Olivia Czerny BGB AT – Anfängerfälle Licensed under CC-BY-4.0

020_Eine günstige Vase

Fall

S entdeckt in einem seiner Lieblingsläden, von dem B Inhaberin ist, eine Vase. Er kommt mit dem mit Vertretungsmacht ausgestatteten Angestellten A ins Gespräch. A möchte seine Chefin beeindrucken und unbedingt die Vase verkaufen. Als S fragt, was die Vase kosten soll, meint A für 100 € könne S die Vase haben. A ergänzt wahrheitswidrig, sie sei von 150 € herabgesetzt. S sagt OK, so ein Schnäppchen werde er sich nicht entgehen lassen, zahlt und nimmt die Vase mit. Zu Hause angekommen, zeigt er die Vase seinem Freund F und berichtet von dem vermeintlich günstigen Verkauf. Dieser lacht ihn aus und meint zurecht, dass diese Vase bei B im Laden schon immer 100 € gekostet habe. Erbost geht S am nächsten Tag zu B und erklärt ihr, aufgrund der Lüge des A nicht mehr an den Vertrag gebunden zu sein und verlangt seinen Kaufpreis zurück.

Zu Recht?

Lösungsvorschlag

Ziel der folgenden Lösung ist es, die Arbeit am Gesetz und den Gutachtenstil zu trainieren. Ein Schwerpunkt liegt dabei darauf, aufzuzeigen, dass an unproblematischen Stellen kurz gearbeitet werden kann, ohne dass ein Verstoß gegen den Gutachtenstil vorliegt. Der ausführliche Gutachtenstil im Vierschritt erfolgt an problematischen Stellen oder dort, wo Schwerpunkte liegen, ohne dass es sich um ein echtes Problem handelt.

Grundgedanke der folgenden Darstellung ist, dass es zu unterscheiden gilt, welche Gedanken man sich im Rahmen der Lösung eines Falls macht (= Prüfung im Kopf) und was man tatsächlich zu Papier bringt (= Prüfung auf dem Papier). Die Prüfung im Kopf fällt dabei oft viel umfassender aus als die Prüfung auf dem Papier.

Alles, was im Folgenden als Frage oder Aufforderung formuliert ist oder kursiv dargestellt, sollte sich in Ihrem Kopf und evtl. auch in Ihrer Lösungsskizze abspielen. Die restlichen Ausführungen im Normaldruck stellen ein Beispiel für eine ausgeschriebene gutachterliche Lösung dar.

Wiederholung: Video zum Gutachtenstil

Lösung

Vorüberlegung: Die Fallfrage lautet „Zu Recht?“. Mit Blick auf den Sachverhalt: Was ist hier zu prüfen?

  • A verlangt den Kaufpreis zurück

  • Zu suchen ist also eine Anspruchsgrundlage, die im weitesten Sinne auf Rückzahlung oder Rückgabe und Herausgabe des Geldes gerichtet ist

Welche AGL haben Sie bisher kennengelernt, die auf Rückzahlung, Rückgabe, Herausgabe etc. gerichtet sind?

Normanalyse: Was ist Rechtsfolge, was sind Voraussetzungen von § 985 BGB?

Ist es nötig, § 985 BGB hier zu prüfen? Begründen Sie.

  • Nein!

  • Es geht aus dem Sachverhalt nicht hervor, wie S zahlt. Vielleicht hat er mit Karte gezahlt. Dann hätte er kein Eigentum an einer Sache übertragen.

  • In diesem Fall sollten Sie § 985 BGB gar nicht ansprechen.

  • Selbst wenn er bar gezahlt hätte, ist nicht ersichtlich, dass B genau die 100 € als Scheine, also Sache, noch hat und herausgaben kann.

  • Es ist realistischer, dass die Scheine in eine Kasse gelegt wurden und mit anderen Scheinen vermischt wurden. Dann ist B Miteigentümer geworden, §§ 947948 BGB (kommt in der Vorlesung Sachenrecht).

  • Das könnten Sie kurz prüfen oder feststellen, zwingend ist das aber nicht.

Zum Verständnis: Wie müsste der Sachverhalt formuliert sein, damit Sie § 985 BGB prüfen müssen?

Prüfung von § 985 BGB nötig, wenn im Sachverhalt steht:

„S bezahlt mit einem 100€-Schein, den A separat verwahrt.“

  • In diesem Fall wäre die Sache, der 100€-Schein, noch da und man müsste im Rahmen des § 985 BGB „Anspruchsteller ist Eigentümer“ prüfen, ob S noch Eigentümer ist.

Zum Fall: Wir prüfen also nicht § 985 BGB, sondern nur § 812 I 1 Var. 1 BGB. Was gehört in den Obersatz (oder präziser in die Hypothese)?

S gegen B, § 812 I 1 Var. 1 BGB auf Herausgabe von 100 €

S könnte gegen B einen Anspruch auf Herausgabe von 100 € aus § 812 I 1 Var. 1 BGB haben.

Normanalyse: Was ist Rechtsfolge, was sind Voraussetzungen von § 812 I 1 Var. 1 BGB?

Zählen Sie die Voraussetzungen des § 812 I 1 Var. 1 BGB in einem großen Obersatz zur Anspruchsgrundlage auf.

Voraussetzung ist, dass B etwas durch Leistung des S erlangt hat, ohne dass ein Rechtsgrund dafür besteht.

Etwas erlangt

Vorüberlegung: Wie ist „etwas erlangt“ definiert? Subsumtion?

  • etwas erlangt = vermögenswerter Vorteil

  • hier: 100 € = vermögenswerter Vorteil

  • etwas erlangt (+)

Dieses Ergebnis ist recht offensichtlich und hier liegt ganz offensichtlich kein Schwerpunkt. Deswegen dürfen Sie knapp formulieren. Wie könnte das aussehen?

