Anforderungen entspricht.

Weiterführendes Wissen zur Verfassungshomogenität

Gleichzeitig kann über Art. 23 I 1 GG ein Mindestmaß an Verfassungshomogenitätzwischen den Mitgliedstaaten und der EU hergestellt werden. Verfassungshomogenität meint, dass die Verfassungen prinzipiell in ihrer Ausgestaltung vergleichbar sein und somit einen ähnlichen Standard bezüglich der festgeschriebenen Merkmale bieten müssen. Eine damit korrespondierende europarechtliche Vorschrift ist in Art. 2 und 7 EUV vorhanden. Dabei ist strittig, ob die jeweiligen Strukturmerkmale aus nationaler Perspektive betrachtet werden oder eine eigene europarechtsspezifische Auslegung der Merkmale gefunden werden muss. Da es sich vorliegend um Fragen der europäischen Integration handelt, würde eine rein nationale Betrachtung von beispielsweise „Demokratie“ oder „Rechtsstaatlichkeit“ den Integrationsprozess erheblich erschweren. Dies würde der Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes widersprechen. Auch Art. 23 I 1 GG selbst spricht nur von „Grundsätzen“, die mit dem innerstaatlichen Verständnis der Merkmale übereinstimmen müssen. Außerdem sprechen auch Souveränitätsaspekte gegen eine Übertragung des eigenen nationalen Verständnisses von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Mithin muss jedes Strukturmerkmal anhand einer verfassungsvergleichenden Betrachtung bestimmt werden.

Grenzen der europäischen Integration

Welche Grenzen der innerstatlichen Wirkung des Unionsrecht gesetzt werden können, ist je nach Standpunkt (BVerfG/EuGH) unterschiedlich zu bewerten. Laut EuGH genießen sowohl die Normen des EUV und AEUV, wie auch alle Vorschriften des Sekundärrechts Vorrang gegenüber innerstaatlichen Rechtsnormen. Das BVerfG erkennt den Anwendungsvorrang des Unionsrechts grundsätzlich an, ihm begegnen allerdings drei Ausnahmen:

  • Grundrechtskontrolle: Zum einen behält sich das BVerfG eine Überprüfung von Unionsrechtsakten an den Grundrechten des Grundgesetzes für den Fall vor, dass der Grundrechtsschutz auf EU-Ebene strukturell hinter dem des Grundgesetzes zurückbleibt. Im Zentrum der Grundrechtskontrolle steht die sogenannte Solange-Rechtsprechung des BVerfG. In seiner Solange I-Entscheidung legte das BVerfG fest, dass solange das Gemeinschaftsrecht über keinen Grundrechtekatalog, der von einem Parlament verabschiedet wurde und mit den nationalen Grundrechten adäquat vergleichbar ist, verfügt, sich das BVerfG die Kontrolle des Gemeinschaftsrechts am Maßstab der nationalen Grundrechte vorbehält. Im Solange II-Beschluss stellte das BVerfG fest, dass der Rechtsschutz durch die Organe der Europäischen Gemeinschaften, insbesondere durch den EuGH, den Maßstäben der deutschen Grundrechte genüge. Solangemüsse das BVerfG im Regelfall keine eigene Prüfung durchführen.

  • Ultra-Vires-Kontrolle: Zum zweiten genießen laut BVerfG Unionsrechtsakte, die sich außerhalb der der EU in den Verträgen zugewiesenen Kompetenzen bewegen, sogenannte Ultra-Vires-Akte beziehungsweise „ausbrechende Rechtsakte“, keinen Anwendungsvorrang. Die EU kann nämlich nur dann Maßnahmen erlassen, wenn ihr die Zuständigkeit nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung zugewiesen wurde (Art. 5 EUV). Zum ersten Mal in der Geschichte der Gerichtshöfe verweigerte das BVerfG die Umsetzung eines Urteils des EuGH und erklärte im PSPP-Urteil sowohl die strittige Maßnahme der EZB, wie auch das Urteil für ultra vires. Die Geschichte der Ultra- Vires-Kontrolle geht allerdings zurück auf das Maastricht- Urteil des BVerfG und wurde insbesondere im Honeywell- Verfahren konkretisiert.

