Jens Gerlach Öffentliches Baurecht (Hessen): Übungsfälle Licensed under CC-BY-4.0

Übungsfall 4: Bistro mit Anbau

Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz nach §§ 80, 80a VwGO, formelle Rechtmäßigkeit der Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit, Beseitigungsverfügung, Anforderungen an das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit, Zulässigkeit der Fortsetzungsfeststellungsklage bei Erledigung des Verwaltungsakts vor Klageerhebung

Sachverhalt

B ist Eigentümer eines Grundstücks in der X-Straße in Gießen. Im Erdgeschoss des mehrgeschossigen Gebäudes betreibt er seit mehreren Jahren ein Bistro mit entsprechender Baugenehmigung. Anfang 2022 errichtet B an der rückwärtigen Gebäudeseite im Innenhof einen eingeschossigen Anbau mit einer Fläche von etwa 15 m² und Pultdacht, den er als Raucherbereich des Bistros benutzt. Dieser Anbau ist von der Baugenehmigung nicht gedeckt.

Nachbar N ist Eigentümer einer Erdgeschosswohnung in der Y-Straße. Das Gebäude liegt auf der anderen Seite des Innenhofs. Den N ärgert das Bistro schon lange, da er sehr empfindlich auf die Geräusche und Gerüche reagiert. Durch den Anbau ist das Bistro nun noch näher an die Wohnung des N herangerückt. Da N daran zweifelt, dass der Anbau bauordnungsrechtlichen Anforderungen genügt, informiert N den Magistrat der Stadt Gießen im August 2022 über den Anbau und beantragt, gegenüber B die Beseitigung des Anbaus zu verfügen.

Der Magistrat lässt den Anbau überprüfen, kündigt B seine Absicht an, die Beseitigung des Anbaus zu verfügen, und gibt B Gelegenheit zur Stellungnahme. Mit Schreiben vom 26. August 2022 ordnet er gegenüber B unter Androhung der Ersatzvornahme die Beseitigung des Anbaus innerhalb von 14 Tagen nach Bekanntgabe der Verfügung an. Der Magistrat begründet diese Entscheidung wie folgt (alles zutreffend): Der Anbau sei nicht genehmigt und verstoße gegen die bauordnungsrechtlichen Vorschriften über Abstandsflächen zum Gebäude in der Y-Straße auf der anderen Seite des Innenhofs sowie über den Brandschutz und die Brandwände. Er könne baulich auch nicht dahingehend verändert werden, dass diese Vorschriften eingehalten würden. Werde der Anbau weiterhin als Aufenthaltsraum genutzt, sei nicht auszuschließen, dass im Brandfall auch Gäste oder Nachbarn zu Schaden kämen.

B erhebt am 29. August 2022 Widerspruch gegen die Verfügung, der vom Magistrat mit Widerspruchsbescheid vom 6. September zurückgewiesen wird. Am 9. September erhebt B daher beim Verwaltungsgericht Gießen Klage gegen die Stadt Gießen mit dem Ziel, die Verfügung aus der Welt zu schaffen.

Nach einem längeren Urlaub stellt N Ende Oktober N verwundert fest, dass B den Anbau weiterhin nutzt und nicht etwa beseitigt hat. Auf seine Rückfrage hin verweist der Magistrat auf das laufende Gerichtsverfahren. Das will N nicht hinnehmen und beantragt beim Magistrat, die sofortige Vollziehbarkeit der Verfügung vom 26. August 2022 anzuordnen. Ohne mit B noch einmal Kontakt aufzunehmen, ordnet der Magistrat am 8. November 2022 gegenüber dem B die sofortige Vollziehbarkeit der Verfügung vom 26. August 2022 an und begründet das mit einem „besonderen öffentlichen Interesse“.

Am 9. November 2022 stellt B beim Verwaltungsgericht Gießen den Antrag, die aufschiebende Wirkung seines Hauptsacherechtsbehelfs herzustellen. Er verstehe nicht, wieso mit der Vollziehung der Beseitigungsverfügung nicht bis zum Ende des Hauptsacheverfahrens gewartet werden könne, innerhalb dessen die Rechtmäßigkeit der Verfügung überprüft werde. Die Beseitigung des Anbaus sei nicht ohne erhebliche Substanzverluste möglich, die nicht rückgängig zu machen seien, selbst, wenn B mit seiner Klage Erfolg hätte. Für die Dauer des Hauptsacheverfahrens kämen jedenfalls mildere, substanzschonende Maßnahmen in Betracht. Außerdem sei auch kaum wahrscheinlich, dass jemand seinen Anbau nachahme.

Hat der Antrag des B vom 9. November 2022 Aussicht auf Erfolg?

Fallvariante: B erhebt keinen Widerspruch und stellt auch nicht den Antrag vom 9. November 2022, sondern kommt der Beseitigungsverfügung vom 26. August 2022 schon innerhalb der 14tägigen Frist nach, da er Vollstreckungsmaßnahmen fürchtet. Nach der Beseitigung des Anbaus reut ihn seine Entscheidung aber und er plant, den Anbau an gleicher Stelle und in gleicher Bauweise wieder zu errichten. Damit ihm nicht erneut eine Beseitigungsverfügung droht und um gegebenenfalls die Kosten für die Beseitigung von der Stadt Gießen ersetzt verlangen zu können, will B eine gerichtliche Klärung dahingehend, dass die Beseitigungsverfügung vom 26. August 2022 rechtswidrig war. Er erhebt mit diesem Ziel am 30. September 2022 eine Klage gegen die Stadt Gießen. Ist diese Klage zulässig?

Lösungsvorschlag Ausgangsfall

Der Antrag des B vom 9. November 2022 hat Aussicht auf Erfolg, soweit er zulässig und begründet ist.

Zulässigkeit

Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs

Mangels aufdrängender Sonderzuweisung richtet sich die Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs nach § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO. Der Streit um die Aufhebung der Beseitigungsverfügung richtet sich nach Normen des öffentlichen Baurechts, das ausschließlich einen Träger öffentlicher Gewalt als solchen berechtigt und verpflichtet und damit nach der Sonderrechtslehre (modifizierten Subjektstheorie) dem öffentlichen Recht angehört. Es handelt sich daher um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit. Da nicht Verfassungsorgane um Verfassungsrecht streiten, ist die Streitigkeit auch nichtverfassungsrechtlicher Natur. Eine abdrängende Sonderzuweisung ist nicht ersichtlich. Somit ist der Verwaltungsrechtsweg eröffnet.

Statthafte Rechtsschutzform

Die statthafte Rechtsschutzform richtet sich nach dem Begehren des Rechtsschutzsuchenden (vgl. §§ 88, 122 Abs. 1 VwGO). B hat beantragt, „die aufschiebende Wirkung seines Hauptsacherechtsbehelfs anzuordnen“. Dieser Antrag ist angesichts des Wortlauts und des schon laufenden Klageverfahrens ersichtlich auf einstweiligen Rechtsschutz gerichtet. Für den einstweiligen Rechtsschutz hält die VwGO (neben dem ersichtlich nicht einschlägigen § 47 Abs. 6 VwGO) einerseits Anträge nach §§ 80, 80a VwGO sowie andererseits nach § 123 Abs. 1 VwGO bereit. Zu prüfen ist, welcher konkrete Antrag statthaft ist.

Abgrenzung der Anträge nach §§ 80, 80a und § 123 Abs. 1 VwGO

Zunächst ist das einstweilige Rechtsschutzverfahren nach §§ 80, 80a VwGO von dem nach § 123 Abs. 1 VwGO abzugrenzen. Nach § 123 Abs. 5 VwGO gehen Verfahren nach §§ 80, 80a VwGO einem Verfahren nach § 123 Abs. 1 VwGO vor. Anträge nach §§ 80 Abs. 5 S. 1 und 80a Abs. 3 VwGO zeichnen sich dadurch aus, dass der gerichtliche Rechtsschutz in der Anordnung oder Aufhebung der sofortigen Vollziehbarkeit eines für einen Beteiligten belastenden Verwaltungsakts bzw. umgekehrt in der Herstellung oder Aufhebung der aufschiebenden Wirkung eines Hauptsacherechtsbehelfs gegen diesen Verwaltungsakt besteht. In einem Verfahren nach §§ 80, 80a VwGO wird also stets um die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs gegen einen Verwaltungsakt gestritten. Zu prüfen ist damit, ob das Rechtsschutzbegehren des B darin liegt, die aufschiebende Wirkung seines Hauptsacherechtsbehelfs herzustellen.