B hat 100 €, also einen vermögenswerten Vorteil, erlangt.

Gutachtenstil: Warum wurde nicht formuliert „B könnte etwas erlangt haben“, also warum wird die Hypothese/der Obersatz zu „etwas erlangt“ hier weggelassen? Darf man das?

Gutachtenstil

Im ausführlichen Vier-Schritt-Gutachtenstil ist sowohl für jedes Tatbestandsmerkmal zunächst eine Hypothese/Obersatz zu bilden. Dann folgen Definition, Subsumtion und Ergebnissatz. Außerdem sind eingangs alle Voraussetzungen für die Norm aufzuzählen. Wenn man aber beides macht, entstehen viele Doppelungen ohne dass mehr Inhalt produziert und die Falllösung weitergebracht wird.

Beispiel, was nicht nötig ist:

„Voraussetzung für einen Anspruch aus § 812 I 1 Var. ist, dass B etwas durch Leistung des S erlangt hat.

I. Etwas erlangt. 

B muss etwas erlangt haben.“

  • Hier wird zweimal gesagt, dass B etwas erlangt haben muss. Auch im Gutachtenstil reicht aber einmal.

  • Wenn Sie also oben, wie hier, einen großen Obersatz bilden und alle Voraussetzungen der Norm aufzählen, können Sie den Einleitungssatz zum Merkmal weglassen und gleich definieren oder im Wege der Kurzsubsumtion vorgehen.

  • Es ist auch der andere Weg denkbar: kein großer Obersatz, dafür Einleitungssatz beim Merkmal.

Verständnis: Was müsste man bei „etwas erlangt“ subsumieren, wenn (1) B einen 100 € Schein erhalten hätte oder (2) kein Geld, sondern eine Uhr.

Verständnis: „etwas erlangt“

Grundsätzlich müssen Sie bei etwas erlangt immer rechtlich spezifizieren, was erlangt wurde, z.B. Besitz und / oder Eigentum.

Bei Geld können Sie darauf verzichten. Sie könnten auch bei (1) also sagen, B hat 100 € erlangt.

Anders bei (2). Hier müssen Sie prüfen, ob B Eigentum oder nur Besitz erlangt hat. Bei (2) hätten Sie vorab aber bereits § 985 BGB prüfen müssen und dort bereits die Eigentumsprüfung vorgenommen.

Durch Leistung

Vorüberlegung: Wie ist „durch Leistung“ definiert? Subsumtion?

  • Leistung = bewusste, zweckgerichtete Mehrung fremden Vermögens

  • Hier: Zahlung des S in der Annahme eine Pflicht aus dem Kaufvertrag zu erfüllen, § 433 II BGB

  • Durch Leistung des S (+)

Auch dieses Ergebnis ist recht offensichtlich und auch hier liegt ganz offensichtlich kein Schwerpunkt. Deswegen dürfen Sie knapp formulieren. Wie könnte das aussehen?

S hat 100 € an den Angestellten A der B gezahlt, um seiner vermeintlichen Verpflichtung aus dem Kaufvertrag mit B nachzukommen und damit bewusst und zweckgerichtet das Vermögen der B gemehrt. S hat geleistet.

Vertiefung: Person des Leistungsempfängers

Vertiefung: Person des Leistungsempfängers

Wenn man ganz genau hinschaut, müsste man bei der Subsumtion der Leistung auch die Stellung des A mit betrachten, da S nicht an B selbst, sondern an A gezahlt hat. Im Ergebnis liegt aber recht unproblematisch eine Leistung an B vor, weil mit B auch der Vertrag geschlossen werden soll und S eben diesen Vertrag erfüllen möchte. Da der Leistungsbegriff erst später im Studium vertieft Thema ist, wird darauf hier nicht weiter eingegangen.

Gutachtenstil: Wenn Sie sich anschauen, wie bei „etwas erlangt“ und „durch Leistung“ vorgegangen wurde, was fällt Ihnen auf? Wie lässt sich begründen, dass dennoch der Gutachtenstil eingehalten wurde?

Gutachtenstil: Kurzsubsumtion

Es liegt eine Kurzsubsumtion vor. Definition und Subsumtion werden verwoben. Es wird mit dem Subsumtionsteil begonnen, dann kommt die Definition und am Ende steht das Ergebnis. Da Definition und Subsumtion enthalten sind und das Ergebnis am Ende steht, entspricht dieses Vorgehen dennoch dem Gutachtenstil.

Ohne Rechtsgrund

Was kommt als Rechtsgrund in Betracht?

Als Rechtsgrund kommt ein Kaufvertrag (§ 433 BGB) in Betracht.

Abschluss Kaufvertrag

Wie kommt ein Kaufvertrag zustande (Definitionsebene)?

Ein Kaufvertrag kommt durch zwei korrespondierende Willenserklärungen zustande, Antrag und Annahme, vgl. §§ 145, 147 BGB.

Welche Sachverhaltsinformation ist als erstes als Antrag zu prüfen?

Antrag der B durch Auslage im Laden

Vorüberlegungen: Was muss eine Willenserklärung alles enthalten?

  • Bestimmtheit: Willenserklärung muss hinsichtlich der essentialia negotii zumindest bestimmbar sein

  • Rechtsbindungswillen

Wie ist es hier bzgl. der Bestimmtheit?

  • Vertragspartner nicht benannt, aber bestimmbar: Antrag an einen begrenzten Personenkreis, alle Kunden (Antrag ad incertas personas)

  • Bestimmtheit (+)

  • Preis fehlt

  • Bestimmtheit (-)

Wie wird bestimmt, ob Rechtsbindungswille vorliegt? (Maßstabsebene)

  • Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont (§§ 133157 BGB): konnte ein vernünftiger Dritter an Stelle des S aus der Auslage der Vase im Laden darauf schließen, dass B sich rechtlich binden will? (Definitions- /Maßstabsebene)

Wie ist es hier? (Subsumtionsebene)

  • Für objektiven Empfänger ersichtlich: B möchte nicht mit jeder, möglicherweise nicht solventen Person einen Vertrag schließen

  • Rechtsbindungswille (-)

Vertiefung: Wie sieht es mit einem Rechtsbindungswillen in Selbstbedienungsläden aus?

