Christina Ellinghaus
Achtsamkeit ist eine bewusste, absichtslose, offene und akzeptierende Haltung zum gegenwärtigen Geschehen.
Michael Huppertz: Achtsamkeitsübungen: Experimente mit einen anderen Lebensgefühl, 2. Aufl., Paderborn: Junfermann, 2015, S. 20.
Die Praxis der Achtsamkeit hat sich schon über Jahrtausende als ein „eigener Übungsweg“
Bei allen Achtsamkeitsübungen geht es schlicht und einfach darum, „sich die Fähigkeit des Sich-beobachten-Könnens bewusst zu machen“.
An dieser Stelle schlage ich dir zum Einstieg folgende geführte Achtsamkeitsmeditation vor, die als Audiodatei unter folgendem Link zu finden ist:
Sich beobachten können
https://lecture2go.uni-hamburg.de/l2go/-/get/v/TTnjQc8
Kennwort: [rlc.transfer]2022
Falls du die Übung direkt ausprobiert hast, merkst du vielleicht, dass du in das Hier und Jetzt gelenkt wurdest. Welche Gedanken und Gefühle kommen in diesem Moment auf?
Zen-Meister Thích Nhất Hạnh sagt: „Meditation ist keineswegs etwas Weltfremdes, vielmehr hat sie ganz konkret mit unserem Leben und Alltag zu tun.“
Um mal kurz abends 5 Minuten in sich reinzuhorchen, ist die Achtsamkeits-App von Ein guter Plan
Was ich persönlich in der Arbeit mit häufig schwer belasteten Menschen über mich gelernt habe, ist, dass ich mir vieles bildlich gut vorstellen kann. Wie bereits in den vorherigen Abschnitten erläutert, können durch Erzählungen anderer über Gewalt, Krieg, Explosionen, sexuelle Übergriffe und Folter, eigene Bilder bei uns entstehen. Dass ich ein visueller Mensch bin, wurde an dieser Stelle eher zu einer Belastung, da ich mir viele Beschreibungen sehr bildlich vorgestellt habe. Um mein Gleichgewicht wieder zu finden, haben mir positive Bilder und Imaginationsübungen geholfen. Mein bildliches Vorstellungsvermögen wurde dadurch wieder zu einer wirklichen Kraftquelle. Da waren sie wieder, die kreativen Bilder aus der Kindheit.
Die sogenannten Imaginationsübungen sind inzwischen ein Standard in vielen traumatherapeutischen Ansätzen.
Durch die wissenschaftliche Literatur wird deutlich, dass es kein Hokuspokus ist; neurowissenschaftlichen Erkenntnissen zufolge können eure inneren Bilder durchaus machtvoll sein. Einer der bekanntesten Neurobiologen und Neurowissenschaftler, Gerald Hüther, beschreibt, dass äußere und innere Bilder als sensorische Reize wesentliche strukturbildende Elemente des menschlichen Gehirns und seines Funktionierens sind.
Achtung: Wir Menschen sind Individuen, ticken unterschiedlich, und was bei einer Person hilfreich ist, kann einer anderen schaden. Daher wende die folgenden Übungen nur an, wenn du dich stabil fühlst.
Achtsamkeits-Übungen für den Alltag zum Ausprobieren
Christina Ellinghaus
Morgenritual
Beginne den Tag mit einem kurzen Moment der Besinnung und nutze das Gefühl von Schlaftrunkenheit, bevor du auf dein Handy schaust oder deine To-Do-Listen im Kopf durchgehst. Deine Augen kannst du geschlossen halten und durch deinen Körper scannen. Spüre, dass du lebst und atmest. Du brauchst in diesen ersten Minuten des neuen Tages nichts tun oder planen. Wenn du magst, überlege dir, wofür du dankbar bist.
Duschen, Gesicht oder Hände wachsen
Spüre das Wasser auf deiner Haut, nimm die Temperatur wahr und sei ganz bei deinen Empfindungen. Jetzt ist nur Zeit dafür, für nichts anderes. Tauchen Gedanken auf, lass sie einfach abtropfen wie das Wasser auf deiner Haut.