Vertiefungshinweis zur Abgrenzung der Anträge

Gängig ist die Abgrenzungsformel, wonach ein Antrag nach §§ 80, 80a VwGO dann statthaft sei, wenn in der Hauptsache eine Anfechtungsklage statthaft ist. Mehr als eine „grobe Faustformel“ ist diese Abgrenzungsformel nicht.Schoch, in: Ehlers/Schoch (Hrsg.), Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, 2021, § 34 Rn. 91 und § 30 Rn. 13. Denn wenn etwa in den Fällen des § 80a Abs. 3 S. 1, Abs. 1 Nr. 1 VwGO der begünstigte Adressat der Baugenehmigung einen Antrag auf Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit stellt, ist aus seiner Sicht im Hauptsacheverfahren keine Anfechtungsklage statthaft (natürlich aber aus der Sicht des belasteten Nachbarn/Dritten). Richtig und präzise ist es daher, deutlich zu machen, dass nach §§ 80, 80a VwGO um die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs gegen einen Verwaltungsakt gestritten wird.

B hat am 29. August 2022 Widerspruch gegen die Beseitigungsverfügung vom 26. August 2022 erhoben. Bei dieser Beseitigungsverfügung handelt es sich um einen Verwaltungsakt im Sinne des § 35 S. 1 HVwVfG. Da § 212a Abs. 1 BauGB nur die bauaufsichtliche Zulassung eines Vorhabens und damit Baugenehmigungen erfasst, entfiel die aufschiebende Wirkung nicht kraft Gesetzes nach § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 VwGO i.Vm. § 212a Abs. 1 BauGB. Stattdessen hatte die Erhebung des Widerspruchs nach § 80 Abs. 1 S. 1 und S. 2 VwGO aufschiebende Wirkung. Nach Zurückweisung des Widerspruchs mit Widerspruchsbescheid vom 6. September 2022 hat B Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 Alt. 2 VwGO) gegen die Beseitigungsverfügung erhoben. Diese Klageerhebung wirkte weiter aufschiebend (vgl. auch § 80b Abs. 1 S. 1 VwGO).

Vertiefungshinweis zur aufschiebenden Wirkung

Ungeachtet der Frage, ob die aufschiebende Wirkung die Wirksamkeit oder nur die Vollziehbarkeit des Verwaltungsakts betrifft, ist unstreitig, dass der Adressat der an ihn gerichteten Verfügung so lange nicht nachkommen muss, wie die aufschiebende Wirkung besteht.Lehrreich hierzu Schoch, in: Ehlers/Schoch (Hrsg.), Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, 2021, § 34 Rn. 33 f. Die aufschiebende Wirkung beginnt mit der Erhebung von Widerspruch oder Anfechtungsklage (§ 80 Abs. 1 S. 1 VwGO) und endet spätestens mit der Unanfechtbarkeit oder mit Ablauf der Rechtsmittelbegründungsfrist (§ 80b Abs. 1 S. 1 VwGO). Darum durfte B sich hier einstweilen zurücklehnen und den Gang des Hauptsacheverfahrens abwarten.

Allerdings hat der Magistrat der Stadt Gießen am 8. November 2022 gegenüber dem B die sofortige Vollziehbarkeit der Verfügung vom 26. August 2022 angeordnet. Damit ist die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage des B nach § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO entfallen. Das Begehren des B besteht nunmehr darin, diese aufschiebende Wirkung herzustellen.

Damit ist das einstweilige Rechtsschutzverfahren nach §§ 80, 80a VwGO statthaft.

Ermittlung des konkreten Antrags nach §§ 80, 80a VwGO

Ferner ist zu ermitteln, welcher Antrag nach §§ 80, 80a VwGO konkret statthaft ist. Die Beseitigungsverfügung belastet ihren Adressaten B und begünstigt rechtlich den Nachbarn N dadurch, dass sie darauf gerichtet ist, seine Gesundheit und damit ein rechtlich geschütztes Rechtsgut (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) zu schützen. Es handelt sich bei der Beseitigungsverfügung somit um einen Verwaltungsakt mit Doppelwirkung im Sinne von § 80a VwGO.

Gerichtliche Anträge richten sich bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung nach § 80a Abs. 3 VwGO. Nach § 80a Abs. 3 S. 1 VwGO kann das Gericht Maßnahmen nach den Absätzen 1 und 2 ändern oder aufheben oder solche Maßnahmen treffen. § 80a Abs. 2 VwGO betrifft Fälle, in denen ein Betroffener einen Rechtsbehelf gegen den an ihn gerichteten, ihn belastenden Verwaltungsakt erhebt. Die Beseitigungsverfügung ist an B gerichtet und belastet B. B hat auch mit Widerspruch und Anfechtungsklage Rechtsbehelfe gegen diese Beseitigungsverfügung erhoben. Auf Antrag des N, der im Sinne der Vorschrift Dritter ist, hat der Magistrat am 8. November 2022 nach § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO die sofortige Vollziehbarkeit angeordnet. Das Begehren des B ist nun auf eine gerichtliche Aufhebung dieser behördlichen Maßnahme nach § 80a Abs. 2 VwGO gerichtet, wozu das Gericht nach § 80a Abs. 3 S. 1 VwGO berechtigt ist.

Vertiefungshinweis zur Binnensystematik des § 80a VwGO

Da in der Klausur in der Regel ein Antrag bei Gericht zu prüfen ist, lässt sich grundsätzlich an § 80a Abs. 3 S. 1 VwGO anknüpfen. Für die Unterscheidung, ob es um eine Maßnahme nach Abs. 1 oder Abs. 2 geht, ist maßgeblich, wer sich im Hauptsacheverfahren gegen den Verwaltungsakt wendet. Ist der Widerspruchsführer bzw. Anfechtungskläger der Adressat des Verwaltungsakts, ist Abs. 2 einschlägig („Legt ein Betroffener gegen einen an ihn gerichteten Verwaltungsakt …“). Ist der Widerspruchsführer bzw. Anfechtungskläger demgegenüber nicht Adressat, sondern Dritter, ist Abs. 1 einschlägig („Legt ein Dritter einen Rechtsbehelf gegen den an einen anderen gerichteten […] Verwaltungsakt …“). Innerhalb des § 80a Abs. 1 VwGO unterscheiden die beiden Nummern danach, ob der begünstigte Adressat (Nr. 1) oder der Dritte (Nr. 2) den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz stellt. § 80a Abs. 2 VwGO kennt nur einen Antrag des Dritten, obwohl auch der belastete Adressat ein Bedürfnis haben kann, nämlich nach Aussetzung der sofortigen Vollziehbarkeit. Als gerichtlicher Antrag lässt sich dieser Antrag allerdings über § 80a Abs. 3 S. 2 i.V.m. § 80 Abs. 5 S. 1 Alt. 1 oder 2 VwGO herleiten.

Zwischenergebnis

Statthaft ist damit ein Antrag des B auf gerichtliche Aufhebung der behördlichen Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit nach § 80a Abs. 3 S. 1, Abs. 2 VwGO.

Antragsbefugnis

Eilrechtsschutz soll nur derjenige beantragen können, der auch ein Hauptsacheverfahren einleiten kann. Analog § 42 Abs. 2 VwGO muss B folglich geltend machen, durch die Beseitigungsverfügung in seinen Rechten verletzt zu sein. Eine solche Rechtsverletzung muss zumindest möglich, das heißt nicht offenkundig ausgeschlossen sein.

Nach Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG werden Inhalt und Schranken des Eigentums durch die Gesetze bestimmt. Daher kann sich B jedenfalls nicht ohne weiteres verfassungsunmittelbar auf Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG berufen.Vgl. Kaiser, in: Ehlers/Fehling/Pünder (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht II, 4. Aufl. 2020, § 41 Rn. 173. Stattdessen ist im einfachen Gesetzesrecht auf Vorschriften zurückzugreifen, die ein subjektiv-öffentliches Recht begründen. Unter anderem die Bestimmungen über repressive Maßnahmen der Bauaufsicht stellen einfachgesetzliche Inhalts- und Schrankenbestimmungen dar, die Rechte und Pflichten der Beteiligten begründen. Das Recht der Bauaufsichtsbehörde, unter den Voraussetzungen des § 82 Abs. 1 S. 1 HBO eine Beseitigungsverfügung zu erlassen, geht mit einer Pflicht des Betroffenen einher, solche Maßnahmen zu dulden. Umgekehrt spiegelt sich in der Pflicht der Bauaufsichtsbehörde, Beseitigungsverfügungen zu unterlassen, wenn die Voraussetzungen des § 82 Abs. 1 S. 1 HBO nicht vorliegen, das Recht des Betroffenen wider, nicht mit solchen rechtswidrigen Beseitigungsverfügungen belegt zu werden. B kann sich damit auf ein einfaches Recht aus § 82 Abs. 1 S. 1 HBO berufen.

