BVerfG 1. Senat 2. Kammer 1 BvR 1073/20

ECLI:DE:BVerfG:2021:rk20211219.1bvr107320

Guiding Principles

1a. Steht eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch eine Äußerung in Rede, so erfordert die Annahme einer Beleidigung nach § 185 StGB – auf der zutreffenden Sinnermittlung aufbauend – grds eine abwägende Gewichtung der Beeinträchtigungen, die den betroffenen Rechtsgütern und Interessen, hier also der Meinungsfreiheit und der persönlichen Ehre, drohen (vgl BVerfG, 19.05.2020, 1 BvR 2397/19 <Rn 15>). (Rn.29)

1b. Eine Abwägung ist nur ausnahmsweise entbehrlich, wenn die streitgegenständliche Äußerung sich als Schmähung oder Schmähkritik, als Formalbeleidigung oder als Angriff auf die Menschenwürde darstellt (aaO <Rn 17>). (Rn.29)

Die Fachgerichte verkennen Bedeutung und Tragweite des Persönlichkeitsrechts, wenn sie davon ausgehen, eine Beleidigung iSd § 185 StGB liege aus verfassungsrechtlichen Gründen nur dann vor, wenn die streitgegenständliche Äußerung "lediglich als persönliche Herabsetzung und Schmähung" zu verstehen sei. (Rn.40)

1c. Liegt keine dieser eng umgrenzten Ausnahmekonstellationen vor, so bedarf es in der gebotenen grundrechtlich angeleiteten Abwägung einer umfassenden Auseinandersetzung mit den konkreten Umständen des Falles und der Situation, in der die Äußerung erfolgte. Zu den hierbei zu berücksichtigenden Umständen können insbesondere Inhalt, Form, Anlass und Wirkung der betreffenden Äußerung sowie Person und Anzahl der Äußernden, der Betroffenen und der Rezipienten gehören (aaO <Rn 27>). (Rn.30)   (Rn.45)

aa. Das bei der Abwägung anzusetzende Gewicht der Meinungsfreiheit ist umso höher, je mehr die Äußerung darauf zielt, einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung zu leisten, und umso geringer, je mehr es hiervon unabhängig lediglich um die emotionalisierende Verbreitung von Stimmungen gegen einzelne Personen geht (aaO <Rn 29> mwN). (Rn.31)

bb. Bei der Gewichtung der durch eine Äußerung berührten grundrechtlichen Interessen ist zudem davon auszugehen, dass der Schutz der Meinungsfreiheit gerade aus dem besonderen Schutzbedürfnis der Machtkritik erwachsen ist und darin unverändert seine Bedeutung findet. Allerdings bleiben die Gesichtspunkte der Machtkritik und der Veranlassung durch vorherige eigene Wortmeldungen im Rahmen der öffentlichen Debatte in eine Abwägung eingebunden und erlauben nicht jede auch ins Persönliche gehende Beschimpfung von Amtsträgerinnen und Amtsträgern oder Politikerinnen und Politikern. (Rn.32) (Rn.34)

Gegenüber einer auf die Person abzielenden, insbesondere öffentlichen Verächtlichmachung oder Hetze setzt die Verfassung allen Personen gegenüber äußerungsrechtliche Grenzen und nimmt hiervon Personen des öffentlichen Lebens und Amtsträgerinnen und Amtsträger nicht aus. Auch hier sind Äußerungen desto weniger schutzwürdig, je mehr sie sich von einem Meinungskampf wegbewegen und die Herabwürdigung der betreffenden Personen in den Vordergrund tritt. Welche Äußerungen sich Personen des öffentlichen Lebens gefallen lassen müssen und welche nicht, liegt dabei nicht nur an Art und Umständen der Äußerung, sondern auch daran, welche Position sie innehaben und welche öffentliche Aufmerksamkeit sie für sich beanspruchen.  (Rn.34)

cc. Dabei liegt insbesondere unter den Bedingungen der Verbreitung von Informationen durch "soziale Netzwerke" im Internet ein wirksamer Schutz der Persönlichkeitsrechte von Amtsträgerinnen und Amtsträgern sowie Politikerinnen und Politikern über die Bedeutung für die jeweils Betroffenen hinaus im öffentlichen Interesse, was das Gewicht dieser Rechte in der Abwägung verstärken kann. Denn eine Bereitschaft zur Mitwirkung in Staat und Gesellschaft kann nur erwartet werden, wenn für diejenigen, die sich engagieren und öffentlich einbringen, ein hinreichender Schutz ihrer Persönlichkeitsrechte gewährleistet ist (aaO <Rn 32>). (Rn.35)

dd. Mit Blick auf Form und Begleitumstände einer Äußerung kann nach den Umständen des Falles insbesondere erheblich sein, ob sie ad hoc in einer hitzigen Situation oder im Gegenteil mit längerem Vorbedacht gefallen ist. Bei schriftlichen Äußerungen kann im Allgemeinen ein höheres Maß an Bedacht und Zurückhaltung erwartet werden. Dies gilt grds auch für textliche Äußerungen in den "sozialen Netzwerken" im Internet. In diesem Zusammenhang ist ebenfalls erheblich, ob und inwieweit für die betreffende Äußerung ein konkreter und nachvollziehbarer Anlass bestand oder ob sie aus nichtigen oder vorgeschobenen Gründen getätigt wurde (aaO <Rn 33>). (Rn.36)

2. Hier:

Die angegriffene Entscheidung des KG genügt den verfassungsrechtlichen Maßgaben nicht, da sie insb im Zuge einer fehlerhaften Maßstabsbildung letztlich eine Beleidigung mit Schmähkritik gleichsetzt. Aufgrund dessen hat sich das Gericht hinsichtlich der streitgegenständlichen Äußerungen mit der Abwägung der Gesichtspunkte des Einzelfalls nicht auseinandergesetzt. Hierin liegt eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts der Beschwerdeführerin. Bereits dieser – praktisch vollständige – Abwägungsausfall muss zur Aufhebung der angegriffenen Entscheidung führen. (Rn.40) (Rn.41) (Rn.46)   (Rn.47) (Rn.48)

3. Festsetzung des Gegenstandswertes auf 25.000 Euro