BVerfG 2. Senat 1. Kammer 2 BvR 2273/06

ECLI:DE:BVerfG:2007:rk20070319.2bvr227306

Guiding Principles

1a. Zu dem in Art 103 Abs 2 GG enthaltenen Bestimmtheitserfordernis, wonach die Voraussetzungen der Strafbarkeit so konkret zu umschreiben sind, dass Anwendungsbereich und Tragweite der Straftatbestände sich aus dem Wortlaut ergeben oder jedenfalls durch Auslegung ermitteln lassen, vgl BVerfG, 10.01.1995, 1 BvR 718/89, BVerfGE 92, 1 <11 ff>.

1b. Den Gerichten ist es im Hinblick auf Art 103 Abs 2 GG verwehrt, die Entscheidung des Gesetzgebers, ob und in welchem Umfang er ein bestimmtes Rechtsgut, dessen Schutz ihm wesentlich und notwendig erscheint, gerade mit den Mitteln des Strafrechts verteidigen will, zu korrigieren.

Dies gilt auch dann, wenn infolge des Bestimmtheitsgebots besonders gelagerte Einzelfälle aus dem Anwendungsbereich eines Strafgesetzes herausfallen, obwohl sie ähnlich strafwürdig erscheinen mögen wie das pönalisierte Verhalten. Es ist dann Sache des Gesetzgebers zu entscheiden, ob er die Strafbarkeitslücke bestehen lassen oder durch eine neue Regelung schließen will.

2a. Zur Gleichsetzung des Vorganges des unvorsätzlichen Entfernens vom Unfallort mit dem berechtigten oder entschuldigten Entfernen iSd § 142 Abs 2 Nr 2 StGB vgl BGH, 30.08.1978, 4 StR 682/77, BGHSt 28, 129 ff.

2b. Zur Ablehnung dieser Rspr des BGH im Schrifttum vgl Volk, Klaus, Die Pflichten des Unfallbeteiligten (§ 142 StGB), DAR 1982, 81 <85 f>.

3. Der Auslegung des § 142 Abs 2 Nr 2 StGB, die auch das unvorsätzliche - und nicht nur das berechtigte oder entschuldigte - Sich-Entfernt-Haben vom Unfallort unter diese Norm subsumiert, steht die Grenze des möglichen Wortsinns der Begriffe "berechtigt oder entschuldigt" entgegen:

3a. Die beiden gesetzlichen Begriffe kennzeichnen einen Sachverhalt, der an den in § 142 Abs 1 StGB beschriebenen anschließt: Wer sich als Unfallbeteiligter an einem Unfallort befindet und also die erforderlichen Feststellungen ermöglichen muss, darf sich unter bestimmten, durch die Begriffe „berechtigt oder entschuldigt“ näher gekennzeichneten Voraussetzungen entfernen; er muss dann aber die Feststellungen nachträglich ermöglichen.

Über diesen Sinngehalt geht das unvorsätzliche Sich-Entfernt-Haben hinaus, zumal derjenige, der sich „berechtigt oder entschuldigt“ vom Unfallort entfernt, unter ganz anderen Voraussetzungen handelt als derjenige, der das mangels Kenntnis des Unfallgeschehens tut.

3b. Dieses Ergebnis wird durch historische, systematische und teleologische Auslegungsgesichtspunkte gestützt (wird ausgeführt).

4. Da die Rechtsanwendung der Fachgerichte gegen Art 103 Abs 2 GG verstößt, ist der Beschwerdeführer durch seine Verurteilung und die Entziehung seiner Fahrerlaubnis zugleich in seinem Grundrecht aus Art 2 Abs 1 GG verletzt.