BVerfG 1. Senat 2. Kammer 1 BvR 2652/03

ECLI:DE:BVerfG:2004:rk20041221.1bvr265203

Guiding Principles

1a. GG Art 103 Abs 2 GG, der auch für Bußgeldtatbestände gilt (vgl BVerfG, 1992-11-17, 1 BvR 168/89, BVerfGE 87, 363 <391>), verpflichtet den Gesetzgeber, die Voraussetzungen der Strafbarkeit und der ordnungswidrigkeitsrechtlichen Ahndung so genau zu umschreiben, dass sich Tragweite und Anwendungsbereich der Straf- und Ordnungswidrigkeitentatbestände durch Auslegung ermitteln lassen (vgl BVerfG, 2002-03-20, 2 BvR 794/95, BVerfGE 105, 135 <152 f.>).

Das schließt die Verwendung von Begriffen nicht aus, die in besonderem Maße der richterlichen Deutung bedürfen. Im Hinblick auf die Vielgestaltigkeit des Lebens ist es unvermeidlich, dass in Grenzfällen zweifelhaft sein kann, ob ein Verhalten schon oder noch unter den gesetzlichen Tatbestand fällt. Jedenfalls im Regelfall muss der Normadressat aber anhand der gesetzlichen Regelung voraussehen können, ob ein Verhalten strafbar oder als Ordnungswidrigkeit zu ahnden ist. In Grenzfällen ist auf diese Weise wenigstens das Risiko einer Verurteilung erkennbar (vgl BVerfG, 1992-10-20, 1 BvR 698/89, BVerfGE 87, 209 <224>).

1b. Hier: Für den Beschwerdeführer erkennbares Risiko der Begehung einer Ordnungswidrigkeit nach StVG § 24a Abs 2, der nicht gegen das Bestimmtheitsgebot des GG Art 103 Abs 2 GG verstößt.

2a. Zu dem aus GG Art 3 Abs 1 folgenden Gebot, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln und der Rechtfertigung gesetzgeberischer Differenzierungen vgl BVerfG, 1999-04-28, 1 BvL 22/95, BVerfGE 100, 59 <90>.

2b. Knüpft der Gesetzgeber beim Verbot des Fahrens unter Alkohol an qualifizierte Grenzwerte (StVG § 24a Abs 1) hingegen beim Verbot des Fahrens unter dem Einfluss bestimmter Drogen an eine Nullwertgrenze (StVG § 24a Abs 2) an, so steht dies jedenfalls dann mit GG Art 3 Abs 1 in Einklang, wenn – wie vorliegend - bei den einzelnen Drogen im Vergleich zum Alkohol noch nicht die Möglichkeit einer Quantifizierung der Dosiswirkungsbeziehung bestehe. Dieser Umstand ist so gewichtig, dass er die unterschiedliche Regelung sachlich zu rechtfertigen vermag.

3. GG Art 2 Abs 1 erfasst auch das Führen von Kraftfahrzeugen im öffentlichen Straßenverkehr. Die Handlungsfreiheit ist aber nicht unbegrenzt garantiert, sondern darf zum Schutz eines kollidierenden Rechtsguts unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes beschränkt werden (vgl BVerfG, 2002-06-20, 1 BvR 2062/96, NJW 2002, 2378).

3a. StVG § 24a Abs 2 S 1 u 2 dient als abstraktes Gefährdungsdelikt der Erhöhung der Sicherheit im Straßenverkehr und damit dem Schutz wichtiger Rechtsgüter wie insbesondere dem Leben, der Gesundheit und dem Eigentum der Verkehrsteilnehmer.

3b. Die Regelung ist zur Erreichung des vorgenannten Ziels geeignet, weil mit ihrer Hilfe der erstrebte Erfolg gefördert werden kann (vgl BVerfG, 1994-03-09, 2 BvL 43/92, BVerfGE 90, 145 <172>) – wird ausgeführt.