Rechtsbindungswille in Selbstbedienungsläden

Ob die Präsentation von Waren in einem Supermarkt einen bindenden Antrag oder eine bloße invitatio ad offerendum darstellt, ist umstritten.

  • Für ersteres spricht, dass der Händler nicht Gefahr läuft, mehr Verträge zu schließen, als er erfüllen kann.

  • Dagegen spricht, dass der Kunde durch die Rücklagemöglichkeit die Auslage typischerweise so auffasst, dass er die Ware auch zurücklegen kann. Dann kann er auch keinen verbindlichen Antrag erwarten. 

  • Auch kann angeführt werden, dass sich der Geschäftsinhaber erst an der Kasse über die Zahlungsfähigkeit des Kunden vergewissern oder Hamsterkäufe verhindern möchte.

Hinweis zur Darstellung und Schwerpunktsetzung:

Es liegt nun aus mehreren Gründen und recht offensichtlich durch die bloße Auslage kein Antrag vor. In der Klausur sollten Sie hier daher nicht so viel Zeit verlieren. Machen Sie sich klar, dass Sie nicht jeden Gedanken, den Sie im Kopf (richtigerweise) haben, im Gutachten zu Papier bringen müssen. Es gilt: ausführliche Prüfung im Kopf, an unproblematischen Stellen kurze Prüfung im Gutachten. Fassen Sie sich hier also unbedingt kurz. Nutzen Sie den verkürzten Gutachtenstil. Es ist auch gut vertretbar, nur einen Grund zu nennen, aus dem ein Antrag scheitert. Das widerspricht zwar etwas dem Gutachtenstil, aber um eine gute Klausur zu schreiben, müssen Sie Schwerpunkte setzen.

Wie könnte man verkürzten Gutachtenstil formulieren, dass die Auslage im Laden kein Antrag ist?

Vom Standpunkt eines objektiven Dritten in Position des S (§§ 133157 BGB) ist erkennbar, dass B sich den konkreten Vertragspartner, etwa mit Blick auf dessen Solvenz, aussuchen möchte und nicht gegenüber jedem rechtlich gebunden sein will. Mangels Rechtsbindungswillen scheidet ein Antrag durch Auslage im Laden daher aus. Darüber hinaus scheitert ein Antrag auch daran, dass der Preis nicht bestimmbar ist.

Es liegt lediglich eine invitatio ad offerendum vor.

Was ist als nächstes als möglicher Antrag zu erwähnen?

Antrag des S mit Frage nach dem Preis

Auch bei der Frage des S nach dem Preis ist recht klar, dass kein Antrag vorliegt. Warum nicht? Wie könnte eine Kurzsubsumtion aussehen?

Vom Standpunkt eines objektiven Dritten in Position des Empfängers (§§ 133157 BGB) ist erkennbar, dass S sich nicht rechtlich bin will, ohne den Preis zu kennen. Mangels Rechtsbindungswillen liegt kein Antrag vor.

Vorüberlegung: Welche Sachverhaltsinformation ist als nächstes als Antrag zu verwerten? Was ist die Besonderheit?

  • A sagt: für 100 € könne S die Vase haben

  • S möchte aber von B 100 € zurück und geht davon aus, dass B Vertragspartnerin geworden ist, B selbst hat keinen Antrag gemacht

Was ist hier also zu prüfen? Nennen Sie die einschlägige Norm.

Normanalyse: Was ist Rechtsfolge, was sind Voraussetzungen von § 164 I BGB?

Von welcher anderen Rechtsfigur, bei der bei einem Vertragsschluss ebenfalls drei Personen beteiligt sind, ist die Stellvertretung abzugrenzen?

  • Botenschaft

Was ist der Unterschied zwischen Stellvertretung und Botenschaft und an welchem Tatbestandsmerkmal kann diese Abgrenzung erfolgen?

  • Stellvertreter gibt eine eigene Willenserklärung ab

  • Bote überbringt eine fremde Willenserklärung

  • Abgrenzung beim Merkmal „eigene Willenserklärung“

Ist im vorliegenden Fall eine Abgrenzung angezeigt? Begründen Sie.

  • Nein

  • recht offensichtlich liegt keine Botenschaft vor

Ist es dann sinnvoll diese Abgrenzung im Gutachten überhaupt vorzunehmen?

  • Nein

Vertiefung: Wie könnte ein Sachverhalt aussehen, in dem Botenschaft und Stellvertretung abgegrenzt werden müssen? Wie könnte man aufbauen?

Zur Botenschaft abgrenzen sollte man z.B. in folgendem Fall:

X bittet V, in seinem Namen ein bestimmtes Gemälde in der Galerie der A zu erwerben. Den Preis solle er verhandeln. V geht entsprechend vor.

  • In diesem Fall trifft der Vertretene X überhaupt eine Aussage zum Geschehen und sucht den Gegenstand schon aus. Gleichwohl hat V Entscheidungsspielraum bzgl. des Preises. Daher liegt Stellvertretung vor.

  • In einem solchen Fall könnte man zunächst prüfen, ob X eine Willenserklärung abgegeben hat, die V als Bote überbracht hat. In diesem Rahmen ist zur Stellvertretung und eigenen Willenserklärung des V abzugrenzen.

  • Entscheidet man sich im Ergebnis aber für eine Stellvertretung, was bei Ausformulierung des Gutachtens bereits feststeht, ist es auch vertretbar dennoch direkt mit Stellvertretung zu beginnen und dort im Rahmen „eigene Willenserklärung“ abzugrenzen. 