Die Rechtswidrigkeit der Beseitigungsverfügung erscheint nicht offenkundig ausgeschlossen und damit zumindest möglich. B ist folglich antragsbefugt.

Richtiger Antragsgegner

B hat den Antrag analog § 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO zurecht gegen die Stadt Gießen als Rechtsträgerin des Magistrats gerichtet, der die sofortige Vollziehbarkeit angeordnet hat.

Beteiligungs- und Prozessfähigkeit

Der Antragssteller B ist als natürliche und nach dem bürgerlichen Recht geschäftsfähige Person (§§ 2, 104 ff. BGB) nach § 61 Nr. 1 Var. 1 VwGO beteiligungsfähig und nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 VwGO prozessfähig. Die Antragsgegnerin, die Stadt Gießen, ist als juristische Person (§ 1 Abs. 2 HGO) nach § 61 Nr. 1 Var. 2 VwGO beteiligungsfähig und lässt sich im Prozess nach § 62 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 71 Abs. 1 S. 1 HGO durch den Magistrat vertreten.

Zuständigkeit des Gerichts

Gemäß § 80a Abs. 3 S. 2 i.V.m. § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO ist das Gericht der Hauptsache für die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes zuständig. Gericht der Hauptsache ist hier gemäß §§ 45, 52 Nr. 1 VwGO i.V.m. § 1 Abs. 2 Nr. 3 HessAGVwGO das Verwaltungsgericht Gießen.

Rechtsschutzbedürfnis

Dem B fehlt es am Rechtsschutzbedürfnis, wenn eine stattgebende Entscheidung des Gerichts seine rechtliche Stellung nicht verbessern kann oder er auf andere Weise einfacher und schneller zu seinem Ziel kommt.

Notwendigkeit eines vorherigen behördlichen Aussetzungsverfahrens

Möglicherweise fehlt B das Rechtsschutzbedürfnis, weil er nicht zunächst einen behördlichen Antrag bei der Stadt Gießen selbst gestellt hat mit dem Ziel, die sofortige Vollziehbarkeit der Beseitigungsverfügung wieder auszusetzen, das heißt die aufschiebende Wirkung seines Hauptsacherechtsbehelfs wiederherzustellen. Ein solcher Antrag ist nach § 80 Abs. 4 S. 1 VwGO möglich und nach § 80 Abs. 6 S. 1 VwGO notwendig, auf den § 80a Abs. 3 S. 2 VwGO für Anträge nach § 80a Abs. 3 S. 1, Abs. 2 VwGO verweist. Handelt es sich bei dem Verweis auf § 80 Abs. 6 VwGO um eine Rechtsfolgenverweisung, ist ein solcher Aussetzungsantrag nicht nur in den von § 80 Abs. 6 S. 1 VwGO genannten Fällen des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VwGO, also bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten geboten, sondern auch im vorliegenden Fall. Anderes gilt, wenn man den Verweis als Rechtsgrundverweisung versteht.

Gegen das Verständnis als Rechtsgrundverweisung spricht, dass Kosten- und Abgabenbescheide regelmäßig keine Verwaltungsakte mit Drittwirkung sind, sodass eine Rechtsgrundverweisung auf § 80 Abs. 6 VwGO ins Leere liefe. Folge eines Verständnisses als Rechtsfolgenverweisung wäre allerdings, dass ein Aussetzungsantrag auch in dem hier vorliegenden Fall des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO erforderlich wäre, wo er wenig Sinn ergibt, weil sich die Behörde bereits mit der Frage der sofortigen Vollziehbarkeit auseinandergesetzt hat. Hinzu kommt, dass sich die Behörde auch bei einem sofortigen gerichtlichen Antrag vor der Kostenlast schützen kann, wenn sie analog § 156 VwGO die Begründetheit des Antrags sofort anerkennt. Damit sprechen die besseren Argumente für ein Verständnis als Rechtsgrundverweisung, was einen vorherigen Aussetzungsantrag entbehrlich macht.Schoch, in: Ehlers/Schoch (Hrsg.), Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, 2021, § 34 Rn. 123.

Im Übrigen ist nach § 80 Abs. 6 S. 2 Nr. 2 VwGO ein Aussetzungsantrag jedenfalls dann nicht erforderlich, wenn eine Vollstreckung des Verwaltungsaktes droht. Die Beseitigungsverfügung ist gegenwärtig sofort vollziehbar und der Magistrat der Stadt Gießen hat bereits die Ersatzvornahme im Bescheid angedroht. Damit droht die Vollstreckung.

B musste damit nicht vorher erfolglos einen behördlichen Aussetzungsantrag stellen.

Mindestens gleichzeitige Erhebung eines Hauptsacherechtsbehelfs

Auf die Frage, ob B mindestens gleichzeitig mit dem Antrag nach § 80a Abs. 3 S. 1, Abs. 2 VwGO einen Hauptsacherechtsbehelf erheben muss, kommt es angesichts des bereits erhobenen Widerspruchs und der Anfechtungsklage des B nicht an.

Keine offensichtliche Unzulässigkeit des Hauptsacherechtsbehelfs

Da jedenfalls nur ein nicht offensichtlich unzulässiger Hauptsacherechtsbehelf aufschiebende Wirkung auslösen kann, entfällt das Rechtsschutzbedürfnis für einen Antrag nach § 80a Abs. 3 S. 1, Abs. 2 VwGO dann, wenn der von B erhobene Hauptsacherechtsbehelf offensichtlich unzulässig ist. Allerdings wurde das nach § 68 Abs. 1 S. 1 VwGO erforderliche Vorverfahren ordnungsgemäß und erfolglos durchgeführt und B hat auch die einmonatige Klagefrist ab Zustellung des Widerspruchsbescheids (§ 74 Abs. 1 S. 1 VwGO) unzweifelhaft eingehalten. Zweifel an der Zulässigkeit des Hauptsacherechtsbehelfs bestehen somit nicht. Das Rechtsschutzbedürfnis entfällt auch mit Hinblick darauf nicht.

Zwischenergebnis

Der Antrag des B ist zulässig.

Prüfung der Beiladung unter B.?

Analog § 65 Abs. 2 VwGO ist N notwendig beizuladen, weil die begehrte Entscheidung – Aussetzung der sofortigen Vollziehbarkeit der Baugenehmigung – so gegenüber N und B nur einheitlich ergehen kann. Häufig wird vorgeschlagen, die Beiladung unter B. zwischen Zulässigkeit und Begründetheit des Rechtsbehelfs zu prüfen.Zum Beispiel bei Will, in: Gornig/Horn/Will, Öffentliches Recht in Hessen, 2. Aufl. 2022, 3. Teil Öffentliches Baurecht § 5 Rn. 643. Logisch und sinnvoll ist das nicht. Die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs, nach denen allein gefragt ist, hängen nicht davon ab, ob das Gericht den N entsprechend der Verpflichtung aus § 65 Abs. 2 VwGO beilädt. Entscheidend ist allein, inwieweit der Rechtsbehelf zulässig und begründet ist. Daher lautet der Obersatz der Prüfung so, wie er lautet, und sind in der Folge auch nur diese beiden Voraussetzungen – Zulässigkeit und Begründetheit – im Gutachten zu prüfen. In einer Examensklausur dürfte es dennoch ratsam sein, die Beiladung unter B. zu prüfen für den Fall, dass die Beiladung in der Lösungsskizze der Examensklausur auftaucht.

