Guiding Principles
1. Das Recht eines Paares, Kinder zu zeugen und zu diesem Zweck Möglichkeiten der Fortpflanzungsmedizin zu nutzen, ist vom Recht auf Schutz des Privat- und Familienlebens gem Art 8 MRK umfasst. (§ 82)
2. Bei der Bestimmung des Beurteilungsspielraums der Mitgliedsstaaten bei Entscheidungen im Rahmen des Art 8 MRK müssen verschiedene Faktoren berücksichtigt werden. So ist der Beurteilungsspielraum in Angelegenheiten weiter, in denen unter den Mitgliedsstaaten kein Konsens besteht, und insb dann, wenn ein Fall sensible moralische und ethische Fragen aufwirft (vorliegend jeweils bejaht). Gleiches gilt, wenn ein Mitgliedsstaat einen Ausgleich zwischen konkurrierenden privaten und öffentlichen Interessen oder konventionalen Rechten finden muss. (§ 94 ff)
3. Was die Vereinbarkeit des Verbots der In-vitro-Fertilisation unter Nutzung einer gespendeten Eizelle mit den Anforderungen des Art 8 Abs 2 MRK betrifft, hätte der österreichische Gesetzgeber zwar andere rechtliche Regelungen treffen können. Ausschlaggebend ist hier aber nicht, ob eine andere Regelung einen gerechteren Ausgleich hätte bewirken können, sondern, ob der getroffene Ausgleich noch innerhalb des Beurteilungsspielraums des Mitgliedsstaates liegt. Hinsichtlich der Zulässigkeit der Eizellenspende fehlt es jedoch an einem hinreichend etablierten europäischen Konsens. (§§ 98 ff; 106)
4. Hinsichtlich des Verbotes der Samenspende zur In-vitro-Fertilisation ist der Gerichtshof nicht von der Argumentationslinie des Kammerurteils vom 01.04.2010 im vorliegenden Verfahren überzeugt. Vielmehr muss der gesetzliche Regelungskomplex in seiner Gesamtheit betrachtet werden. (§§ 108ff; 112)
Wie im Falle der Zulässigkeit der Eizellenspende berücksichtigte die Regierung auch hier, dass das Verbot der heterologen Insemination im Rahmen eines technisch anspruchsvollen medizinischen Vorgehens eine kontroverse Frage in der österreichischen Gesellschaft darstellte, die sensible moralische und ethische Fragen aufwarf, und zu der noch kein gesellschaftlicher Konsens bestand. (§ 113)
5. Im Ergebnis hat der österreichische Gesetzgeber im relevanten Zeitpunkt seinen Beurteilungsspielraum nicht überschritten, weder mit Blick auf das Verbot der Eizellenspende zum Zwecke der künstlichen Fortpflanzung noch hinsichtlich des Verbots der Samenspende zum Zwecke der In-vitro-Fertilisation. Mithin ist Art 8 MRK nicht verletzt. (§§ 115, 116)
Es besteht keine Veranlassung zur Prüfung des Falles im Lichte des Art 14 MRK, da die Beschwerde in ihrer Substanz bereits hinreichend im Rahmen der Prüfung einer Verletzung des Art 8 MRK behandelt wurde. (§ 120)
6. Abweichende Meinungen 1 (Richter de Gaetano): Zustimmung zur Mehrheitsmeinung im Ergebnis, jedoch Betonung der Relevanz der Menschenwürde im vorliegenden Kontext.
7. Abweichende Meinung 2 (Richterinnen und Richter Tulkens, Hirvelä, Lazarova Trajkovska und Tsotsoria): Bejahung einer Verletzung von Art 8 MRK hinsichtlich aller vier Beschwerdeführer.
7a. Die Mehrheitsmeinung berücksichtigt ua unzureichend die tiefgreifenden Änderungen in den Bereichen von Medizin, Gesellschaft und Ethik seit dem Urteil des Verfassungsgerichtshofs Wien aus dem Jahr 1999.
7b. Zudem ist fraglich, ob es tatsächlich an einem Konsens hinsichtlich der Zulässigkeit fortpflanzungsmedizinischer Techniken fehlte, was den Beurteilungsspielraum der Regierung verkleinern würde. Betont wird die zentrale Bedeutung der Frage, welche Weite der Beurteilungsspielraum hatte.
7c. Problematisch wird ua das Argument gesehen, dass die vom in Rede stehenden Verbot betroffenen Paare eine fortpflanzungsmedizinische Behandlung im Ausland nutzen könnten.