Guiding Principles
1. Durch Art 5 Abs 1 S 1 GG grundrechtlich geschützt sind insbesondere Werturteile, also Äußerungen, die durch ein Element der Stellungnahme gekennzeichnet sind. Dies gilt ungeachtet des womöglich ehrschmälernden Gehalts einer Äußerung. Dass eine Aussage polemisch oder verletzend formuliert ist, entzieht sie nicht dem Schutzbereich des Grundrechts (vgl BVerfG, 10.10.1995, 1 BvR 1476/91, BVerfGE 93, 266 <289 f>; stRspr).(Rn.12)
2. Bei Anwendung der Strafnorm des § 185 StGB auf Äußerungen im konkreten Fall verlangt Art 5 Abs 1 S 1 GG zunächst eine der Meinungsfreiheit gerecht werdende Ermittlung des Sinns der infrage stehenden Äußerung (vgl BVerfGE 93, 266 <295 f>; BVerfG, 29.06.2016, 1 BvR 2732/15). Darauf aufbauend erfordert das Grundrecht der Meinungsfreiheit als Voraussetzung einer strafgerichtlichen Verurteilung nach § 185 StGB im Normalfall eine abwägende Gewichtung der Beeinträchtigungen, die der persönlichen Ehre auf der einen und der Meinungsfreiheit auf der anderen Seite drohen (vgl BVerfGE 93, 266 <293>; stRspr).(Rn.15)
3. Zu den im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigenden Umständen können insbesondere Inhalt, Form, Anlass und Wirkung der betreffenden Äußerung sowie Person und Anzahl der Äußernden, der Betroffenen und der Rezipienten gehören (vgl BVerfGE 93, 266 <296>).(Rn.27)
3a. Mit Blick auf den Inhalt einer Äußerung kann zunächst deren konkreter ehrschmälernder Gehalt einen erheblichen Abwägungsgesichtspunkt bilden. Dieser hängt insb davon ab, ob und inwieweit die Äußerung grundlegende, allen Menschen gleichermaßen zukommende Achtungsansprüche betrifft oder ob sie eher das jeweils unterschiedliche soziale Ansehen des Betroffenen schmälert. Ebenfalls kann in Rechnung zu stellen sein, ob eine abschätzige Äußerung die Person als ganze oder nur einzelne ihrer Tätigkeiten und Verhaltensweisen betrifft. Für das Gewicht der in die Abwägung einzustellenden Meinungsfreiheitsinteressen kann insbesondere erheblich sein, ob durch die strafrechtliche Sanktion die Freiheit berührt wird, bestimmte Inhalte und Wertungen überhaupt zum Ausdruck zu bringen, ob und wieweit also alternative Äußerungsmöglichkeiten selben oder ähnlichen Inhalts verbleiben. Mit Blick auf die eine gleichberechtigte Beteiligung aller an der öffentlichen Kommunikation gewährleistende Dimension der Meinungsfreiheit (vgl BVerfG, 25.01.1961, 1 BvR 9/57, BVerfGE 12, 113 <125>) kann auch eine gegebenenfalls beschränkte Ausdrucksfähigkeit und sonstige soziale Bedingtheit des jeweiligen Sprechers in Rechnung zu stellen sein.(Rn.28)
3b. Das bei der Abwägung anzusetzende Gewicht der Meinungsfreiheit ist umso höher, je mehr die Äußerung darauf zielt, einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung zu leisten, und umso geringer, je mehr es hiervon unabhängig lediglich um die emotionalisierende Verbreitung von Stimmungen gegen einzelne Personen geht (vgl BVerfGE 93, 266 <294>).(Rn.29)
3c. Bei der Gewichtung der durch eine Äußerung berührten grundrechtlichen Interessen ist zudem davon auszugehen, dass der Schutz der Meinungsfreiheit gerade aus dem besonderen Schutzbedürfnis der Machtkritik erwachsen ist und darin unverändert seine Bedeutung findet (vgl BVerfGE 93, 266 <293>).(Rn.30)