Begründetheit

Der Maßstab der Begründetheit eines Antrags auf Aufhebung der Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit nach § 80a Abs. 3 S. 1, Abs. 2 VwGO lässt sich dem Gesetz nicht ausdrücklich entnehmen. Er ergibt sich aber aus der Gesamtsystematik der §§ 80, 80a VwGO, insbesondere den Vorschriften des § 80 Abs. 3 S. 1 VwGO (hinsichtlich der formellen Anforderungen an die behördliche Anordnung) und des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO (hinsichtlich der dort geforderten Interessenabwägung). Der Antrag auf Aufhebung der Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit ist demnach jedenfalls dann begründet, wenn die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit formell nicht rechtmäßig ist. Zudem hat das Gericht eine eigene Ermessensentscheidung zu treffen, innerhalb deren es das Interesse des B an der Aufhebung der Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit mit dem öffentlichen Interesse und dem Interesse des N an der sofortigen Vollziehbarkeit der Beseitigungsverfügung abwägt. Da die aufschiebende Wirkung des Hauptsacherechtsbehelfs gegen die Beseitigungsverfügung nach § 80 Abs. 1 S. 1 VwGO der gesetzliche Regelfall ist, von dem die Behörde abgewichen ist, ist der Antrag des B schon dann begründet, wenn das Vollziehungsinteresse das Aussetzungsinteresse des B nicht überwiegt. Bei der Interessenabwägung haben die Erfolgsaussichten in der Hauptsache – wie sich aus dem verallgemeinerungsfähigen Gedanken in § 80 Abs. 4 S. 3 VwGO und dem funktionalen Bezug des einstweiligen Rechtsschutzes zum Hauptsacheverfahren folgern lässt – entscheidendes Gewicht. Diese sind in tatsächlicher Hinsicht summarisch, in rechtlicher Hinsicht umfassend zu prüfen. Da an der sofortigen Vollziehbarkeit eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes wegen der Gesetzbindung der Verwaltung (Art. 20 Abs. 3 GG) kein öffentliches Interesse bestehen kann und das Interesse des N insoweit nicht schutzwürdig ist, überwiegt das Aussetzungsinteresse des B jedenfalls insoweit, als der Verwaltungsakt (offensichtlich) rechtswidrig ist. Bei einem rechtmäßigen Verwaltungsakt ist der Antrag demgegenüber begründet, soweit es an dem für die Begründung des Ausnahmefalls (behördliche Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit) erforderlichen besonderen Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit (vgl. § 80 Abs. 3 S. 1 VwGO) fehlt.

Klausurhinweis zum Obersatz der Begründetheit des Antrags

Der Obersatz wird hier sehr ausführlich aus der gesetzlichen Systematik hergeleitet. Diese Ausführlichkeit wird in Klausuren nicht vorausgesetzt, aber sehr positiv ins Gewicht fallen, gerade weil sich der Obersatz nicht ohne weiteres aus dem Gesetz ergibt. Der Hinweis auf die Folgenabwägung am Ende des Obersatzes kann allerdings in Klausuren unterbleiben. Zu einer solchen Abwägung wird es in der Prüfung nicht kommen, da sich die Erfolgsaussichten des Hauptsacherechtsbehelfs anhand des Sachverhalts immer beurteilen lassen werden.

Der Obersatz hier unterscheidet sich von dem in Übungsfall 2: Laute Kfz-Werkstatt gebildeten Obersatz in zweierlei Hinsicht. Zum einen verweist der Obersatz auf die Prüfung der formellen Rechtmäßigkeit der behördlichen Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit, die sogleich unter I. zu prüfen ist. Diese Prüfung kommt in Übungsfall 2 nicht vor, weil dort die aufschiebende Wirkung schon kraft Gesetzes entfällt (§ 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 212a Abs. 1 BauGB) und damit keine behördliche Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit im Raum steht. Zum anderen heißt es in Übungsfall 2, für die Begründetheit müsse das Aussetzungsinteresse des Antragsstellers überwiegen, während es hier ausreicht, dass das Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit nicht überwiegt. Der Unterschied zeigt sich in theoretischen Fällen, in denen die Interessen gleich gewichtig sind: Dann ist der Antrag in Übungsfall 2 unbegründet (denn: kein Überwiegen des Aussetzungsinteresses), der Antrag hier begründet (denn: kein Überwiegen des Interesses an der sofortigen Vollziehbarkeit). Die sogenannte Abwägungslast ist also unterschiedlich verteilt. Das liegt wiederum daran, dass der Antragssteller in Übungsfall 2 vom gesetzlichen Regelfall der aufschiebenden Wirkung (§ 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 212a Abs. 1 BauGB) abweichen will, während der Antragssteller hier zum gesetzlichen Regelfall zurückkehren will.

Formelle Rechtsmäßigkeit der Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit

Zunächst ist somit zu prüfen, ob die behördliche Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit vom 8. November 2022 formell rechtmäßig ergangen ist.

Zuständigkeit

Zuständig für die Vollziehungsanordnung ist gemäß § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO die Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen hat oder die über den Widerspruch zu entscheiden hat. Hier hat der Magistrat die sofortige Vollziehung angeordnet, der auch die Beseitigungsverfügung an B gerichtet hat.

Verfahren

Der Magistrat hat die sofortige Vollziehbarkeit im November 2022 angeordnet, ohne mit B noch einmal Kontakt aufzunehmen. Eine Anhörung hat also nicht stattgefunden. Vor Erlass der Beseitigungsverfügung im August 2022 wurde B zwar angehört. Diese Anhörung bezog sich allerdings nur auf die zuvor mitgeteilte Absicht, die Beseitigungsverfügung zu erlassen, was sich daran zeigt, dass die Beseitigungsverfügung am 26. August 2022 zunächst nicht für sofort vollziehbar erklärt wurde. Gelegenheit zur Stellungnahme mit Blick auf die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit hatte B also nicht. Damit stellt sich die Frage, ob B gesondert Gelegenheit zur Stellungnahme mit Blick auf die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit gegeben werden musste.Zum Problem Pünder, in: Ehlers/Pünder (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 16. Aufl. 2022, § 14 Rn. 36; Schoch, in: Ehlers/Schoch (Hrsg.), Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, 2021, § 34 Rn. 68.

Anhörungserfordernis nach § 80 Abs. 2, Abs. 3 VwGO?

In § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 und Abs. 3 S. 1 VwGO ist kein Anhörungserfordernis normiert.

Anhörungserfordernis nach § 28 Abs. 1 HVwVfG?

Möglicherweise folgt das Anhörungserfordernis aber aus § 28 Abs. 1 HVwVfG. Dafür muss es sich bei der Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit um einen Verwaltungsakt im Sinne des § 35 S. 1 HVwVfG handeln.

Zweifelhaft ist allein das Merkmal der Regelungswirkung. Regelungswirkung erfordert, dass die Maßnahme darauf gerichtet ist, Rechtsfolgen zu setzen. Die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit bewirkt, dass die Behörde die Beseitigungsverfügung schon vor Bestandskraft vollstrecken darf (§ 2 Nr. 2 HVwVG) und B das entgegen § 80 Abs. 1 S. 1 VwGO auch mit einem Hauptsacherechtsbehelf nicht verhindern kann. Hierin liegt an sich eine Rechtsfolge. Allerdings setzt die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit keine materielle Rechtsfolge mit dem Ziel der Bestandskraft, sondern betrifft nur die Vollziehbarkeit der bereits gefassten oder abgegebenen behördlichen Willenserklärung. Da sich die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit inhaltlich ausschließlich auf die Beseitigungsverfügung bezieht, kann sie bei einer Aufhebung der Beseitigungsverfügung nicht eigenständig bestehen bleiben. Als bloßer verfahrensrechtlicher Annex zum Verwaltungsakt trifft sie damit keine Regelung im Sinne des § 35 S. 1 HVwVfG und stellt daher keinen Verwaltungsakt dar.BVerwGE 24, 92 (94); Schoch, in: Schoch/Schneider (Hrsg.), Verwaltungsrecht, 43. EL August 2022, § 80 VwGO Rn. 199.

Vertiefungshinweis zur fehlenden Eigenschaft als Verwaltungsakt

Systematisch könnte man außerdem einwenden, dass eine Einstufung der Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit als Verwaltungsakt dazu führen würde, dass man gegen die Vollziehungsanordnung auch mit Widerspruch und Anfechtungsklage gem. §§ 42 Abs. 1 Alt. 1, 68 ff. VwGO vorgehen könnte, was vom Gesetzgeber – wie die Regelung in § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO zeigt – nicht gewollt ist. Dem lässt sich wiederum entgegenhalten, dass § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO auch schlicht als speziellerer Rechtsbehelf gegen die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit angesehen werden könnte, der die allgemeinen Vorschriften über die Klagearten verdrängt.BVerwG, NVwZ-RR 1995, 299.

§ 28 Abs. 1 HVwVfG findet keine unmittelbare Anwendung.

Anhörungserfordernis analog § 28 Abs. 1 HVwVfG?

Denkbar ist eine analoge Anwendung von § 28 Abs. 1 HVwVfG. Eine Analogiebildung setzt eine planwidrige Regelungslücke und eine vergleichbare Interessenlage voraus.

