Kilian Wegner Strafrecht AT I: Übungsfälle Licensed under CC-BY-4.0

Einheit 6: Rechtfertigender Notstand (Lösung)

Fall 1

F könnte sich gem. § 212 Abs. 1 StGB strafbar gemacht haben, indem sie den M erschossen hat.

Tatbestand

Der objektive und subjektive Tatbestand des Totschlags sind erfüllt.

Rechtswidrigkeit

Die Tötung von M durch F könnte jedoch nach § 32 StGB oder § 34 StGB gerechtfertigt gewesen sein.

Rechtfertigung nach § 32 StGB

Eine Rechtfertigung der F nach § 32 StGB setzt zunächst eine Notwehrlage in Form eines gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriffs auf ein notwehrfähiges Rechtsgut voraus. Die Gewalttaten, die M gegen F und die gemeinsamen Töchter verübte, sind ohne weiteres als rechtswidrige Angriffe in diesem Sinne zu qualifizieren. Als F auf den schlafenden M schoss, fand ein solcher Angriff jedoch weder augenblicklich statt, noch stand er unmittelbar bevor. Mangels eines gegenwärtigen Angriffs fehlt es damit schon an einer Notwehrlage. Eine Rechtfertigung der F nach § 32 StGB scheidet damit aus.

Rechtfertigung nach § 34 StGB

Möglicherweise kann sich F aber darauf berufen, in einem rechtfertigenden Notstand gem. § 34 StGB gehandelt zu haben.

Notstandslage

Dazu müsste F sich zunächst in einer Notstandslage befunden haben. Eine Notstandslage setzt eine gegenwärtige Gefahr für ein notstandsfähiges Rechtsgut voraus. Dabei sind die Anforderungen an die Gegenwärtigkeit der drohenden Gefahr niedriger als bei der Notwehr. Gefahr im Sinne der Vorschrift ist auch eine Dauergefahr. Sie begründet einen rechtfertigenden Notstand, wenn sie so dringend ist, dass sie jederzeit in einen Schaden umschlagen kann, mag auch die Möglichkeit offenbleiben, dass der Eintritt des Schadens noch eine Zeitlang auf sich warten lässt. Bei Bestehen einer gegenwärtigen Dauergefahr braucht sich die Abwehr nicht darauf zu beschränken, den sofortigen Eintritt des Schadens zu hindern, die Gefahr also nur hinauszuschieben.

Im vorliegenden Fall waren sowohl F als auch ihre Töchter willkürlichen Gewalttaten durch M ausgesetzt, deren genauen Eintrittszeitpunkt die drei Frauen zwar nicht kannten, die jedoch jederzeit gegen sie ausgeübt werden konnten. Im Tatzeitpunkt lag folglich eine Dauergefahr für Leib und Leben von Mutter und Töchtern vor. Damit befand F sich in einer Notstandslage.

Erforderliche und verhältnismäßige Notstandshandlung

Eine Rechtfertigung nach § 34 StGB kommt nur in Betracht, wenn die Reaktion der F ein erforderliches und verhältnismäßiges Mittel zur Abwehr dieser Notstandslage dargestellt hat.

Erforderlichkeit

Erforderlich ist eine Notstandshandlung, wenn die betroffene Person kein milderes Mittel hätte ergreifen können, das gleichermaßen zur Gefahrenabwehr geeignet gewesen wäre. Im Fall von F wäre es denkbar gewesen, dass sie zu ihrem Schutz die Polizei oder eine vergleichbare staatliche Stelle verständigt. Möglicherweise hätte M von dieser Maßnahme jedoch erfahren und hätte – sofern er nicht sogleich in Haft genommen worden wäre – gewaltsam Rache an F geübt. Es ist also zumindest zweifelhaft, ob eine Anzeige bei der Polizei oder einer anderen staatlichen Stelle ein zur Gefahrenabwehr gleich geeignetes Mittel wie die Tötung gewesen wäre.