Essen zubereiten
Bereite dir (oder anderen) das Frühstück oder Mittagessen zu. Schenke dieser Tätigkeit besonders viel Aufmerksamkeit. Alles was du für dich (oder deine Liebsten) tust, verdient eine extra Portion Sorgfalt und Hingabe. Und die gibst du einfach als Extra-Zutat hinzu.
Zähne putzen
Nimm dir die 3 Minuten Zähneputzen als Zeit für dich. Sei ganz beim Zähneputzen, spüre wie die Zahnbürste über deine Zähne gleitet, wie die Zahnpasta schmeckt und wie dein Zahnfleisch sanft massiert wird. Du tust etwas für deine Gesundheit, das ist gut so. Und wenn du noch mehr für dich tun möchtest, bleib einfach eine Minute länger im Bad und genieße diese ruhige Zeit allein, bevor die übrige Routine beginnt.
Neue Wege gehen
Du gehst zur Uni, zur Arbeit, zu S-Bahn, zum Einkaufen. Diese Fortbewegung von A nach B sollte mit unserer Aufmerksamkeit verbunden sein. Sind wir unaufmerksam, vergessen wir das Fahrrad abzuschließen, vergessen unseren Regenschirm oder sehen die rote Ampel nicht. Mache täglich einen Gang zu deiner persönlichen Achtsamkeits-Übung. Nimm dir eine Wegstrecke vor, in der du nicht von Kopfhörern in den Ohren mit Musik oder einem Telefonat abgelenkt bist. Schau nach links und rechts und bemerke, ob dir etwas auffällt auf dieser Strecke, die du vielleicht schon häufig gegangen oder gefahren bist. Entdecke Neues, sei aufmerksam für deine Umgebung, Gerüche und Geräusche, oder nimm mal einen anderen Weg. Wenn du zu Fuß gehst, kannst du dich auch im achtsamen Gehen ausprobieren. Berühre den Boden auf unterschiedliche Weise mit leichtem oder starkem Druck und geh vielleicht mal bewusst langsamer.
Den Schreibtisch begrüßen
Wie setzt du dich an den Platz, an dem du arbeitest oder dich für andere engagierst? Gestalte dir deinen Übergang der Alltagswelt zur Law Clinic-Welt. Halte kurz inne, atme einmal ein und wieder aus, bevor du beginnst und nimm anschließend bewusst deinen Platz ein oder geh bewusst durch die Tür, hinter der die Beratung durchgeführt wird. Sage dir, wenn du magst, dass du heute für dich dein Bestes geben wirst und dass das ausreichend ist, um die Bälle in der Luft zu halten. Und sollte doch mal einer herunterfallen, wird er aufgehoben, wenn wieder Platz und Zeit dafür ist.
Pausen machen, Atmen
Wir brauchen alle zwischendurch Pausen. Mache dir bewusst, wann du eine Pause für dich brauchst, wechsle für diese Pause den Platz, gehe ein paar Schritte oder dehne deinen Körper. Ein wenig Bewegung hilft dem Gehirn beim Denken, gerne auch an der frischen Luft. Atme ein paar Mal tief ein und aus und mache dir bewusst, dass alles in Ordnung ist, solange du atmest.
In Ruhe essen
Du hast kaum Zeit für eine Mittagspause? Gehe vielleicht zurück zu Punkt 3 und denke daran, wie liebevoll du oder jemand anderes dein Essen heute zubereitet hat. Du darfst dankbar dafür sein. Du hast dir etwas Gutes getan und das schmeckst du jetzt vielleicht bei jedem Bissen. Kaue dein Essen ein wenig länger als sonst. Du bemerkst den intensiven Geschmack und die Zuwendung, die in diesem Essen steckt.
Für die Schokoladen-Fans: Ein Klassiker ist auch ein Stück Schokolade so richtig langsam zu essen, schmelzen zu lassen und ganz in Ruhe zu genießen.