  • Letztlich ist der hier zuerst dargestellte Aufbau dogmatisch überzeugender. Dennoch ist der zweite mindestens genauso üblich.

Wie kann stattdessen vorgegangen werden?

  • Subsumtion unter „eigene Willenserklärung“ im Rahmen der Prüfung des § 164 I BGB.

Wenn Sie eine Willenserklärung des A im Rahmen der Stellvertretung prüfen, müssen Sie dabei an alle Punkte denken, die Sie auch sonst bei der Prüfung von Willenserklärungen beachten müssen. Welche sind das?

  • Erklärung muss inhaltlich bestimmt sein

  • Mit Rechtsbindungswillen abgegeben worden sein

  • Erklärung muss B gegenüber wirksam werden, § 130 I BGB (analog)

Würden Sie diese Punkte im vorliegenden Fall ansprechen? Begründen Sie.

  • Nein

  • Alle diese Punkte sind unproblematisch

  • Zwar gilt für ein Gutachten grds: Sie müssen alle positiven Merkmale/ Voraussetzungen ansprechen. Da Bestimmtheit, Rechtsbindungswille und Wirksamwerden positive Voraussetzungen für das Vorliegen einer wirksamen Willenserklärung sind, müssten Sie all das eigentlich prüfen. Diese extreme Kleinschrittigkeit würde v.a. im BGB AT zu einer ausufernden Prüfung führen. Daher ist es anerkannt, dass Sie diese Sachen nicht prüfen müssen, wenn Sie wirklich sehr offensichtlich vorliegen.

  • Eine Prüfung wäre nicht falsch, bringt aber auch keine Punkte, sondern kostet nur Zeit.

  • Nochmal: unterscheiden Sie zwischen der Prüfung in Ihrem Kopf und der im Gutachten

Einstieg in die Prüfung im Gutachten: Die Stellvertretung ist vorliegend zwar nicht problematisch, aber da es sich um einen Anfängerfall handelt, ist sie jedenfalls ein Schwerpunkt. Daher empfiehlt es sich, mit einem vollständigen großen Obersatz zu beginnen. Was sollte darin enthalten sein?

Wie könnte ein solcher vollständiger großer Obersatz zum Antrag des A als Stellvertreter lauten?

Antrag des A

A könnte S einen Antrag gemacht haben, der für und gegen B wirkt, § 164 I BGB. Voraussetzung ist, dass er eine eigene Willenserklärung im Namen der B mit Vertretungsmacht abgegeben hat.

Eigene Willenserklärung

Wonach bestimmt sich, ob A eine eigene Willenserklärung abgegeben hat? Subsumieren Sie als Kurzsubsumtion.

A hat gegenüber S erklärt, er könne die Vase für 100 € haben. Vom Standpunkt eines objektiven Dritten (§§ 133157 BGB) hat damit A und nicht B die Willenserklärung abgegeben.

Gutachtenstil: Warum wird der Punkt „eigene Willenserklärung“ nicht eingeleitet mit: „A müsste eine eigene Willenserklärung abgegeben haben“?

Gutachtenstil: Redundante Obersätze

Wie oben bereits erläutert, ist es redundant, einen großen Obersatz zur Norm zu machen, also alle Voraussetzungen von § 164 I BGB aufzuzählen und dann dennoch bei den einzelnen Voraussetzungen zu wiederholen, dass diese Voraussetzung vorliegen muss.

Hier wurde wieder ein großer Obersatz zu § 164 I BGB gebildet und dann auf die einleitenden Obersätze zu den einzelnen Voraussetzungen verzichtet.

In fremdem Namen

Subsumieren Sie.

A hat zwar nicht ausdrücklich im Namen der B gehandelt. Allerdings ist A bei B angestellt und handelt im Laden der B. Daher folgt aus den Umständen, dass A im Namen der B handelt, § 164 I 2 BGB.

Vertretungsmacht

Was ist hierzu zu sagen?

A handelte mit Vertretungsmacht.

Gutachtenstil: Warum konnte das hier so knapp gemacht werden?

Gutachtenstil: Infos aus dem Sachverhalt

Es steht ausdrücklich im Sachverhalt, dass A Vertretungsmacht hat. Dann können Sie das auch so annehmen. Sie müssen auch nicht „laut Sachverhalt“ schreiben. 

Wie geht es weiter?

Zwischenergebnis

A hat einen Antrag auf Abschluss eines Kaufvertrags gemacht, der für und gegen B wirkt.

Annahme des S

Subsumieren Sie.

S antwortete mit „OK“ und hat damit den Antrag angenommen (§§ 133157 BGB). Stellvertreter A hat die Erklärung zur Kenntnis genommen, so dass diese auch gegenüber B wirkt, § 164 III BGB.

Vertiefung: An dieser Stelle könnte die passive Stellvertretung auch ausführlicher geprüft werden. Was ist dafür Voraussetzung? Sind diese erfüllt und warum wird das hier eher nebenbei erwähnt?

Vertiefung: passive Stellvertretung

Voraussetzungen der passiven Stellvertretung, § 164 III BGB:

  • Willenserklärung des potentiellen Vertragspartners des Vertretenen (B) ist an den Vertreter (A) gerichtet

  • Rechtsfolgen sollen den Vertretenen treffen (B)

  • Vertreter hat Vertretungsmacht

  • Hier (+)

Die Prüfung der passiven Stellvertretung wird hier aus Gründen der Schwerpunktsetzung ganz knapp und etwas oberflächlich vorgenommen.

Werden die Voraussetzungen aktiver Stellvertretung bejaht, ist kaum denkbar, dass die Voraussetzungen passiver Stellvertretung nicht vorliegen. Das wäre im umgekehrten Fall eher möglich, also Vorliegen der Voraussetzungen von passiver Stellvertretung, aber nicht der der aktiven Stellvertretung. Aber auch das ist sehr unwahrscheinlich. 

