BVerfG 1. Senat 1. Kammer 1 BvR 1906/97

ECLI:DE:BVerfG:2001:rk20010801.1bvr190697

Guiding Principles

1. Geht es ungeachtet des Verbreitungsmediums allein um die Frage, ob eine in der Presse veröffentlichte Äußerung strafrechtlich sanktioniert werden darf, dann scheidet das Grundrecht auf Pressefreiheit (GG Art 5 Abs 1 S 2) neben dem Grundrecht auf Meinungsfreiheit (GG Art 5 Abs 1 S 1) als Prüfungsmaßstab aus (vgl BVerfG, 1991-10-09, 1 BvR 1555/88, BVerfGE 85, 1 <11ff>).

2. Der Schutz der Meinungsfreiheit erstreckt sich auf alle Meinungsäußerungen (vgl BVerfG, 1995-10-10, 1 BvR 102/92, BVerfGE 93, 266 <289>; st Rspr).

3. Geht es um die strafrechtliche Ahndung einer Meinungsäußerung, ist das BVerfG auf die Klärung beschränkt, ob das Strafgericht das Grundrecht der Meinungsfreiheit (GG Art 5 Abs 1) sowie das Persönlichkeitsrecht (GG Art 2 Abs 1 iVm Art 1 Abs 1) und damit die wertsetzende Bedeutung der Freiheitsrechte verkannt hat (vgl BVerfGE 93, 266 <292>; st Rspr); die abschließende Bestimmung des Sinns einer Äußerung ist nicht seine Aufgabe (vgl BVerfG, 1996-02- 13, 1 BvR 262/91, BVerfGE 94, 1 <10>).

4. Die Verhängung einer Strafe für eine Meinungsäußerung kommt aus verfassungsrechtlichen Gründen nur in Betracht, wenn die Äußerung dem Äußernden in der vom Fachgericht vorgenommenen Deutung zugerechnet werden darf; zur Deutung mehrdeutiger - auch satirischer oder glossierender (vgl BVerfG, 1992-03-25, 1 BvR 514/90, BVerfGE 86, 1 <9>) - Äußerungen (vgl BVerfG, 1990-04-19, 1 BvR 40/86, BVerfGE 82, 43 <52>; st Rspr).

5. Enthält die Äußerung einen ehrkränkenden Inhalt, so dass ein Konflikt zwischen Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht besteht, muss eine Abwägung unter Berücksichtigung der Schwere der Beeinträchtigung vorgenommen werden, die jedem der beiden Rechtsgüter droht, es sei denn, es handelt sich bei der Äußerung um eine Schmähkritik (vgl BVerfG, 1990-06-26, 1 BvR 1165/89, BVerfGE 82, 272 <283f>; st Rspr).

6. Hier:

6a. In einem polemischen Presseartikel zu dem widersprüchlichen Verhalten eines - nicht angetretenen - Kandidaten einer Bürgermeisterwahl gab der Beschwerdeführer diesem zum Abschluss den nach Feststellungen des Fachgerichts ironisch gemeinten Rat, lieber einen Arzt aufzusuchen.

6b. Die Deutung dieser Äußerung als Schmähkritik mit der Unterstellung, der Kandidat sei geistig nicht gesund, wird den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht gerecht, weil das Gericht nicht nachvollziehbar darzulegen vermochte, dass die streitige Äußerung (nur) in diesem Sinne zu verstehen sei, und sich nicht mit nahe liegenden alternativen Deutungsmöglichkeiten auseinander gesetzt hat, zumal es widersprüchlich ist, eine Äußerung als ironisch zu charakterisieren, ihr sodann aber einen Bedeutungsgehalt beizumessen, der ihr nur zukommen würde, wenn sie als ernst gemeint beim Wort zu nehmen wäre (wird ausgeführt).

6c. Da nach der Darstellung des AG lediglich von überspitzt formulierter Kritik und nicht von einer Schmähkritik auszugehen war, hätte das AG von einer Abwägung der unterschiedlichen Grundrechtspositionen nicht absehen dürfen.

6d. Da auch das LG auf die nahe liegende Deutung, dass es dem Beschwerdeführer nicht um eine medizinische Aussage, sondern nur um eine ironisch zusammengefasste Bewertung des Verhaltens des Kandidaten ging, ist seine Annahme einer Schmähkritik ebenfalls verfassungsrechtlich nicht tragfähig begründet worden.

7. Festsetzung des Gegenstandswertes der anwaltlichen Tätigkeit gem BRAGebO § 113 Abs 2 S 3 auf DM 30.000.