3c. Im Hinblick auf das Fehlen einer mit der erforderlichen naturwissenschaftlichen Genauigkeit zu ziehenden Grenze zwischen ungefährlichen und gefährlichen Wirkstoffmengen, stehen dem Gesetzgeber derzeit exaktere und damit mildere Wege der Tatbestandsfixierung nicht zur Verfügung. Die Erforderlichkeit des Eingriffs kann deshalb nicht grundsätzlich in Zweifel gezogen werden(vgl BVerfG, 1994-03-09, 2 BvL 43/92, BVerfGE 90, 145 <172>).

3d. Schließlich wahren StVG § 24a Abs 2 S 1 u 2 bei der durch die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne gebotenen Gesamtabwägung der Schwere des Eingriffs in die Handlungsfreiheit einerseits und dem Gewicht und Dringlichkeit der ihn rechtfertigenden Gründe andererseits grundsätzlich die Grenze der Zumutbarkeit für die Betroffenen (vgl BVerfG, 1990-10-17, 1 BvR 283/85, BVerfGE 83, 1 <19>).

aa. StVG § 24a Abs 2 kann allerdings inzwischen auch zu Ergebnissen führen, die dem Einzelnen nicht mehr zugemutet werden können und vom Gesetzgeber auch nicht gewollt sind:

Die „Wirkung" eines berauschenden Mittels iSv StVG § 24a Abs 2 S 1 soll nach S 2 dann vorliegen, wenn im Blut eine in der Anlage genannte Substanz (bei Cannabis THC) nachgewiesen wird. Dabei ist der Gesetzgeber ausdrücklich davon ausgegangen, dass die Wirkungs- und Nachweisdauer bei den einzelnen Mitteln übereinstimmen: Solange im Blut Substanzen eines der genannten Rauschmittel nachweisbar sind, könne angenommen werden, dass die Fahrtüchtigkeit des Kraftfahrzeugführers eingeschränkt und eine Sanktionierung nach dieser Vorschrift möglich ist.

Infolge des technischen Fortschritts hat sich inzwischen die Nachweisdauer für das Vorhandensein von THC wesentlich erhöht. Spuren der Substanz lassen sich nunmehr über mehrere Tage, unter Umständen sogar Wochen nachweisen. Für Cannabis trifft daher die Annahme des Gesetzgebers von der Identität der Wirkungs- und Nachweiszeit nicht mehr zu. Mit Rücksicht darauf kann nicht mehr jeder Nachweis von THC im Blut eines Verkehrsteilnehmers für eine Verurteilung nach StVG § 24a Abs 2 ausreichen.

bb. Die Vorschrift ist vielmehr verfassungskonform auszulegen:

Festgestellt werden muss eine Konzentration, die es entsprechend dem Charakter der Vorschrift als eines abstrakten Gefährdungsdelikts als möglich erscheinen lässt, dass der untersuchte Kraftfahrzeugführer am Straßenverkehr teilgenommen hat, obwohl seine Fahrtüchtigkeit eingeschränkt war. Das wird in der Wissenschaft zum Teil erst bei Konzentrationen von über 1 ng/ml angenommen (vgl Stellungnahmen von Berghaus, BA 2002, S. 321 <328 f.>, und Krüger, BA 2002, S. 336 <344 ff> in BVerfG, 2002-06-20, 1 BvR 2062/96, NJW 2002, 2378).

Zu den in der Rspr zugrunde gelegten Grenzwerten vgl BayObLG, 2003-01-20,4 St RR 133/02, NJW 2003, 1681.

4. Prüfen die Fachgerichte – wie vorliegend – nicht, ob die Annahme des Gesetzgebers von der Identität der Wirkungs- und Nachweiszeit für Rauschmittel der hier in Rede stehenden Art weiterhin zutrifft, sondern stellen sie bei Auslegung und Anwendung des StVG § 24a Abs 2 allein darauf ab, dass im Blut des Beschwerdeführers THC im Spurenbereich von weniger als 0,5 ng/ml festgestellt worden war, so ist die hierauf ergehende Entscheidung mit dem Grundrecht aus GG Art 2 Abs 1 nicht vereinbar.