Liegen für einen solchen Sonderfall keine Anhaltspunkte vor, empfiehlt es sich aus Zeitgründen und im Sinne sinnvoller Schwerpunktsetzung, die passive Stellvertretung eher knapp abzuhandeln, wenn die aktive ohnehin geprüft wurde oder beim Vertragsschluss noch geprüft werden muss.

Vertiefung: In welchem Fall ist es zwingend und wichtig passive Stellvertretung zu prüfen? (schwer)

Vertiefung: passive Stellvertretung bei einseitigen empfangsbedürftigen Willenserklärungen

Ganz zwingend sind die Voraussetzungen passiver Stellvertretung dagegen zu prüfen, wenn aktive Stellvertretung nicht geprüft wird, z.B. wenn der Vertreter der Empfänger eines einseitigen empfangsbedürftigen Rechtsgeschäfts ist, z.B. einer Kündigung oder Anfechtungserklärung. In einem solchen Fall wird aktive Stellvertretung nicht geprüft, weil der Vertreter selbst nichts erklärt.

Auch müssen Sie die passive Stellvertretung prüfen, wenn z.B. Vertreter 1 den Antrag macht, die Annahme aber gegenüber dem potentiellen Vertreter 2 erklärt wird. In Bezug auf diese Person haben Sie die Voraussetzungen der Stellvertretung noch gar nicht geprüft.

Bilden Sie ein Zwischenergebnis.

Zwischenergebnis

Ein Kaufvertrag zwischen B und S ist zustande gekommen.

Vorüberlegung: Welche Sachverhaltsinformationen sind als nächstes zu verwerten?

  • S wurde von A darüber belogen, dass die Vase im Preis reduziert ist.

  • Er möchte daher den Kaufpreis zurück.

Worum geht es rechtlich?

  • Anfechtung

Welche Norm ist für die Anfechtung entscheidend?

  • § 142 I BGB

Normanalyse: Was ist Rechtsfolge, was sind Voraussetzungen von § 142 I BGB?

Was sind die Voraussetzungen der Anfechtung? Wie lassen sich diese aus § 142 I BGB ableiten?

Vertiefung: Ist diese Reihenfolge zwingend?

Prüfungsreihenfolge bei der Anfechtung

Die Reihenfolge Grund vor Erklärung ist nicht zwingend. Man könnte zuerst die Erklärung und dann den Grund prüfen.

Dennoch ist sie sinnvoll: Es muss sich aus der Anfechtungserklärung ergeben, warum angefochten wird. Das spricht dafür, den Grund zuerst zu prüfen.

Die Erklärung ist nötig, um die fristgerechte Ausübung zu prüfen. Daher muss die Erklärung zwingend vor der Frist geprüft werden.

Welcher Anfechtungsgrund ist sehr deutlich im Sachverhalt angelegt?

Was kommt noch in Betracht? Warum?

  • § 119 II BGB: Irrtum über Preisreduzierung als Irrtum über den Wert = Irrtum über verkehrswesentliche Eigenschaft?

Müssen Sie beide prüfen, auch wenn Sie einen schon bejaht haben sollten? Begründen Sie.

  • Ja, weil ein umfassendes Gutachten erstellt wird.

  • Und: es gelten unterschiedlichen Fristen für eine Anfechtung nach § 119 BGB und § 123 BGB.

  • Außerdem ist nur im Fall von § 119 BGB Schadensersatz nach § 122 BGB geschuldet. Liegt z.B. neben § 119 BGB ein Anfechtungsgrund nach § 123 BGB vor, wird man im Rahmen der Auslegung der Anfechtungserklärung zu dem Ergebnis kommen, dass nur nach § 123 BGB angefochten wird.

Gibt es eine zwingende Reihenfolge für beide Anfechtungsgründe?

  • Nein.

Zur Prüfung im Gutachten: Womit steigen Sie ein? Formulieren Sie einen vollständigen großen Obersatz. (Rechtsfolge des § 142 I BGB und dessen Voraussetzungen)

Keine Nichtigkeit nach § 142 I BGB

Der Kaufvertrag könnte nach § 142 I BGB als von Anfang an nichtig anzusehen sein. Voraussetzung ist ein Anfechtungsgrund, eine Anfechtungserklärung und die Einhaltung der Frist.

Aufbau: Prüfungsstandort der Anfechtung

Aufbau: Prüfungsstandort der Anfechtung

Hier gibt es zwei vertretbare Aufbaumöglichkeiten.

Vorliegend wird zunächst der „Abschluss“ des Kaufvertrags als 1. geprüft. Auf derselben Gliederungsebene folgt unter 2. „Keine Nichtigkeit, § 142 I BGB“. Dieser Aufbau impliziert, dass das Rechtsgeschäft, das nach § 142 I BGB als nichtig anzusehen ist, der Vertrag ist.

Vertretbar ist es aber auch anzunehmen, Rechtsgeschäft i.S.d. § 142 I BGB meint die Willenserklärung. Auf das Ergebnis hat das keinen Einfluss, aber auf den Aufbau. Die Anfechtung wäre dann direkt nach der Annahme des S zu prüfen, also auf Ebene der Willenserklärung und innerhalb der Prüfung des Abschlusses des Kaufvertrags.

    Kaufvertrag

  1. Antrag

    Durch Auslage

  2. Antrag

    Durch Preisanfrage

  3. Antrag

    Durch „für 100 € kannst du's haben“

  4. Annahme

    1. Erklärung der Annahme

      „OK“

    2. Keine Nichtigkeit der Annahme

Vertiefung und Wiederholung: Video Themenschwerpunkte im Anspruchsaufbau

Anfechtungsgrund

§ 119 II BGB

Vorüberlegung: Normanalyse: Was ist Rechtsfolge, was sind Voraussetzungen von § 119 II BGB?