Schon an der Vergleichbarkeit der Interessenlage lässt sich zweifeln: § 28 Abs. 1 HVwVfG dient in erster Linie der Sicherung des materiellen Rechts. Diese Funktion übernimmt die Anhörung vor Erlass des Verwaltungsakts. Die widerstreitenden Interessen an der sofortigen Vollziehbarkeit bzw. aufschiebenden Wirkung sind dagegen schon vorgeprägt, den Beteiligten also bei abstrakter Betrachtung klar. Zudem muss der Betroffene grundsätzlich damit rechnen, dass der Verwaltungsakt in dringenden Fällen mit einer Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit verbunden wird.Schoch, in: Ehlers/Schoch (Hrsg.), Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, 2021, § 34 Rn. 68. Das kann man allerdings anders sehen, wenn die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit nicht mit dem Verwaltungsakt verbunden wird, sondern erst später erfolgt. Dann lässt sich auch gut vertreten, ein Anhörungserfordernis ausnahmsweise aus rechtsstaatlichen Grundsätzen herzuleiten. So VGH Mannheim, BeckRS 2018, 7703 (Rn. 4). Noch strenger Pünder, in: Ehlers/Pünder (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 16. Aufl. 2022, § 14 Rn. 36.

Jedenfalls aber ist § 80 Abs. 3 VwGO mit Blick auf die formellen Anforderungen an die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit bewusst abschließend gedacht, sodass es an einer planwidrigen Regelungslücke fehlt.

Eine Analogie zu § 28 Abs. 1 HVwVfG scheidet damit aus.

Zwischenergebnis

B musste somit nicht gesondert Gelegenheit zur Stellungnahme mit Blick auf die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit gegeben werden.

Vertiefungshinweis zum Anhörungserfordernis

Eine andere Auffassung ist im Ergebnis gut vertretbar. Dann sollte in einem nächsten Schritt eine Analogie zu den Vorschriften über Heilung und Unbeachtlichkeit von Verfahrensfehlern in §§ 45, 46 HVwVfG diskutiert werden.

Form

Gemäß § 80 Abs. 3 S. 1 VwGO ist im Falle der Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit nach § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO das besondere Interesse an ihr schriftlich zu begründen. Notwendig ist eine auf die Umstände des konkreten Falles bezogene Darlegung des besonderen Interesses gerade an der sofortigen Vollziehbarkeit des Verwaltungsakts. Insbesondere eine bloß formelartige Wiederholung des Gesetzeswortlauts wird dem nicht gerecht.Schoch, in: Ehlers/Schoch (Hrsg.), Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, 2021, § 34 Rn. 69.

Hier hat der Magistrat die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit ausschließlich mit dem „besonderen öffentlichen Interesse“ begründet. Diese Begründung gibt nur formelhaft den Gesetzeswortlaut des § 80 Abs. 3 S. 1 VwGO und lässt jeglichen Einzelfallbezug vermissen. Sie genügt daher nicht den Anforderungen des § 80 Abs. 3 S. 1 VwGO.

Da es sich bei § 80 Abs. 3 S. 1 VwGO um eine abschließende Regelung handelt, kommt eine Analogie zu § 45 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 HVwVfG nicht in Betracht. Eine Heilung des Formfehlers durch Nachholung der Begründung scheidet damit aus.

Zwischenergebnis

Die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit ist damit formell rechtswidrig.

Klausurhinweis zur weiteren Prüfung

Trotzdem ist nachfolgend auch auf die Interessenabwägung einzugehen. Das liegt zum einen an den Anforderungen an ein juristisches Gutachten und den zu erwartenden Bearbeitungshinweis, dass auf alle aufgeworfenen Rechtsfragen einzugehen ist. Zum anderen aber nehmen auch die Gerichte die sogleich folgende Interessenabwägung trotzdem vor. Denn die Behörde kann, wenn die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit nur wegen der formellen Rechtswidrigkeit aufgehoben wird, eine solche Anordnung sogleich formell rechtmäßig wieder erlassen. Dann hat der Antragssteller nicht viel gewonnen. Anders ist das, wenn das Gericht auch die Interessen abwägt und aufgrund dessen die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit aufhebt bzw. die aufschiebende Wirkung des Hauptsacherechtsbehelfs wieder herstellt. Von dieser inhaltlichen Entscheidung kann die Behörde nicht abweichen, sondern muss dann – bei veränderten oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachten Umständen – einen gerichtlichen Antrag auf Änderung des Beschlusses nach § 80 Abs. 7 S. 1 VwGO beantragen.

Kein überwiegendes Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit

Erfolgsaussichten im Hauptsachenverfahren

B wird im Hauptsacheverfahren Erfolg haben, soweit seine Anfechtungsklage zulässig und begründet ist.

Zulässigkeit der Anfechtungsklage

An der Zulässigkeit der Anfechtungsklage bestehen keine Zweifel (siehe oben).

Begründetheit der Anfechtungsklage

Die Anfechtungsklage ist begründet, soweit die Beseitigungsverfügung rechtswidrig und B dadurch in seinen Rechten verletzt ist (vgl. § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO).

Rechtswidrigkeit der Beseitigungsverfügung

(1) Ermächtigungsgrundlage für die Beseitigungsverfügung

Der Vorbehalt des Gesetzes, der sich aus dem Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 2 GG) und dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) ableiten lässt und im Bereich der Grundrechtsausübung durch grundrechtliche Gesetzesvorbehalte konkretisiert wird, erfordert jedenfalls für belastendes Handeln der Verwaltung eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage. Die Beseitigungsverfügung erlegt dem B eine Handlungspflicht auf und ist damit belastend.

Bei dem Anbau handelt es sich um eine bauliche Anlage im Sinne von § 2 Abs. 2 S. 1 HBO, sodass die HBO anwendbar ist (§ 1 Abs. 1 S. 1 HBO). Ermächtigungsgrundlage für eine Beseitigungsverfügung ist damit § 82 Abs. 1 S. 1 HBO.

(2) Formelle Rechtswidrigkeit der Beseitigungsverfügung

Zuständig für den Erlass der Beseitigungsverfügung war der Magistrat (§ 9 Abs. 2 S. 2 HGO) der Sonderstatus-Stadt Gießen (§ 4a Abs. 2 S. 2 HGO) als untere Bauaufsichtsbehörde (§ 60 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Buchst. a), S. 3 HBO).

B wurde vor Erlass der Beseitigungsverfügung im Einklang mit § 28 Abs. 1 HVwVfG Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Die schriftliche Beseitigungsverfügung wurde gemäß § 39 Abs. 1 S. 1 HVwVfG ordnungsgemäß begründet.

Die Beseitigungsverfügung ist damit nicht formell rechtwidrig.

(3) Materielle Rechtswidrigkeit der Beseitigungsverfügung

Die Bauaufsichtsbehörde kann nach § 82 Abs. 1 S. 1 HBO die teilweise oder vollständige Beseitigung einer baulichen Anlage anordnen, wenn diese Anlage im Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften errichtet oder geändert wird und nicht auf andere Weise rechtmäßige Zustände hergestellt werden können.

Vertiefungshinweis zu den Voraussetzungen von § 82 Abs. 1 S. 1 HBO

In der Voraussetzung, dass es nicht möglich sein darf, auf andere Weise rechtmäßige Zustände herzustellen, äußeren sich die Gebote der Geeignetheit und Erforderlichkeit als Teile des Verhältnismäßigkeitsgebots.Hermes, in: Hermes/Reimer (Hrsg.), Landesrecht Hessen, 10. Aufl. 2022, § 6 Rn. 147. Da diese Anforderung ausdrücklich in der Norm aufgeführt ist, empfiehlt es sich, sie als tatbestandliche Voraussetzung und nicht als Grenze des Ermessens zu prüfen. Bei der sich anschließenden Prüfung der Ermessensfehler ist mit Blick auf die Verhältnismäßigkeit als Grenze des Ermessens nur noch die Angemessenheit aufzugreifen.

(a) Tatbestandsvoraussetzungen

B hat den Anbau errichtet, obwohl der Anbau gegen die bauordnungsrechtlichen Vorschriften über die Abstandsflächen, den Brandschutz und die Brandwände verstößt (§§ 6, 14, 33 HBO). Die bauliche Anlage ist somit materiell illegal. Ob sie zudem formell illegal ist, also ohne eine erforderliche Baugenehmigung errichtet wurde (§ 62 Abs. 1 S. 1 HBO), kann dahinstehen, da jedenfalls keine Baugenehmigung existiert, die den Anbau legalisiert. Der Anbau wurde damit im Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften errichtet.