  • Identitätskontrolle: Zum anderen verweigert das BVerfG Unionsrechtsakten dann den Vorrang, wenn sie gegen die in Art. 79 III GG niedergeschriebenen, „ewigen“ Grundsätze des Grundgesetzes und damit gegen die Identität des Grundgesetzes verstoßen. Im Lissabon- Urteil des BVerfG wurde mithin eine deutlich umfangreichere Variante der Identitätskontrolle angelegt: Die Richter:innen deuteten an, dass die Einschränkung sogenannter identitätsbestimmender Staatsaufgaben eine Identitätskontrolle auslösen könnten. Von dieser extensiven Auslegung des Kontrollvorbehalts entfernte sich das Gericht im ESM- Urteil und beschränkte die Identitätskontrolle auf Art. 79 III GG. Die Identitätskontrolle führte 2015 dazu, dass das Urteil eines deutschen Gerichts, welches Unionsrecht angewandt und vollzogen hatte, vom BVerfG aufgehoben wurde. Gegenstand des Urteils war die Verurteilung eines US- amerikanischen Staatsbürgers in Italien. Deutschland sollte den Verurteilten auf Grundlage des Europäischen Haftbefehls ausliefern. Das BVerfG sah allerdings den Schuldgrundsatz, der über Art. 23 I 3 i.V.m. Art. 79 III i.V.m. Art. 1 I GG Teil der Verfassungsidentität sei, verletzt, da die Verurteilung in Abwesenheit des Beklagten stattfand. Teilweise wird das Urteil zum Europäischen Haftbefehl als „Solange III“ Beschluss bezeichnet, da sich eine grundrechtliche Kontrollkompetenz bezüglich Art. 1 I GG vorbehalten wird.

Überblick der drei Prüfungsvorbehalte des BVerfG

Weiterführende Studienliteratur

Für eine kurze Darstellung der rechtlichen Verknüpfungen des Staatsorganisationsrecht über das Verfassungsrecht hinaus zur internationalen Ebene, siehe Chiofalo/ Siegel, § 3 Grundentscheidungen der Verfassung, Internationale Bezüge in diesem Lehrbuch.

Zur weiterführenden Lektüre: Calliess, Staatsrecht III, 3. Aufl. 2020, § 6 und § 8.

Außerdem werden zu aktuellen Fragen des Europarechts die Berliner Online-Beiträge empfohlen. So beispielsweise Calliess, Grundrechtsschutz zwischen Bundesverfassungsgericht (BVerfG) und Gerichtshof der EU (EuGH): Von Solange I bis zum Recht auf Vergessen II, Berliner Online-Beiträge zum Europarecht, 6.9.2021.

Zusammenfassung: Die wichtigsten Punkte

  • Die Geschichte der Europäischen Union beginnt weit vor dem Inkrafttreten der aktuellen primärrechtlichen Verträge (EUV/AEUV und GRCh).

  • Heute ist Art. 23 GG als Europaartikel für viele europarechtlichen Fragen Anknüpfungspunkt: In Art. 23 I 1 GG lässt sich sowohl die Staatszielbestimmung, wie auch die Struktursicherungsklausel finden. Außerdem ermächtigt Art. 23 I 2 und 3 GG den Bund, Hoheitsrechte zu übertragen. In Art. 23 II–VII GG wird die Kompetenzverteilung in Angelegenheiten der Europäischen Union geregelt.

  • Im Ringen um den Anwendungsvorrang und die Grenzen des Unionsrechts spielen das BVerfG und der EuGH eine zentrale Rolle. Das BVerfG hat mittlerweile drei Kontrollvorbehalte herausgearbeitet: die Identitätskontrolle, die Grundrechtskontrolle und die Ultra-Vires-Kontrolle.