Welches Verhältnis zu § 119 Abs. 1 BGB hat § 119 Abs. 2 BGB?

  • Abs. 2 nimmt auf Abs. 1 Bezug: Eigenschaftsirrtum „gilt“ als Inhaltsirrtum

  • Das heißt, dass nicht nur die Voraussetzungen von Abs. 2 vorliegen müssen, sondern auch die von Abs. 1.

  • Und: die für die Prüfung relevante Rechtsfolge folgt aus Abs. 1: „kann die Erklärung anfechten“

    • hier kommt zum Ausdruck, dass ein Anfechtungsgrund vorliegt.

Wie ist verkehrswesentliche Eigenschaft definiert? Ist der Preis oder Wert eine verkehrswesentliche Eigenschaft (Subsumtion)?

  • Wertbildende Faktoren, denen die Verkehrsanschauung im konkreten Rechtsgeschäft Bedeutung zumisst

  • Selbst wenn man in dem Irrtum über die Preisreduzierung einen Irrtum über den Wert sieht: Wert selbst als verkehrswesentliche Eigenschaft (-)

§ 119 II BGB scheitert also schon an der ersten Voraussetzung Eigenschaft. Dann müssen Sie im Gutachten auch nicht alle anderen Voraussetzung aufzählen, wenn Sie diese sowieso nicht prüfen. Vielmehr können Sie sich auf die Voraussetzung konzentrieren, die sie dann ablehnen. Wie könnte man den Teil zu § 119 II BGB formulieren? (Obersatz, Definition, Subsumtion, Ergebnis)

S könnte nach § 119 II BGB aufgrund eines Irrtums über eine verkehrswesentliche Eigenschaft anfechten. Verkehrswesentliche Eigenschaften sind wertbildende Faktoren, denen die Verkehrsanschauung im konkreten Rechtsgeschäft Bedeutung zumisst. S denkt, die Vase sei im Preis reduziert. Darin könnte ein Irrtum über den Wert liegen. Der Wert selbst ist aber kein wertbildender Faktor, also keine Eigenschaft. Eine Anfechtung nach § 119 II BGB scheidet aus.

Gutachtenstil und Notfalllösung: Wenn es schnell gehen muss, wie könnte man diesen Teil kürzer fassen?

Wenn es schnell gehen muss, könnte man diesen Teil kürzer fassen:

  1. Anfechtungsgrund

    1. § 119 II BGB

      S dachte, die Vase sei preisreduziert. Damit könnte er über den Wert geirrt haben. Der Wert selbst ist aber kein wertbildender Faktor, also keine Eigenschaft. Eine Anfechtung nach § 119 II BGB scheidet aus.

In der Kurzfassung wird auf den einleitenden Teil des Obersatzes („Könnte“) verzichtet und statt zu definieren und dann zu subsumieren, beides im Rahmen einer Kurzsubsumtion zusammengezogen.

An welcher Stelle dieses Vorgehen des verkürzten Gutachtenstils zulässig ist, hängt v.a. davon ab, wie problematisch und „spannend“ der Teil ist. Das ist natürlich auch eine Wertungsfrage. Aber: so wichtig der Gutachtenstil auch ist, gibt es die Big Points in der Klausur auf die Inhalte. Und die Inhalte können auch durchaus knapp dargestellt werden. Das gilt v.a. für Studierende mit Zeitproblemen.

Ganz wichtig ist aber: auch beim verkürzten Gutachtenstil müssen Sie Normen nennen und subsumieren, also die Sachverhaltsangabe mit dem Tatbestandmerkmal zusammenbringen. Und auch das Ergebnis sollte am Ende stehen. Sonst ist es Urteilsstil.

§ 123 I, II BGB

Vorüberlegung: Normanalyse: Was ist Rechtsfolge, was sind Voraussetzungen von § 123 I BGB?

Müssen Sie auch hier prüfen: "Bei Kenntnis der Sachlage und bei verständiger Würdigung nicht abgebeben haben würde“? Begründen Sie.

  • Nein!

  • Weil es in § 123 BGB  nicht drin steht.

  • 1. “Bei Kenntnis der Sachlage“ als Ausdruck eines einfachen, subjektiven Kausalitätserfordernisses brauchen Sie bei § 123 I BGB nicht prüfen, weil die Kausalität über das Merkmal „bestimmt worden ist“ im Wortlaut abgebildet ist. Wichtig aber: auch bei § 123 I BGB prüfen Sie ein Kausalitätserfordernis.

  • 2. „Bei verständiger Würdigung“ als objektivem, wertendem Kausalitätserfordernis ist aus Wertungsgründung in § 123 BGB nicht vorgesehen. Einfache Kausalität reicht. Der Täuschende ist nicht so schutzwürdig wie der Gegner einer Erklärung, die auf einem Irrtum nach § 119 BGB beruht. Bei § 123 BGB stammt der Irrtum aus der Sphäre des Vertragspartners, bei § 119 BGB aus der Sphäre des Irrenden.

  • Das ist im Rahmen des § 123 BGB gar nicht anzusprechen! Prüfen Sie einfach die Voraussetzungen, die sich aus dem Gesetz ergeben.

Wenn Sie § 123 BGB komplett lesen, wo ist relevant, dass nicht Vertragspartnerin B täuscht, sondern ihr Angestellter A?

  • § 123 I BGB ist passiv formuliert: „bestimmt wird“. Die Person des Täuschenden ist hier genau genommen nicht relevant.

  • § 123 II BGB besagt aber, „hat ein Dritter die Täuschung verübt“.

Was folgt daraus für den Aufbau der Prüfung?

