BVerfG 2. Senat 1. Kammer 2 BvR 194/20

ECLI:DE:BVerfG:2021:rk20210317.2bvr019420

Guiding Principles

1a. Es trägt dem Schutz der Privatsphäre im Rahmen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts Rechnung, dass bei ehrverletzenden Äußerungen über nicht anwesende Dritte in besonders engen Lebenskreisen eine beleidigungsfreie Sphäre zugestanden wird, wenn die Äußerung Ausdruck des besonderen Vertrauens ist und wenn keine begründete Möglichkeit ihrer Weitergabe besteht (vgl insb zur Briefkontrolle bei Strafgefangenen: BVerfG, 23.11.2006, 1 BvR 285/06, BVerfGK 9, 442 <444f>; siehe auch BVerfG, 29.06.2009, 2 BvR 2279/07, BVerfGK 15, 577 <581>). (Rn.33)

1b. Der Kreis möglicher Vertrauenspersonen ist dabei nicht auf Ehegatten oder Eltern beschränkt, sondern erstreckt sich auf ähnlich enge - auch rein freundschaftliche - Vertrauensverhältnisse (BVerfGK 9, 442 <445>; BVerfG, 27.07.2009, 2 BvR 2186/07, BVerfGK 16, 51 <55f> mwN). (Rn.34)

1c. An die im Zuge der Überwachung zwangsläufig gewonnenen Kenntnisse vom Inhalt der Kommunikation des Gefangenen mit Personen seines besonderen Vertrauens dürfen Sanktionen oder sonstige Eingriffe nicht ohne weiteres in gleicher Weise, wie dies bei Äußerungen außerhalb besonderer Vertrauensbeziehungen zulässig wäre, geknüpft werden. Bei der notwendigen Abwägung zwischen den eingeschränkten Grundrechten des Gefangenen und dem Rechtsgut, dem das grundrechtsbeschränkende Gesetz dient, ist dies zu berücksichtigen; die in Bezug auf Einschränkungen der Meinungsfreiheit sonst geltenden Abwägungsregeln sind daher nicht ohne weiteres anwendbar (BVerfGK 15, 577 <581f>). (Rn.35)

1d. Der besondere Schutz der Privatsphäre ist bei allen Tatbestandsvarianten des § 31 Abs 1 StVollzG zu beachten, er gilt mithin nicht lediglich in Bezug auf beleidigende Äußerungen, von denen der Staat infolge der Kontrolle des Briefverkehrs von Strafgefangenen Kenntnis erhält. Dieser Schutz gilt auch dann, wenn als gegenläufige Belange der Ruf der Vollzugspraxis und die davon abhängigen Gemeinschaftsinteressen in die Abwägung einzustellen sind (BVerfGK 15, 577 <582 mwN>). (Rn.35)

1e. Auch die Erwägung, dass eine Äußerung die Sicherheit und Ordnung der Anstalt gefährde (§ 31 Abs 1 Nr 1 StVollzG; Art 34 Abs 1 Nr 1 StVollzG BY), lässt den besonderen Schutz der Privatsphäre nicht entfallen. Vielmehr müssen die Fachgerichte auch in diesem Rahmen prüfen und ggf im Rahmen von Verhältnismäßigkeitserwägungen würdigen, ob der Strafgefangene die jeweiligen Äußerungen im Rahmen eines Vertrauensverhältnisses vorgenommen hat. (Rn.41)

2. Hier: Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde im Zusammenhang mit der Anhaltung eines von einem Strafgefangenen versandten Briefes wegen Gefährdung der Sicherheit und Ordnung der Anstalt sowie wegen herabwürdigender Äußerungen über JVA-Bedienstete.

2a. Die angegriffenen Entscheidungen tragen dem aus Art 5 Abs 1 GG iVm dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht folgenden Vertraulichkeitsschutz nicht hinreichend Rechnung. Zudem verletzt die Entscheidung des BayObLG den Beschwerdeführer auch unabhängig von der Berücksichtigung der sich aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht ergebenden Besonderheiten in seinem Grundrecht aus Art 5 Abs 1 GG, indem es ohne weiteres davon ausgeht, dass Schmähkritik von vornherein nicht dem Grundrechtsschutz des Art 5 Abs 1 GG unterfalle. (Rn.29) (Rn.47) (Rn.49)

2b. Art 19 Abs 4 GG ist zudem verletzt, da das LG sich mit den Einwendungen des Beschwerdeführers bzgl der Stellungnahme der JVA nicht auseinandersetzt, obwohl dies geboten gewesen wäre. Auch die Entscheidung des BayObLG lässt eine wirksame gerichtliche Kontrolle vermissen.  (Rn.52) (Rn.54) (Rn.56)