aa. Teil dieser Freiheit ist, dass Bürger von ihnen als verantwortlich angesehene Amtsträger in anklagender und personalisierter Weise für deren Art und Weise der Machtausübung angreifen können, ohne befürchten zu müssen, dass die personenbezogenen Elemente solcher Äußerungen aus diesem Kontext herausgelöst werden und die Grundlage für einschneidende gerichtliche Sanktionen bilden (vgl BVerfG, 12.05.2009, 1 BvR 2272/04 <Rn 38>).(Rn.30)
bb. Unter dem Aspekt der Machtkritik haben die Gerichte auch Auslegung und Anwendung des Art 10 Abs 2 EMRK (juris: MRK) durch den EGMR zu berücksichtigen (vgl BVerfG, 14.10.2004, 2 BvR 1481/04, BVerfGE 111, 307 <316 f>). In ständiger Rechtsprechung betont der Gerichtshof, dass die Grenzen zulässiger Kritik an Politikern weiter zu ziehen sind als bei Privatpersonen (vgl EGMR, 08.07.1986, 9815/82 – Lingens ./. Österreich – <§ 42>; 23.05.1991, 11662/85 – Oberschlick ./. Österreich – <§ 59>; 14.03. 2013, 26118/10 – Eon ./. Frankreich – <§ 59>).(Rn.31)
Gegenüber einer auf die Person abzielenden, insbesondere öffentlichen Verächtlichmachung oder Hetze allerdings setzt die Verfassung allen Personen gegenüber äußerungsrechtliche Grenzen und nimmt hiervon Personen des öffentlichen Lebens und Amtsträger nicht aus (vgl BVerfG, 11.05.1976, 1 BvR 671/70, BVerfGE 42, 143 <153>). Welche Äußerungen sich Personen des öffentlichen Lebens gefallen lassen müssen und welche nicht, liegt dabei nicht nur an Art und Umständen der Äußerung, sondern auch daran, welche Position sie innehaben und welche öffentliche Aufmerksamkeit sie für sich beanspruchen.(Rn.32)
3d. Mit Blick auf Form und Begleitumstände einer Äußerung kann nach den Umständen des Falles insbesondere erheblich sein, ob sie ad hoc in einer hitzigen Situation oder im Gegenteil mit längerem Vorbedacht gefallen ist (vgl BVerfG, 14.07.1987, 1 BvR 537/81, BVerfGE 76, 171 <192>). Bei schriftlichen Äußerungen kann im Allgemeinen ein höheres Maß an Bedacht und Zurückhaltung erwartet werden. Dies gilt grundsätzlich auch für textliche Äußerungen in den "sozialen Netzwerken" im Internet.(Rn.33)
3e. Abwägungsrelevant kann dabei auch sein, ob Äußernden aufgrund ihrer beruflichen Stellung, Bildung und Erfahrung zuzumuten ist, auch in besonderen Situationen - beispielsweise gerichtlichen und behördlichen Verfahren - die äußerungsrechtlichen Grenzen zu kennen und zu wahren. Hierbei ist auch der Gesichtspunkt des sogenannten "Kampfs um das Recht" zu berücksichtigen. Danach ist es im Kontext rechtlicher Auseinandersetzungen grundsätzlich erlaubt, auch besonders starke und eindringliche Ausdrücke zu benutzen, um Rechtspositionen und Anliegen zu unterstreichen (vgl BVerfGE 76, 171<192>).(Rn.33)