Die Voraussetzung, dass es nicht möglich sein darf, auf andere Weise rechtmäßige Zustände herzustellen, ist Ausdruck des Verhältnismäßigkeitsgebots und ordnet die Beseitigungsverfügung als letztes Mittel ein. Vorrangig ist zu versuchen, rechtmäßige Zustände auf andere, mildere Weise herzustellen. Zu denken ist zunächst daran, die bauliche Anlage auf Grundlage von § 74 Abs. 1 HBO zu genehmigen (§ 82 Abs. 2 HBO). Allerdings darf die Baugenehmigung nicht erteilt werden, wenn die bauliche Anlage – wie hier – materiellen öffentlich-rechtlichen Vorschriften Widerspruch und damit nicht genehmigungsfähig ist. Die Herstellung rechtmäßiger Zustände durch Erteilung einer Baugenehmigung kommt also nur dann in Betracht, wenn der Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften gerade und nur in der formellen Illegalität liegt (§ 62 Abs. 1 S. 1 HBO). Laut Sachverhalt ist es auch nicht möglich, den Anbau baulich dahingehend zu verändern, dass die §§ 6, 14, 33 HBO eingehalten werden, sodass Auflagen zur Veränderung des Anbaus auf Grundlage der Generalklausel in § 61 Abs. 2 S. 1 HBO ebenfalls nicht rechtmäßige Zustände herzustellen geeignet sind. Eine Nutzungsuntersagung nach § 82 Abs. 1 S. 2 HBO schließlich kann zwar eine etwaige Brandgefahr reduzieren, ihrerseits aber auch nicht dazu führen, dass die bauliche Anlage nunmehr den §§ 6, 14, 33 HBO entspricht. Damit können im Ergebnis nicht auf andere Weise rechtmäßige Zustände hergestellt werden.

Vertiefungshinweis: Formelle und materielle Illegalität im Zusammenhang mit § 82 Abs. 1 S. 1 HBOVgl. hierzu aufschlussreich Kaiser, in: Ehlers/Fehling/Pünder (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht II, 4. Aufl. 2020, § 41 Rn. 130 ff.

Die Voraussetzung, dass die bauliche Anlage im Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften errichtet oder geändert werden muss, ist sowohl bei einem Verstoß gegen das Erfordernis einer Baugenehmigung (§ 62 Abs. 1 S. 1 HBO – formelle Illegalität) als auch bei einem Verstoß gegen sonstige, materiell-rechtliche Vorschriften (materielle Illegalität) erfüllt.

Durch die Verknüpfung mit der zweiten Voraussetzung, dass es nicht möglich sein darf, auf andere Weise rechtmäßige Zustände herzustellen, setzt eine Beseitigungsverfügung immer mindestens die materielle Illegalität der baulichen Anlage voraus. Denn bei einer ausschließlich formell illegalen baulichen Anlage können rechtmäßige Zustände jedenfalls durch Erteilung einer Baugenehmigung hergestellt werden.

Die formelle Illegalität ist dagegen nicht zwingend erforderlich: Dass eine nicht genehmigte bauliche Anlage genehmigungsbedürftig ist und damit gegen § 62 Abs. 1 S. 1 HBO verstößt, ist weder hinreichende noch notwendige Bedingung für eine Beseitigungsverfügung.

Zu beachten ist aber, dass eine bestehende Baugenehmigung – aufgrund deren die bauliche Anlage jedenfalls nicht gegen § 62 Abs. 1 S. 1 HBO verstößt und damit nicht formell illegal ist – dazu führt, dass die bauliche Anlage nicht als im Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften bewertet werden darf, soweit die Legalisierungswirkung der Baugenehmigung reicht. Insoweit kann schon die erste Tatbestandsvoraussetzung von § 82 Abs. 1 S. 1 HBO also nicht erfüllt sein.Will, in: Gornig/Horn/Will, Öffentliches Recht in Hessen, 2. Aufl. 2022, 3. Teil Öffentliches Baurecht § 5 Rn. 652.

Richtig und präzise ist es, zu sagen, dass die Beseitigungsverfügung die materielle Illegalität und das Fehlen einer legalisierenden Baugenehmigung voraussetzt.

(b) Fehlerfreie Ermessensausübung

Das durch § 82 Abs. 1 S. 1 HBO eingeräumte und vom Magistrat ausgeübte Ermessen (§ 40 HVwVfG) ist auf Ermessensfehler zu überprüfen (§ 114 S. 1 VwGO). Der Magistrat hat von seinem Ermessen Gebrauch gemacht und es entsprechend dem Zweck der Ermächtigung ausgeübt.

Zu den Grenzen des Ermessens, die nicht überschritten werden dürfen, zählt das Verhältnismäßigkeitsgebot, das sich als übergreifende Leitlinie allen staatlichen Handelns schon aus dem Rechtsstaatsprinzip (vgl. Art. 20 Abs. 3 GG) ableiten lässt. Die Beseitigungsverfügung ist – wie gerade geprüft – jedenfalls dazu geeignet und erforderlich, rechtmäßige Zustände herzustellen. Da B mit dem nicht genehmigten Bau auch eigenverantwortlich das Risiko übernommen hat, den Anbau bei einem Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften wieder beseitigen zu müssen, ist sein Interesse am endgültigen Erhalt des Anbaus nicht schutzwürdig.BVerwG, NVwZ-RR 1997, 273 f.; Hermes, in: Hermes/Reimer (Hrsg.), Landesrecht Hessen, 10. Aufl. 2022, § 6 Rn. 147 m.w.N. Dem stehen mögliche Schäden von Gästen und Nachbarn an ihrem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG gegenüber. Die Beseitigungsverfügung ist damit auch nicht unangemessen und somit verhältnismäßig.

Der Magistrat hat sein Ermessen damit nicht fehlerhaft ausgeübt.

(c) Zwischenergebnis

Die Beseitigungsverfügung ist damit nicht materiell rechtswidrig.

(4) Zwischenergebnis

Die Beseitigungsverfügung ist nicht rechtswidrig.

Zwischenergebnis

Die Anfechtungsklage ist unbegründet.

Zwischenergebnis

Die Anfechtungsklage ist zwar zulässig, aber unbegründet. Sie wird keinen Erfolg haben.

Besonderes Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit

Zu prüfen ist damit, ob ein besonderes Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit besteht.

Anforderungen an das besondere Interesse

Da es sich bei der sofortigen Vollziehbarkeit eines Verwaltungsakts, bei dem ein Hauptsacherechtsbehelf kraft Gesetzes aufschiebende Wirkung hat (§ 80 Abs. 1 S. 1 VwGO), um den gesetzlichen Ausnahmefall handelt, muss dieses Interesse über das allgemeine Interesse an der Vollziehung rechtmäßiger Verwaltungsakt hinausgehen. Es muss erforderlich sein, mit der Vollziehung nicht bis zur Bestandskraft des Verwaltungsakts abzuwarten (§ 2 Nr. 1 HVwVG), sondern den Verwaltungsakt zu vollziehen, während im Hauptsacheverfahren noch seine Rechtmäßigkeit geklärt wird.

Die Rechtsschutzgarantie in Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG verlangt, dass auch der einstweilige Rechtsschutz effektiv ist. Daher sind an das Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit umso höhere Anforderungen zu stellen, je stärker sich die sofortige Vollziehung des Verwaltungsakts auswirkt. Namentlich bei Beseitigungsverfügungen sind keine besonderen Anforderungen zu stellen, wenn die Anlagenteile nach ihrer Beseitigung (im Wesentlichen) wiederverwendet bzw. wiederaufgebaut werden können, wie etwa bei einem Zaun. Anders gilt demgegenüber – wie hier – die Beseitigung der Anlage mit einem echten Substanzverlust einhergeht, sodass die sofortige Vollziehung vollendete Tatsachen schafft. Dann rechtfertigt sich die sofortige Vollziehbarkeit nur, wenn von dem Bauwerk schwerwiegende konkrete Gefahren ausgehen, die eine sofortige Beseitigung als unumgänglich erscheinen lassen. Dies schließt auch die Prüfung ein, ob die Gefahr für die Dauer des Hauptsacheverfahrens durch andere ergänzende Maßnahmen der Gefahrenabwehr abgewehrt werden kann.Zum Ganzen OVG Magdeburg, BeckRS 2021, 30040 (Rn. 10); zuvor OVG Münster, BeckRS 2013, 51222.