Bedürfnisse wahrnehmen
Halte inne und frage dich – was brauche ich jetzt? Da mag ein Gefühl spürbar sein, dass immer wieder von dir in den Hintergrund gedrängt wird, da es jetzt gerade nicht passt. Oftmals sind Gefühle und Körperempfindungen Hinweise für unsere Bedürfnisse. Wende dich also diesen Gefühlen zu, wenn sie auftauchen, und frage dich, was sie dir sagen wollen. Warum tauchen sie auf?
Den Tag ausklingen lassen
Was entspannt dich jetzt und befreit dich von dem, was nun ohnehin Teil der Vergangenheit ist? Und das, was für morgen geplant ist, kannst du zwar vorbereiten und planen, aber ob es morgen so eintreten wird, weißt du nicht. Nur das Hier und Jetzt hast du in der Hand.
Setze dich auf deine Lieblingscouch, nimm deine Füße wahr, wie sie dich durch den Tag getragen haben. Spüre, wie du sitzt und wie dein Körper sich anlehnen kann. Es gibt nichts mehr zu tun oder festzuhalten. Gib dein Gewicht an den tragenden Untergrund ab, auf dem du sitzt, und atme.
Wenn du magst: Vergegenwärtige dir noch einmal deinen Tagesablauf. Wie bist du morgens aufgestanden, wem bist du begegnet, was ging dir durch den Kopf, was hast du empfunden,…? Entscheide dich, welche Gedanken, Sorgen und Probleme du jetzt eine Weile beiseite tun willst. Wenn du magst, stell dir vor, dass du sie in einen großen Korb oder auf ein Fließband legst, oder lasse sie von einem Fluss davontragen.
Und selbstverständlich darfst du dir auch schöne Moment und Gefühle nochmal vor Augen halten und lächeln 😊.
Den Körper austricksen mit Atmen und Lächeln. Kein Witz!
Bian Sukrow
Du kennst das Prinzip: Innen wie außen. Wenn du schlechte Laune hast oder traurig bist, lässt du auch äußerlich den Kopf hängen. Auch Stress, etwa weil du Angst hast oder dich angegriffen fühlst, findet einen Ausdruck in deinem Körper, du atmest z. B. schneller und flacher. Das ist eine sehr alte Strategie deines Körpers, dir viel Sauerstoff zuzuführen, damit du schnell weglaufen oder gut kämpfen kannst, falls das nötig werden sollte.
Nun haben wir aber im Alltag selten Stress, weil uns ein Bär fressen will oder wir uns vor einer Lawine retten müssen. Wir haben z. B. Angst, weil wir in einer ungewohnten oder unangenehmen Situation sind (die erste Beratung, Hilfe!!), wir fühlen uns in einer verbalen Auseinandersetzung angegriffen, oder haben Muffensausen vor einer Begegnung mit einer Person, die wir nicht einschätzen können (Wie werden die im Vorstellungsgespräch drauf sein?!). Alles nicht lebensbedrohlich, das weiß aber unser Körper nicht. Er lässt dich also flach atmen und schüttet vorsorglich ein paar Hab-Acht-Botenstoffe aus, just in case. Da das Gehirn nicht alles gleichzeitig hinbekommt, priorisiert es. Leute mit Prüfungsangst kennen das sehr gut. Dem Körper sind komplexe Denkprozesse dann ziemlich wurscht, Hauptsache, er kommt schnell weg, wenn der Bär um die Ecke kommt.
Was viele Leute nicht wissen: Das Prinzip wirkt auch umgekehrt, die Körper-Emotionen-Denken-Verbindung ist keine Einbahnstraße.
Wenn du tief und langsam in den Bauch atmest, sagst du damit deinem Körper: Alles in Ordnung, kein Grund zu hyperventilieren oder auf Angriff zu schalten. Dein Körper reguliert entsprechend auch alles andere wieder ein: Die Angstgefühle oder der Drang zur Selbstverteidigung werden kleiner, der Körper entspannt sich, zumindest ein wenig. Doch kein Bär, nur mein Prof. Keine Lawine, nur meine Schwester, die ganz genau weiß, welche Knöpfe sie bei mir drücken muss. Puh.
