BVerfG 1. Senat 2. Kammer 1 BvR 2588/20

ECLI:DE:BVerfG:2022:rk20220209.1bvr258820

Guiding Principles

1. Zu den verfassungsrechtlichen Maßgaben an die Berücksichtigung widerstreitender Interessen (allgemeines Persönlichkeitsrecht, Meinungsfreiheit) bei der Prüfung der Strafbarkeit wegen Beleidigung (§ 185 StGB) siehe etwa BVerfG, 19.05.2020, 1 BvR 2397/19 (Rn 17ff). (Rn.21)

2a. Bei der Gewichtung der durch eine Äußerung berührten grundrechtlichen Interessen ist insb davon auszugehen, dass der Schutz der Meinungsfreiheit gerade aus dem besonderen Schutzbedürfnis der Machtkritik erwachsen ist und darin unverändert seine Bedeutung findet (vgl BVerfG, 10.10.1995, 1 BvR 1476/91, BVerfGE 93, 266 <293>). (Rn.25)   (Rn.33)

2b. Teil dieser Freiheit ist, dass Bürger von ihnen als verantwortlich angesehene Amtsträger in anklagender und personalisierter Weise für deren Art und Weise der Machtausübung angreifen können, ohne befürchten zu müssen, dass die personenbezogenen Elemente solcher Äußerungen aus diesem Kontext herausgelöst werden und die Grundlage für einschneidende gerichtliche Sanktionen bilden (vgl BVerfG, 12.05.2009, 1 BvR 2272/04 <Rn 38>). (Rn.25) (Rn.33)

2c. In die Abwägung ist daher einzustellen, ob die Privatsphäre des Betroffenen oder sein öffentliches Wirken Gegenstand der Äußerung ist und welche Rückwirkungen auf die persönliche Integrität des Betroffenen von einer Äußerung ausgehen können (vgl BVerfG, 16.10.2020, 1 BvR 1024/19 <Rn 18>).(Rn.25)   (Rn.33)

2d. Der Gesichtspunkt der Machtkritik steht zudem in keinem starren Abhängigkeitsverhältnis zum "Kampf ums Recht". Eine Äußerung kann unter dem Gesichtspunkt der Machtkritik auch dann zulässig bleiben, wenn der Aspekt des "Kampfs ums Recht" nicht vorliegt. (Rn.33)

2e. Allerdings bleibt auch der Gesichtspunkt der Machtkritik in eine Abwägung eingebunden und erlaubt freilich nicht jede ins Persönliche gehende Beschimpfung von Amtsträgern. Gegenüber einer auf die Person abzielenden, insb öffentlichen Verächtlichmachung oder Hetze setzt die Verfassung allen Personen gegenüber äußerungsrechtliche Grenzen und nimmt hiervon solche des öffentlichen Lebens und Amtsträger nicht aus (vgl BVerfG, 11.05.1976, 1 BvR 671/70, BVerfGE 42, 143 <153>). Ein wirksamer Schutz der Persönlichkeitsrechte von Amtsträgern und Politikern liegt im öffentlichen Interesse. Denn eine Bereitschaft zur Mitwirkung in Staat und Gesellschaft kann nur erwartet werden, wenn für diejenigen, die sich engagieren und öffentlich einbringen, ein hinreichender Schutz ihrer Persönlichkeitsrechte gewährleistet ist (vgl BVerfG, 19.12.2021, 1 BvR 1073/20 <Rn 34f>). (Rn.26)

3. Hier:

Verletzung der Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers durch dessen strafrechtliche Verurteilung, nachdem er eine ihm weder namentlich noch persönlich bekannte Staatsanwältin in einem Schreiben an ihren Dienstvorgesetzten ua mit den Worten "selten dämlicher Staatsanwalt, der nicht lesen und schreiben" könne, bezeichnet hatte. Das Schreiben stand im Zusammenhang mit einer vorangegangenen, rechtskräftigen Verurteilung des Beschwerdeführers wegen Betruges sowie einer daran anschließenden Strafanzeige seitens des Beschwerdeführers, der die Staatsanwaltschaft nicht nachgehen wollte.

3a. Die Fachgerichte greifen bei der Prüfung des Aspekts "Kampf ums Recht" insoweit zu kurz, als sie annehmen, die Äußerung des Beschwerdeführers sei nach Eintritt der Rechtskraft des gegen ihn ergangenen Strafurteils wegen Betrugs nicht mehr zur Ausführung oder Verteidigung von Rechten erfolgt. Das streitgegenständliche Schreiben des Beschwerdeführers nimmt zum einen ausdrücklich auf das vorangegangene Ermittlungsverfahren wegen Betrugs Bezug und ist Teil eines einheitlichen Lebenssachverhalt. Es muss dem Beschwerdeführer daher grds möglich sein, in diesem Gesamtkontext vermeintlich bestehende Mängel der Ermittlungsarbeit sowie der Verfahrensführung seitens der Staatsanwaltschaft ihrer Dienstaufsicht gegenüber anzubringen. (Rn.32)

3b. Zudem berücksichtigt das LG den Aspekt der Machtkritik nicht hinreichend. Angesichts des Kontextes der Äußerung ist es fernliegend, dass der Beschwerdeführer den zuständigen, ihm weder namentlich noch persönlich bekannten Staatsanwalt in seiner Person und nicht ausschließlich dessen Amtsführung, konkret in Form der Führung des gegen ihn gerichteten Ermittlungsverfahrens, angreifen wollte. Der Beschwerdeführer wusste nicht einmal, dass seine Akte nicht von einem Staatsanwalt, sondern einer Staatsanwältin bearbeitet worden war. Sowohl das LG als auch das BayObLG unterlaufen daher den Schutz der Meinungsfreiheit in verfassungsrechtlich erheblicher Weise, wenn sie die Äußerung des Beschwerdeführers in seinem Schreiben an den Dienstvorgesetzten vom Kontext ihrer offensichtlichen Machtkritik entkleidet als persönlichen Angriff auf den zuständigen Staatsanwalt ansehen. (Rn.33)

4. Festsetzung des Gegenstandswertes auf 25.000 Euro.