Gefahren für Gäste und Nachbarn als besonderes Interesse?

Legt man diese Maßstäbe zugrunde, stellt sich zunächst die Frage nach einer Gefährdung von Gästen und Nachbarn. Laut Sachverhalt ist nicht auszuschließen, dass im Brandfall auch Gäste oder Nachbarn zu Schaden kommen können. Angesichts des damit ausgedrückten nicht besonders hohen Wahrscheinlichkeitsgrads eines Schadens kommen Zweifel daran auf, ob von einer schwerwiegenden konkreten Gefahr gesprochen werden kann. Bezieht man den besonderen Wert des Rechtsguts auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) als vitale Basis der Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 GG) und Grundvoraussetzung der Ausübung aller anderen Grundrechte mit ein, lässt sich möglicherweise noch von einer konkreten Gefahr ausgehen.

Allerdings ergibt sich aus dem Sachverhalt nur, dass diese Gefahr dann droht, wenn der Anbau weiterhin als Aufenthaltsraum genutzt wird. Anhaltspunkte dafür, dass auch ein leerstehender Anbau Gefahren für die Gäste und Nachbarn begründet, sind nicht ersichtlich. Damit kann den von dem Anbau ausgehenden Gefahren für Leben und körperliche Unversehrtheit der Gäste und Nachbarn für die Dauer des Hauptsacheverfahrens mit einer milderen Maßnahme der Gefahrenabwehr, nämlich einer Nutzungsuntersagung auf Grundlage von § 82 Abs. 1 S. 2 HBO begegnet werden. Die Auswirkungen des Verstoßes gegen die Vorschriften über die Abstandsflächen beeinflusst die Nutzungsuntersagung zwar nicht. Insofern sind aber schon keine schwerwiegenden konkreten Gefahren für die Nachbarn ersichtlich.So OVG Magdeburg, BeckRS 2021, 30040 (Rn. 15) in einem ähnlich gelagerten Fall.

Nachahmungsgefahr als besonderes Interesse?

Sodann stellt sich die Frage, ob von dem Anbau insofern schwerwiegende konkrete Gefahren ausgehen, als er einen Anreiz für gleich gelagerte bzw. ähnliche Fälle schaffen kann, als Bauherr baurechtswidrige bauliche Anlagen zu erschaffen und diese zumindest für die Zeit eines Hauptsacheverfahrens über mehrere Jahre zur Verfügung zu haben, ob ihm also eine negative Vorbildwirkung ausgeht. Eine negative Vorbildwirkung kann das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit allerdings nur dann begründen, wenn aufgrund einer Betrachtung des Einzelfalls, das heißt des betroffenen Grundstücks, seiner Situation bzw. Umgebung, des betroffenen Gebiets sowie sonstiger bedeutsamer Umstände tatsächlich konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass das Vorhandensein der baulichen Anlage schon nachgeahmt worden ist oder wahrscheinlich nachgeahmt werden wird. Eine Nachahmungsgefahr liegt nahe bei bestimmten baulichen Anlagen im Außenbereich, die aufgrund ihrer weithin sichtbaren Lage in einer reizvollen Landschaft geeignet sind, eine typische Breiten- und Nachahmungswirkung zu erzeugen.Zum Ganzen OVG Magdeburg, BeckRS 2021, 30040 (Rn. 17).

Der Anbau des B hat soweit ersichtlich bislang keine Nachahmung gefunden. Er liegt zudem an der der Straße abgewandten Seite im Hinterhof und wird damit nicht ohne weiteres in der Breite von außen wahrgenommen. Eine Nachahmung ist damit gegenwärtig nicht wahrscheinlich. Die bloß abstrakte Möglichkeit einer Nachahmung stellt somit keine schwerwiegende konkrete Gefahr dar, die ein besonderes Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit begründen könnte.

Zwischenergebnis

Es fehlt an einem hinreichenden besonderen Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit.

Zwischenergebnis

Das öffentliche Interesse und das Interesse des N an der sofortigen Vollziehbarkeit der Beseitigungsverfügung überwiegen nicht das Interesse des B an der Aufhebung der Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit.

Zwischenergebnis

Der Antrag ist begründet.

Ergebnis

Der Antrag des B vom 9. November 2022 ist zulässig und begründet und hat damit Aussicht auf Erfolg.

Lösungsvorschlag Fallvariante

Die Klage des B ist zulässig, wenn alle Sachentscheidungsvoraussetzungen erfüllt sind.

Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs

Mangels aufdrängender Sonderzuweisung richtet sich die Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs nach § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO. Der Streit um die Klärung der Rechtswidrigkeit der Beseitigungsverfügung richtet sich nach Normen des öffentlichen Baurechts, das ausschließlich einen Träger öffentlicher Gewalt als solchen berechtigt und verpflichtet und damit nach der Sonderrechtslehre (modifizierten Subjektstheorie) dem öffentlichen Recht angehört. Es handelt sich daher um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit. Da nicht Verfassungsorgane um Verfassungsrecht streiten, ist die Streitigkeit auch nichtverfassungsrechtlicher Natur. Eine abdrängende Sonderzuweisung ist nicht ersichtlich. Somit ist der Verwaltungsrechtsweg eröffnet.

Statthafte Rechtsschutzform

Die statthafte Rechtsschutzform richtet sich nach dem Begehren des Rechtsschutzsuchenden (vgl. §§ 88, 122 Abs. 1 VwGO). B möchte gerichtlich klären lassen, dass die Beseitigungsverfügung vom 26. August 2022 rechtswidrig war. Als Rechtsschutzformen kommen in Betracht eine Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 Var. 1 VwGO), eine Fortsetzungsfeststellungsklage (§ 113 Abs. 1 S. 4 VwGO) und eine allgemeine Feststellungsklage (§ 43 Abs. 1 VwGO).

Bei der Beseitigungsverfügung handelt es sich um einen Verwaltungsakt im Sinne von § 35 S. 1 HVwVfG, gegen den an sich die Anfechtungsklage nach § 42 Abs. 1 Alt. 2 VwGO zulässig ist. Allerdings lässt sich das Rechtsschutzziel der Anfechtungsklage – eine gerichtliche Aufhebung des Verwaltungsakts (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO) – nur dann erreichen, wenn der Verwaltungsakt wirksam ist. Daran fehlt es, wenn sich der Verwaltungsakt im Sinne von § 43 Abs. 2 HVwVfG erledigt hat, wenn also die tatsächliche oder rechtliche Beschwer entfallen ist und der Verwaltungsakt keine Wirkungen mehr entfaltet. Hier hat B das Gebot aus der Beseitigungsverfügung, den Anbau zu beseitigen, bereits erfüllt. Die Beseitigungsverfügung bezog sich nur auf den konkreten, bestehenden Anbau und entfaltet daher seit der Beseitigung keine rechtlichen Wirkungen mehr. Der Verwaltungsakt hat sich damit erledigt und ist nicht mehr tauglicher Gegenstand einer Anfechtungsklage.

Zu denken ist daher an eine Fortsetzungsfeststellungsklage. Aus dem Wort „vorher“ in § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO, das sich wegen der systematischen Stellung der Vorschrift im 10. Abschnitt (Urteile und andere Entscheidungen) auf das „Urteil“ bezieht, ergibt sich aber, dass die Vorschrift nur die Situation einer ursprünglich als Anfechtungsklage erhobenen Klage erfasst, bei der sich der Verwaltungsakt nach Klageerhebung vor dem Urteil erledigt hat. Hier hat B seine Klage erst am 30. September 2022 und damit nach der Beseitigung, das heißt der Erledigung des Verwaltungsakts erhoben. § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO ist damit nicht direkt anwendbar.

Damit stellt sich die Frage, ob § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO analog anzuwenden ist. Eine Analogie erfordert eine planwidrige Regelungslücke im Gesetz und eine vergleichbare Interessenlage. Die Situationen der Erledigung vor und nach Klageerhebung ähneln sich so stark, dass es sachgerecht erscheint, die Fälle prozessual gleich zu behandeln, zumal der Zeitpunkt der Erledigung oft eine Frage des Zufalls ist. Eine vergleichbare Interessenlage besteht also. Von einer planwidrigen Regelungslücke ist auszugehen, wenn der Gesetzgeber die Situation der Erledigung vor Klageerhebung irrtümlich nicht in § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO geregelt hat. Daran ließe sich zweifeln, da auch eine allgemeine Feststellungsklage nach § 43 Abs. 1 VwGO dem Anspruch des Klägers auf effektiven Rechtsschutz (vgl. Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG) Rechnung tragen könnte. Allerdings zeigen gerade § 42 und § 113 VwGO, dass das Rechtsschutzsystem der VwGO maßnahmenbezogen ausgestaltet ist. Die allgemeine Feststellungsklage ist, wie sich aus § 43 Abs. 2 VwGO ergibt, grundsätzlich auf Rechtsverhältnisse zugeschnitten ist, die – vom Ausnahmefall der Nichtigkeit eines Verwaltungsakts abgesehen (§ 43 Abs. 1 Alt. 2 VwGO) – keinen Verwaltungsakt zum Gegenstand haben. Auch eine planwidrige Regelungslücke liegt damit vor. § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO ist daher analog anzuwenden.