  • Es bietet sich an, erst die Voraussetzungen von § 123 I BGB zu prüfen und auf die Person des Täuschenden nicht einzugehen.

  • Wenn eine dritte Person beteiligt ist, kann anschließend § 123 II BGB geprüft werden.

  • Dieser Aufbau ist nicht zwingend. § 123 II BGB kann auch in § 123 I BGB „hineingeprüft“ werden, wenn die Täuschung abgehandelt wird.

  • Sind in einem Fall nur beide Vertragspartner relevant, hätte hier also S den Vertrag mit B geschlossen und B hätte über den Wert gelogen, müssten Sie § 123 II BGB gar nicht ansprechen.

Zur Prüfung: § 123 BGB ist vorliegend ein Schwerpunkt. Daher empfiehlt es sich, weitestgehend den Vierschritt-Gutachtenstil anzuwenden. Als erstes ist daher ein einleitender Obersatz zu formulieren. Wie könnte der lauten? (Rechtsfolge § 123 BGB)

S könnte nach § 123 I Var. 1, II BGB anfechten.

§ 123 I BGB

Wenn im Aufbau nach § 123 I und II BGB getrennt wird, können Sie auch die Voraussetzungen der Abs. getrennt aufzählen, hier jetzt also für § 123 I BGB. Was könnte man demnach hier schreiben?

Voraussetzung ist zunächst, dass S durch widerrechtliche und arglistige Täuschung zur Abgabe einer Erklärung bestimmt worden ist.

Täuschung

Definieren und subsumieren Sie.

  • Eine Täuschung ist das Hervorrufen oder Aufrechterhalten eines Irrtums über Tatsachen.

A hat S vorgespiegelt, die Vase sei im Preis von 150 € auf 100 € reduziert. Tatsächlich hat sie bei B schon immer 100 € gekostet. S hat ihm geglaubt und unterlag damit einem von A hervorgerufenen Irrtum.

Widerrechtlichkeit

Eine Täuschung ist nur dann nicht widerrechtlich, wenn der Täuschende ausnahmsweise ein Recht zur Lüge hat. Liegen für einen solchen Fall keine Anhaltspunkte vor, können Sie zum einen einfach unterstellen, dass „widerrechtlich“ auch Voraussetzung von Var. 1 ist und zum anderen einfach feststellen, dass die Täuschung widerrechtlich war.

Die Täuschung war auch widerrechtlich.

Zur Abgabe der Willenserklärung bestimmt (kausal)

Dieses Merkmal ist letztlich selbsterklärend, so dass sie eine Kurzsubsumtion vornehmen können.

S hat den Vertrag gerade abgeschlossen, weil er die Vase für für ein Schnäppchen hielt. Die Täuschung war daher kausal für die Abgabe seiner Willenserklärung.

Arglist

Was ist Arglist? Arbeiten Sie auch hier mit einer Kurzsubsumtion.

A hat den S vorsätzlich, also arglistig, getäuscht.

Aus Gründen der Übersichtlichkeit, was bietet sich als nächstes an?

Zwischenergebnis

Die Voraussetzungen von § 123 I BGB liegen vor.

Vorüberlegung: Wie eingangs bereits herausgearbeitet, ist nun die Person des Täuschenden zu thematisieren. Beginnen wir mit einer Normanalyse des § 123 II 1 BGB. Was ist Rechtsfolge, was sind Voraussetzungen des § 123 II 1 BGB ? Das ist schwieriger als in den meisten Fällen.

Was ist das besondere an der Formulierung der Rechtsfolge: „nur dann anfechtbar“?

  • Es werden zusätzliche Voraussetzungen statuiert.

In welchem Fall sind zusätzlich zu § 123 I BGB nach § 123 II 1 BGB weitere Voraussetzungen nötig?

  • Wenn ein Dritter die Täuschung verübt hat

  • die Erklärung einem anderen gegenüber abzugeben war (= empfangsbedürftige Willenserklärung)

Und welche Voraussetzungen sind dann erforderlich?

  • Kenntnis oder Kennenmüssen des anderen

Wer ist der andere iSd Norm?

  • Der Erklärungsgegner der Anfechtung

  • Hier: B

Zum Verständnis: Was bezweckt § 123 II 1 BGB? Wieso kann bei der Täuschung durch einen Dritten nur angefochten werden, wenn der Erklärungsempfänger der Anfechtung die Täuschung kannte oder kennen musste?

  • Anfechtung schützt die Willensentschließungsfreiheit des Anfechtenden: wer irrt, soll sich vom Vertrag lösen können.

  • Allerdings ist auch der Vertragspartner des Irrenden schutzwürdig.

  • Deswegen gibt es für die Anfechtung nach § 119 BGB einen Schadensersatzanspruch gegen den Anfechtenden. Dort stammt der Irrtum aus seiner Sphäre.

  • Bei § 123 BGB gibt es keinen Schadensersatzanspruch. Grund: wer getäuscht oder bedroht wird, ist besonders schutzwürdig.

  • Wenn nun aber der Erklärungsempfänger der Anfechtung nicht selbst täuscht, sind letztlich beide schutzwürdig. Der Anfechtende, der belogen wurde, und auch der andere, der selbst nichts falsch gemacht hat.

  • Erfolgt die Täuschung nun durch einen Dritten, muss der Erklärungsempfänger der Anfechtung die Täuschung oder Drohung kennen oder hätte sie kennen müssen. Sonst sieht das Gesetz ihn als schutzwürdiger an.

Was folgt aus diesem Zweck für die Bestimmung des „Dritten“?

  • Dritter ist nicht jede dritte Person.

Sondern?

  • Dritter ist, wer dem Erklärungsgegner der Anfechtung (also B) nicht wertend zuzurechnen ist.

Kennen Sie den Namen für diese Zurechnung?

  • Lagertheorie

Wie sieht es mit A aus?