Wenn du üben möchtest, wie du dich mit bewusstem Atmen beruhigen kannst, hier ein Tipp von Christina für eine geführte Atemübung zum Mitmachen:
Atemübung 4-7-8: https://www.youtube.com/watch?v=98XyXBHAB9Q&ab_channel=Mentalreisen
Mit Lächeln funktioniert das auch. Es klingt erst mal paradox, in einer Situation zu lächeln, in der wir schlechte Laune haben oder unsicher sind. Aber probier es aus: Sobald du lächelst, verändert sich auch dein sonstiges Körpergefühl, und zwar sofort! Wenn du niedergeschlagen bist, kannst du zusätzlich bewusst den Kopf heben. Natürlich geht tiefe Trauer auf die Weise nicht weg, aber es gibt ja häufig Situationen, in denen wir uns in eine muffige Laune hineinmanövriert haben, und den Rückweg nicht gleich finden.
Also: Atmen, lächeln, Kopf hoch! (Krönchen richten schadet auch nicht.)
Der innere Raum
Bian Sukrow
Während meiner Therapieausbildung haben wir gelernt, innere Räume zu nutzen, um uns zu sortieren und Kraft zu tanken. Wenn du an Sherlock Homes‘ Mind Palace denken musst, liegst du nicht ganz falsch, wenngleich es in meinem persönlichen inneren Raum deutlich unspektakulärer aussieht. Der innere Raum ist eine schöne Self-Care-Methode für alle, die sich gern bildliche Vorstellungen machen. Ist nicht dein Ding, du denkst mehr in Sprache als in Bildern? War bei mir auch so, mit etwas Übung hat es aber auch bei mir geklappt mit den Visualisierungstechniken.
Okay, wie komm ich denn da rein in diesen inneren Raum?
n einer ruhigen Minute setzt oder legst du dich bequem hin, schließt die Augen, atmest tief ein und aus, gern für ein paar Minuten, und nimmst dich und deinen Körper bewusst war.
Du stellst dir vor, dass du einen Flur entlanggehst. Eine der Türen an diesem Flur ist die zu deinem inneren Raum. Du öffnest die Tür, gehst hinein und siehst dich um.
Fertig.
So einfach? Ja, so einfach. Vielleicht wirst du eine Zeit brauchen, bis die Vorstellung konkret wird.
Und wie sieht es da aus?
Wenn du das erste Mal in deinen Raum kommst, kannst du dich einfach überraschen lassen. Dein Unterbewusstsein wird dir einen Vorschlag machen. Es kann auch sein, dass du erst einmal aufräumen oder putzen musst in deinem inneren Raum (vielleicht warst du seit deiner Kindheit nicht mehr drin, da kann sich schon eine Menge Staub ansammeln). Du musst nur daran denken, und, schwups, hast du einen inneren Besen in der Hand. Vielleicht möchtest du deinen Raum auch umgestalten. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt, und wie dir dein Raum erscheint, kann sich auch im Verlauf der Zeit ändern. Du hast jedes Recht – und die Macht! – deinen Raum so einzurichten, wie es dir passt. Du kannst auch verschiedene Räume haben und dich je nach Laune und Bedarf mal in den einen, mal in den anderen begeben.
Mein innerer Raum ist sehr schlicht, hat weiße Wände, ein Bett, auf das ich mich legen kann, ein Fenster zum Garten. Dein Raum kann völlig anders aussehen. Jemand aus meiner Ausbildungsgruppe hatte einen Raum, der aussah wie die Flasche der bezaubernden Jeannie. Wieder andere hatten bunt bemalte Wände, Plüschsofas oder Zimmerpflanzen in ihren Räumen. Es gibt auch Menschen, die lieber mit einem inneren Garten arbeiten. Ich gehe auch schon mal in einen inneren Garten, finde es aber schwieriger, in ihm den Überblick zu behalten. Ich nutze den Garten deshalb eher für Erholungszwecke und um die Gedanken schweifen zu lassen, nicht so sehr für konzentrierte innere Arbeit. In einen inneren Garten passt eine Hängematte ganz wunderbar!