3f. Ebenfalls bei der Abwägung in Rechnung zu stellen ist die konkrete Verbreitung und Wirkung einer Äußerung (vgl BVerfG, 06.11.2019, 1 BvR 16/13 <Rn 125>). Erhält nur ein kleiner Kreis von Personen von einer ehrbeeinträchtigenden Äußerung Kenntnis oder handelt es sich um eine nicht schriftlich oder anderweitig perpetuierte Äußerung, ist die damit verbundene Beeinträchtigung der persönlichen Ehre geringfügiger und flüchtiger als im gegenteiligen Fall. Ein die ehrbeeinträchtigende Wirkung einer Äußerung verstärkendes Medium kann insbesondere das Internet sein, wobei auch hier nicht allgemein auf das Medium als solches, sondern auf die konkrete Breitenwirkung abzustellen ist (vgl BVerfG aaO).(Rn.34)
4. Ausnahmsweise kann eine Verurteilung auch ohne eine solche Abwägung gerechtfertigt sein, wenn es sich um Äußerungen handelt, die sich als Angriff auf die Menschenwürde, Formalbeleidigung oder Schmähung darstellen (vgl BVerfG, 09.10.1991, 1 BvR 1555/88, BVerfGE 85, 1 <16>; stRspr).(Rn.17)
4a. Schmähung im verfassungsrechtlichen Sinn ist gegeben, wenn eine Äußerung keinen irgendwie nachvollziehbaren Bezug mehr zu einer sachlichen Auseinandersetzung hat und es bei ihr im Grunde nur um das grundlose Verächtlichmachen der betroffenen Person als solcher geht. Es sind dies Fälle, in denen eine vorherige Auseinandersetzung erkennbar nur äußerlich zum Anlass genommen wird, um über andere Personen herzuziehen oder sie niederzumachen, etwa in Fällen der Privatfehde (vgl BVerfGE 93, 266 <294>; BVerfG, 17.09.2012, 1 BvR 2979/10 <Rn 30>).(Rn.19)
Davon abzugrenzen sind Fälle, in denen die Äußerung, auch wenn sie gravierend ehrverletzend und damit unsachlich ist, letztlich als (überschießendes) Mittel zum Zweck der Kritik eines Sachverhaltes dient. Dann geht es dem Äußernden nicht allein darum, den Betroffenen als solchen zu diffamieren, sondern stellt sich die Äußerung als Teil einer anlassbezogenen Auseinandersetzung dar.(Rn.20)
4b. Um Fälle der Formalbeleidigung im verfassungsrechtlichen Sinn kann es sich etwa bei mit Vorbedacht und nicht nur in der Hitze einer Auseinandersetzung verwendeten, nach allgemeiner Auffassung besonders krassen, aus sich heraus herabwürdigenden Schimpfwörtern - etwa aus der Fäkalsprache - handeln.(Rn.21)
4c. Es bedarf einer sorgfältigen Begründung, wenn ausnahmsweise angenommen werden soll, dass der Gebrauch der Meinungsfreiheit auf die unantastbare Menschenwürde durchschlägt (vgl BVerfGE 93, 266 <293>; BVerfG, 11.03.2003, 1 BvR 426/02, BVerfGE 107, 275 <284>). Eine Menschenwürdeverletzung kommt nur in Betracht, wenn sich eine Äußerung nicht lediglich gegen einzelne Persönlichkeitsrechte richtet, sondern einer konkreten Person den ihre menschliche Würde ausmachenden Kern der Persönlichkeit abspricht (vgl BVerfG, 06.09.2000, 1 BvR 1056/95 <Rn 40>).(Rn.22)
4d. Der eine Abwägung entbehrlich machende und damit die Meinungsfreiheit verdrängende Effekt, der mit einer Einordnung als Angriff auf die Menschenwürde, Schmähkritik oder Formalbeleidigung verbunden ist, gebietet es, diese Einordnung klar kenntlich zu machen und sie in einer auf die konkreten Umstände des Falles bezogenen, gehaltvollen und verfassungsrechtlich tragfähigen Weise zu begründen (wird bezogen auf die Schmähkritik und die Formalbeleidigung näher ausgeführt) (vgl BVerfG, 22.06.1982, 1 BvR 1376/79, BVerfGE 61, 1 <12>).(Rn.23)