Klausurhinweis: Andere Auffassung gut vertretbar

Eine andere Auffassung ist hier gut vertretbar. Dann ist die Statthaftigkeit der Feststellungsklage zu begründen. Das von B geleugnete Rechtsverhältnis ist die aus § 82 Abs. 1 S. 1 HBO folgende Befugnis der Stadt Gießen, die Beseitigungsverfügung vom 26. August mit diesem Inhalt zu erlassen. Das Erfordernis eines Feststellungsinteresses ist dann an § 43 Abs. 1 VwGO anstelle von § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO anzuknüpfen. Einer Klagebefugnis analog § 42 Abs. 2 VwGO bedarf die Feststellungsklage nach herrschender Meinung ebenfalls. Vorverfahren und Klagefrist sind bei Erledigung vor Bestandskraft mit den gleichen Erwägungen keine Anforderungen an die Zulässigkeit der Klage.

Statthaft ist damit eine Fortsetzungsfeststellungsklage analog § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO.

Berechtigtes Interesse an der Feststellung

Die analoge Anwendung des § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO erfordert, dass B ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit des erledigten Verwaltungsaktes hat. Grundsätzlich genügt hierfür jedes nach vernünftigen Erwägungen nach Lage des Falles anzuerkennende schutzwürdige Interesse rechtlicher, wirtschaftlich oder auch ideeller Art. Die gerichtliche Entscheidung muss geeignet sein, die Position des Klägers zu verbessern.Ehlers, in: Ehlers/Schoch (Hrsg.), Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, 2021, § 31 Rn. 69. Fallgruppen, in denen diese Voraussetzungen erfüllt sind, sind insbesondere eine Wiederholungsgefahr, ein Rehabilitationsinteresse und sich typischerweise kurzfristig erledigende Verwaltungsakte.Ehlers, in: Ehlers/Schoch (Hrsg.), Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, 2021, § 31 Rn. 73 ff. Demgegenüber ist mit Blick auf etwaige Amtshaftungsansprüche nicht der Verwaltungsrechtsweg, sondern der ordentlicher Rechtsweg eröffnet (§ 40 Abs. 2 S. 1 VwGO). Das ordentliche Gericht entscheidet den Rechtsstreit unter allen in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten (§ 17 Abs. 2 S. 1 GVG) und damit auch über die Rechtswidrigkeit des möglicherweise anspruchsbegründenden Verwaltungsakts. Anders als in der Konstellation der Erledigung nach Klageerhebung ist es daher nicht prozessökonomisch, die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts zunächst vom Verwaltungsgericht klären zu lassen. Daher scheidet ist das Amtshaftungsinteresse kein berechtigtes Interesse im Sinne des § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO, wenn sich der Verwaltungsakt schon vor Klageerhebung erledigt hat.

Das Interesse des B, Kosten für die Beseitigung des Anbaus von der Stadt Gießen ersetzt zu bekommen, reicht daher nicht aus. Eine Wiederholungsgefahr ist anzunehmen, wenn die angestrebte Klärung als Richtschnur für künftiges Verhalten von Bedeutung ist. B plant, den Anbau an gleicher Stelle und in gleicher Bauweise wieder aufzubauen. Es erscheint sehr wahrscheinlich, dass der Magistrat auch für den neuerlichen Anbau eine Beseitigungsverfügung erlassen wird. Die hier angestrebte Feststellung dürfte damit als Richtschnur für das zukünftige Verhalten dienen. Das berechtigte Interesse an der Feststellung liegt damit in der Wiederholungsgefahr.

Klagebefugnis 

Ob § 42 Abs. 2 VwGO zum Ausschluss von Popularklagen angesichts des bestehenden berechtigten Interesses an der Feststellung auf die Fortsetzungsfeststellungsklage analoge Anwendung findet, kann dahinstehen. Es ist jedenfalls nicht von vornherein offenkundig ausgeschlossen und damit möglich, dass die Beseitigungsverfügung rechtswidrig ist und den B daher in seinem Recht aus § 82 Abs. 1 S. 1 HBO verletzt. B ist folglich klagebefugt.

Ordnungsgemäß und erfolglos durchgeführtes Vorverfahren

B hat kein Vorverfahren im Sinne von § 68 Abs. 1 S. 1 VwGO durchgeführt. Nach dem Wortlaut von § 68 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 VwGO ist ein Vorverfahren auch nur vor Erhebung einer Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage erforderlich. Möglicherweise sind diese Vorschriften aber im Rahmen einer Fortsetzungsfeststellungsklage bei Erledigung vor Erhebung analog anzuwenden.

Die Vergleichbarkeit der Interessenlage bemisst sich an den Zwecken des Vorverfahrens. Ein solches kann die Gerichte auch bei Erledigung vor Klageerhebung entlasten. Vorrangig dient das Widerspruchsverfahren aber der Selbstkontrolle der Verwaltung, die nach der Erledigung nicht mehr stattfinden kann, weil es keine Abhilfemöglichkeit mehr gibt. Eine sofortige gerichtliche Klärung erscheint daher ökonomischer. Sie besitzt auch einen höheren Rehabilitationswert als eine Behördenentscheidung. Die Interessenlage ist somit nicht vergleichbar. Die Durchführung eines Vorverfahrens ist daher nicht analog § 68 Abs. 1 S. 1 VwGO erforderlich.

Klagefrist

Auch die Vorschriften über die Klagefrist in § 74 Abs. 1 und Abs. 2 VwGO gelten unmittelbar nur für die Anfechtungs- und Verpflichtungsklage. Die Klagefrist hat den Zweck, den Verwaltungsakt (bzw. seine Ablehnung) zu einem bestimmten Zeitpunkt unanfechtbar und damit bestandskräftig werden zu lassen. Ziel ist eine aus rechtsstaatlichen Gründen (Art. 20 Abs. 3 GG) zu fordernde Rechtssicherheit. Wenn sich ein Verwaltungsakt schon vor seiner Bestandskraft erledigt, besteht dieses Bedürfnis nicht in gleichem Maße, zumal die Forderung eines berechtigten Interesses in § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO die Hürden für den Rechtsschutz bereits hoch genug hängt. Eine Analogie zu § 74 Abs. 1, Abs. 2 VwGO ist daher nicht gerechtfertigt.

Da sich die Beseitigungsverfügung hier mit Beseitigung des Anbaus innerhalb der von der Behörde gesetzten 14tätigen Frist und damit vor Ablauf der einmonatigen Frist für eine Anfechtungsklage am 26. September 2022 (§ 57 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 222 Abs. 1 ZPO i.V.m. § 187 Abs. 1, § 188 Abs. 2 BGB) erledigt hat, musste B keine Klagefrist einhalten.

Richtiger Klagegegner

B hat die Klage nach § 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO zurecht gegen die Stadt Gießen als Rechtsträgerin des Magistrats gerichtet, der den angegriffen Verwaltungsakt erlassen hat.

Beteiligungs- und Prozessfähigkeit

Der Kläger B ist als natürliche und nach dem bürgerlichen Recht geschäftsfähige Person (§§ 2, 104 ff. BGB) nach § 61 Nr. 1 Var. 1 VwGO beteiligungsfähig und nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 VwGO prozessfähig. Die Klagegegnerin, die Stadt Gießen, ist als juristische Person (§ 1 Abs. 2 HGO) nach § 61 Nr. 1 Var. 2 VwGO beteiligungsfähig und lässt sich im Prozess nach § 62 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 71 Abs. 1 S. 1 HGO durch den Magistrat vertreten.

Zuständigkeit des Gerichts

Das Verwaltungsgericht Gießen ist gemäß §§ 45, 52 Nr. 1 VwGO i.V.m. § 1 Abs. 2 Nr. 3 HessAGVwGO zuständig.

Ergebnis

Die Klage des B ist zulässig.