Was fange ich mit dem inneren Raum an?
Du kannst den Raum nutzen, um dich auszuruhen. Du entscheidest selbst, was sich in deinem Raum befindet; du kannst also z. B. eine Badewanne mit heilendem Wasser hineinstellen und dich in Gedanken in das angenehm warme Wasser gleiten lassen, wenn du dich angespannt oder verletzt fühlst. Du kannst auf deinem inneren Sofa abhängen und die Gedanken treiben lassen – selbst wenn du äußerlich gerade in einer wenig ansprechenden Umgebung wie einem Flughafen oder einem Wartezimmer bist. Vielleicht läufst du ja auch barfuß über die Wiese in deinem inneren Garten und lässt die Anspannung des Tages los. Oder du ziehst dich in deinen inneren Raum zurück, wenn du dir in Ruhe Gedanken über eine Entscheidung machen oder ein kniffliges Problem lösen möchtest. Der gedankliche Ortswechsel hilft oft dabei, eine neue Sicht auf ein Problem zu finden. So würde ich an deiner Stelle die Arbeit mit inneren Räumen beginnen.
Es gibt aber auch noch eine Version für Fortgeschrittene: Du kannst den Raum nutzen, um zu erkennen, ob du fremde Probleme mit dir herumschleppst, und um Belastungen loszuwerden. In den inneren Raum gehört nämlich nur, was du selbst darin haben willst. Befinden sich Gegenstände darin, die du nicht hineingestellt hast, könnte es sein, dass du eine Last von anderen übernommen hast. Manchmal werden uns solche Lasten aufgedrückt, manchmal greifen wir auch bereitwillig selbst zu und nehmen Angelegenheiten anderer Leute an uns. Mein innerer Raum ist so schlicht, weil ich dann sofort sehe, was nicht hineingehört. Befinden sich fremde Gegenstände in meinem Raum, weiß ich, dass ich ein Problem von jemandem übernommen habe oder jemand etwas bei mir abgeladen hat (beides geht sowohl bei der Arbeit mit Klient:innen, für die wir uns verantwortlich fühlen, als auch im Kontakt mit Familienangehörigen und Partner:innen sehr schnell). Der innere Raum ist also eine Möglichkeit, in Bereiche unseres Bewusstseins zu schauen, die uns sonst nicht unmittelbar zugänglich sind. Wie eine Art Sprachmittlung für das Unter- oder Unbewusste (oder das, was wir zwar schon irgendwie wissen, aber nicht so richtig wahrhaben wollen). Meist weiß ich sofort, woher der fremde Kram kommt, und räume alles, was nicht in meinen Raum gehört, vor die Tür (für den Bereich vor der Tür bin ich nicht zuständig, die Dinge verschwinden von dort einfach).
Manchmal funktioniert das auch mit Angelegenheiten, die tatsächlich mir gehören. Ab und zu kreisen meine Gedanken um Probleme, die zwar nur ich lösen kann, aber nicht in diesem Moment (z. B. weil dazu Informationen nötig sind, die ich gerade noch nicht bekommen kann). Ich stelle Dinge, die mich belasten, die ich aber zumindest zum gegebenen Zeitpunkt nicht aktiv ändern kann, mal probeweise vor die Tür. In vielen Fällen klappt das und ich kann die Sache vorübergehend ruhen lassen und meine Aufmerksamkeit anderen Dingen zuwenden. Meistens spüre ich dadurch sofort Entlastung. Ordnung schaffen tut gut, innen wie außen.
Kann ich damit irgendwas falsch machen?