Verhältnismäßigkeit

Auf die Frage der Erforderlichkeit der Notstandshandlung käme es jedoch letztlich nicht an, wenn F jedenfalls in unverhältnismäßiger Weise auf die Notstandslage reagiert hätte. Das wäre dann der Fall, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte nicht wesentlich überwiegt. F wollte durch die Tötung von M das Rechtsgut des Lebens und der Gesundheit bzw. körperlichen Unversehrtheit von sich und ihren Töchtern schützen und hat zu diesem Zweck in das Rechtsgut Leben von M eingegriffen. Im Rahmen von § 34 StGB kann allerdings wegen der engen Verknüpfung des menschlichen Lebens mit der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) nicht davon ausgegangen werden, dass der Wert eines Menschenlebens den Wert eines anderen Menschenlebens wesentlich überwiegt. Eine Abwägung „Leben gegen Leben“ darf nach ganz herrschender Auffassung bei der Anwendung dieser Vorschrift also nicht vorgenommen werden. Die Notstandshandlung von F war folglich unverhältnismäßig.

Zwischenergebnis

Das Verhalten von F ist nicht gem. § 34 StGB gerechtfertigt.

Schuld

Entschuldigungsgründe sind – wenn man § 35 StGB nicht berücksichtigt – für das Verhalten von F nicht ersichtlich. Sie handelte schuldhaft.

Hinweis: Es wäre hier durchaus denkbar, dass die Schuld von F entfällt, weil sie sich auf einen entschuldigenden Notstand (§ 35 Abs. 1 StGB) oder auf einen Entschuldigungstatumstandsirrtum (§ 35 Abs. 2 StGB) berufen kann. Diese Rechtsinstitute werden Ihnen aber erst in der nächsten Unterrichtseinheit näher vorgestellt, so dass auf eine detaillierte Darstellung hier verzichtet wurde.

Ergebnis

F hat sich gem. § 212 Abs. 1 StGB strafbar gemacht.

Fall 2

M könnte sich gem. §§ 223224 Abs. 1 Nr. 2 Var. 1 StGB strafbar gemacht haben, indem er auf S schoss.

Tatbestand

M hat S vorsätzlich mit einer Waffe körperlich misshandelt und an der Gesundheit geschädigt. Die Tatbestandsvoraussetzungen der §§ 223224 Abs. 1 Nr. 2 Var. 1 StGB sind damit erfüllt.

Rechtfertigung

Möglicherweise ist das Verhalten von M jedoch gerechtfertigt.

Vorläufige Festnahme gem. § 127 Abs. 1 StPO

Denkbar wäre, dass M sich auf das Jedermanns-Festnahmerecht gem. § 127 Abs. 1 StPO berufen kann. Dann müsste dieser Rechtfertigungstatbestand allerdings auch den Einsatz von Schusswaffen erlauben, was jedoch selbst nach der weitesten dazu vertretenen Ansicht nur dann der Fall ist, wenn es um die Dingfestmachung eines Kapitalverbrechers geht. Da eine solche Konstellation hier nicht vorliegt, ist M nicht gem. § 127 Abs. 1 StPO gerechtfertigt.

Notwehr gem. § 32 StGB

Möglicherweise hat M aber in Notwehr gehandelt.

Notwehrlage

Dafür müsste zunächst eine Notwehrlage in Form eines gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriffs auf ein notwehrfähiges Rechtsgut vorliegen. Durch das Eindringen in das Haus von M und F hat S in rechtswidriger Weise in den Hausfrieden sowie in die Privatsphäre der Eheleute M und F eingegriffen. Dieser Angriff wäre aber nur dann gegenwärtig, wenn er im Zeitpunkt des Schusswaffengebrauchs noch andauert oder unmittelbar bevorsteht. Als M auf S schoss, war dieser jedoch bereits auf der Flucht, so dass man argumentieren könnte, der Angriff sei bereits beendet gewesen. Andererseits ließe sich aber auch behaupten, der Angriff habe so lange angedauert, wie S sich auf dem Grundstück des Ehepaars befand.