  • A ist Vertreter und das Gesetz rechnet seine Willenserklärungen der B zu, § 164 I BGB

  • Dann sind für die Frage wer „Dritter“ ist auch Verhaltensweisen im Zusammenhang mit diesen Erklärungen wertend der B zuzurechnen.

Zur Prüfung: Wie könnte man die Prüfung einleiten? Vergegenwärtigen Sie sich, dass im Obersatz grds. die Rechtsfolge der Prüfung steht. Welche war das? Was sind die Voraussetzungen?

§ 123 II BGB

Fraglich ist, ob auch die zusätzlichen Voraussetzungen des § 123 II BGB vorliegen müssen und B die Täuschung kannte oder hätte kennen müssen. Das ist dann der Fall, wenn die Täuschung durch einen Dritten i.S.d. § 123 II 1 BGB verübt wurde.

Dritter

Da der Wortlaut „Dritter“ eine viel weitergehende Bedeutung suggeriert als letztlich angenommen wird (s.o.), empfiehlt es sich, einen ausführlicheren Gutachtenstil anzuwenden. Bilden Sie einen Obersatz und definieren Sie „Dritter“.

A könnte „Dritter“ i.S.d. Norm sein. Kein Dritter ist, wessen Verhalten aufgrund wertender Betrachtung dem Erklärungsgegner der Anfechtung zugerechnet wird, wer also in dessen „Lager“ steht.

Subsumieren Sie.

A ist Vertreter der B, so dass B die Willenserklärungen des A zugerechnet werden. Dann ist A bezüglich einer Täuschung in diesem Zusammenhang mit diesen Willenserklärungen dem Lager der B zuzurechnen.

Was bedeutet das für das zu prüfende Merkmal und die weitere Prüfung des § 123 II 1 BGB?

A ist daher nicht Dritter i.S.d. Norm.

Zwischenergebnis

Die besonderen Voraussetzung des § 123 II 1 BGB müssen nicht vorliegen, so dass es unschädlich ist, dass B die Täuschung weder kannte noch kennen musste.

Was bedeutet das für die Prüfung des § 123 I BGB?

Zwischenergebnis

Es liegt ein Anfechtungsgrund nach § 123 I Var. 1 BGB vor.

Was ist als nächstes zu prüfen?

Anfechtungserklärung

Was ist hier die Anfechtungserklärung? Wem gegenüber ist sie zu erklären? Fassen Sie sich kurz. Nennen Sie dennoch die entscheidenden Normen und subsumieren Sie.

S erklärt gegenüber B, aufgrund der Lüge des A nicht mehr an den Vertrag gebunden zu sein. Damit bringt er zum Ausdruck vom Vertrag Abstand nehmen zu wollen, was einer Anfechtungserklärung entspricht (§§ 133157 BGB). B ist als Vertragspartnerin auch richtige Erklärungsgegnerin, § 143 I, II Var. 1 BGB.

Gutachtenstil: Zeitfresser und Ungenauigkeit bei der Anfechtungserklärung

Gutachtenstil: Anfechtungserklärung 

Bei der Prüfung der Anfechtungserklärungen passieren regelmäßig zwei „Fehler“:

  1. Es wird zu viel geschrieben: Oft liest man die Lehrbuchformulierung, „das Wort Anfechtung muss nicht genannt werden“. Das ist aber letztlich selbstverständlich, weil die Anfechtungserklärung eine Willenserklärung ist, die ausgelegt wird. Auf diese Floskel können Sie also verzichten.

  2. Es wird nicht subsumiert: Da die Anfechtungserklärung eine Willenserklärung ist, müssen Sie feststellen, was tatsächlich gesagt wurde, um dann daraus abzuleiten, dass diese Erklärung als Anfechtung auszulegen ist.

Was ist als nächstes zu prüfen?

Frist

Welche Frist gilt hier? Nennen Sie die Norm und nehmen Sie eine Kurzsubsumtion vor.

S hat bereits kurz nach Vertragsschluss angefochten und damit die Jahresfrist des § 124 I BGB eingehalten.

Bilden Sie (Zwischen-)Ergebnisse.

Zwischenergebnis

Der Kaufvertrag ist gemäß § 142 I BGB als von Anfang an nichtig anzusehen.

Vertiefung: An welche andere Norm, die zur Nichtigkeit eines Vertrags führt, könnte man bei einem Preisunterschied von 100 € zu 150 € noch denken? Warum wurde diese hier nicht geprüft?

Wird eine Sache deutlich über Wert verkauft, sollte immer an § 138 BGB gedacht werden.

Das heißt nicht, dass die Norm auch immer geprüft werden muss. Hier ist eine Prüfung im Gutachten aus folgenden Gründen nicht angezeigt.

  1. Es ist hier nicht klar, ob die Leistung Vase in einem Missverhältnis zum Preis von 100 € steht. Darüber hinaus verlangt § 138 II BGB noch weitere Voraussetzungen für die hier keinerlei Anhaltspunkte vorliegen. 

  2. Auch die Prüfung von § 138 I BGB ist nicht naheliegend. Alleine das Vorliegen einer Täuschung ist nicht ausreichend für § 138 I BGB. Sonst wäre § 123 BGB überflüssig. Es müssten also auch hier weitere Umstände hinzukommen. Dass A seine Chefin beeindrucken und die Vase verkaufen will, ist nicht ausreichend.

Weil diese Punkte letztlich recht offensichtlich sind, werden Sie hier nicht angesprochen. Denkbar ist auch, die Norm kurz anzusprechen. Um sinnvoll Schwerpunkte zu setzen, sollte hier aber keinesfalls zu viel geschrieben werden.

Zwischenergebnis

Damit hat S ohne Rechtsgrund geleistet.

Ergebnis

S kann von B Herausgabe von 100 € aus § 812 I 1 Var. 1 BGB verlangen.