Mir wäre nichts bekannt. Immerhin ist es nur ein gedanklicher Raum, dir fällt also kein realer Kronleuchter auf den Kopf, wenn mal die Wände wackeln. Und jede Situation, die dir bei irgendeiner Form von Visualisierungsübung unangenehm ist, kannst du sofort unterbrechen, indem du die Augen öffnest und mit deiner Aufmerksamkeit wieder ins Außen gehst.
Meditation für Skeptiker:innen
Bian Sukrow
Meditation, das klang für mich früher gewichtig und zugleich abgehoben. Meditation kam in meiner Kindheit vor allem in kitschigen, klischeetriefenden Samurai-Filmen vor, die offensichtlich von Regisseur:innen gedreht worden waren, die schon einmal mit Stäbchen gegessen hatten und sich nun für Expert:innen für „die“ asiatische Kultur hielten. Die Held:innen balancierten mit verknoteten Beinen auf einem Holzpfosten und tauchten nach mindestens zwölf Stunden (die dankenswerterweise im Film gerafft dargestellt wurden) mit der Erkenntnis zur Weltrettung wieder aus ihrer inneren Klausur auf. Später wurde das Meditieren dann zum Trend unter wichtigen Leuten aus Wirtschaft und Gesellschaft, mit denen ich mich selten identifizieren konnte. Männer in Führungspositionen erzählten in Talk-Shows, wie sie ihre Leistung durch das Meditieren verbessert hatten: Sie konnten sich jetzt noch besser konzentrieren, noch bessere Entscheidungen treffen und hatten noch mehr Erfolg. Die Einladung in die Talk Show bewies es! Das Störgefühl, dass die Talk-Show-Gäste in mir auslösten, färbte gleichzeitig auf das Meditieren an sich ab.
Dabei kann das Meditieren ein selbstverständlicher Bestandteil des Tagesablaufs sein, wie Tee kochen oder Nachrichten lesen. Ganz unspektakulär. Ich habe vor etwa zehn Jahren nämlich doch mit dem Meditieren begonnen, nachdem ich die ersten 69 Seiten von Full catastrophe living
Ich habe in den ersten Jahren nicht jeden Tag meditiert, sondern immer dann, wenn ich das Gefühl hatte, nicht zur Ruhe kommen zu können. Gedankenkreisen, innere Unruhe und Ohnmachtsgefühle bekomme ich damit meistens ganz gut in den Griff. Die Ursachen für meine Sorgen sind natürlich nach der Meditation nicht weg, ich kann die Situation aber anders bewerten, weil ich mich emotional ein wenig distanziert habe – meistens sowohl vom Problem als auch von mir selbst. Inzwischen meditiere ich jeden Tag (egal, ob ich gestresst bin oder nicht). Nur ein bisschen, manchmal nur ein paar Minuten. Das hilft mir, meine Gedanken zu sortieren. Ich meditiere normalerweise abends, bevor ich schlafen gehe, ich kenne aber viele andere Menschen, die lieber morgens meditieren.
Full catastrophe living war schon deshalb für mich ein guter Einstieg, weil Kabat-Zinn kein spirituelles Commitment von seinen Leser:innen erwartet. Kabat-Zinn ist Mediziner und hat sein Meditationsprogramm vor allem für Schmerzpatient:innen entwickelt. Der Ansatz ist also auf gewisse Weise pragmatisch, seine Wirksamkeit ist belegt, das half mir über meine Widerstände hinweg. Vielleicht auch ein Einstieg für dich? (Denn wenn du längst meditieren würdest, würdest du das hier vermutlich nicht lesen.)
Vor einiger Zeit habe ich auch mein Meditationsspektrum etwas erweitert. Ich hatte mit meiner liebsten Freundin, die Kundalini-Yoga-Lehrerin ist, über ein Problem gesprochen, auf dem ich herumkaute. Sie fragte, ob ich es nicht einmal mit einer spezielleren Meditation versuchen wolle, und gab mir eine Anleitung. Was soll ich sagen? Es hat funktioniert.