Geeignete, erforderliche und angemessene Notwehrhandlung

Diese Frage müsste aber letztlich nicht entschieden werden, wenn eine Rechtfertigung durch Notwehr im vorliegenden Fall ohnehin daran scheitern würde, dass die Notwehrhandlung des M nicht erforderlich gewesen ist. Hätte M nicht auf S geschossen, wäre dieser gleichwohl vom Grundstück geflohen und hätte den Angriff auf den Hausfrieden sowie die Privatsphäre der Eheleute damit beendet. Das bloße Zuwarten auf die Flucht des S wäre also gegenüber dem Schusswaffengebrauch ein milderes, gleich geeignetes Mittel gewesen, so dass die Notwehrhandlung des M nicht als erforderlich anzusehen ist. Insofern kann auch nicht darauf abgestellt werden, dass die Handlung es M erforderlich war, weil nur so zukünftige Angriffe durch S abgewehrt werden konnten, denn eine solche Form der Präventivnotwehr würde das eingriffsintensive Notwehrrecht in unzulässiger Weise ausweiten.

M ist folglich nicht nach § 32 StGB gerechtfertigt.

Notstand gem. § 34 StGB

Dafür könnte aber eine Rechtfertigung nach § 34 StGB erfolgen.

Notstandslage

M musste jede Nacht damit rechnen, dass S den Hausfrieden und die Privatsphäre der Familie erneut verletzen würde, es liegt also – wie in Fall 1 – eine sog. Dauergefahr und damit eine Notstandslage vor.

Erforderliche und verhältnismäßige Notstandshandlung

Die von M ergriffene Notstandshandlung müsste auch erforderlich und verhältnismäßig gewesen sein, um die von S ausgehende Gefahr abzuwenden.

Erforderlichkeit

Erforderlich ist eine Notstandshandlung, wenn es kein milderes, gleich geeignetes Mittel zur Gefahrenabwehr gibt. M hatte in der Vergangenheit bereits mehrfach versucht, S zu fangen und dazu auch die Polizei um Hilfe gebeten. Es stellte sich jedoch heraus, dass diese Mittel nicht geeignet waren, den S von seinen Angriffen abzuhalten. Der Schusswaffengebrauch ist deshalb als erforderliches Mittel zur Abwehr der Gefahr durch S anzusehen.

Verhältnismäßigkeit

Die Notstandshandlung ist ferner als verhältnismäßig zu betrachten, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Rechtsgüter das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Im vorliegenden Fall ist diese Abwägung zwischen dem geschützten Rechtsgut des Hausfriedens bzw. der Privatsphäre der Eheleute M und F einerseits und dem beeinträchtigten Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit von S andererseits vorzunehmen.

Dass das Rechtsgut des Hausfriedens bzw. der Privatsphäre abstrakt – also in jedem Fall – wesentlich gewichtiger wäre als die körperliche Unversehrtheit eines Menschen, lässt sich nicht behaupten. Im hier vorliegenden Einzelfall ist jedoch festzustellen, dass die Gefahr, die von S für den Hausfrieden bzw. die Privatsphäre von M und F ausgeht, dazu führt, dass das Ehepaar kaum noch am öffentlichen Leben teilnehmen kann, in seiner Persönlichkeitsentfaltung massiv eingeschränkt ist und mittelbar sogar gesundheitliche Schäden in Form von Schlafstörungen erleidet. Es liegt also konkret ein besonders schwerer Eingriff in die genannten Rechtsgüter vor. Jedoch handelt es sich – auf der anderen Seite – auch bei den Verletzungen der körperlichen Unversehrtheit von S durch die Schüsse in die Gesäßhälfte und in die Flanke durchaus um eine mittelschwere bis schwere Beeinträchtigung, so dass Zweifel bestehen, ob das geschützte Interesse von M das beeinträchtige Interesse von S wesentlich überwiegt.

An dieser Stelle ist jedoch der Rechtsgedanke von § 228 S. 1 BGB (Defensivnotstand) heranzuziehen, wonach der Verursacher einer Gefahr einen Eingriff in seine Rechtsgüter zur Gefahrenabwehr hinnehmen muss, solange dieser Eingriff nicht außer Verhältnis zum dadurch geschützten Interesse steht, d. h. auf ein wesentliches Überwiegen des geschützten Interesses kommt es in diesen Fällen nicht an. Im vorliegenden Fall ist S selbst die Gefahrenquelle, die den Hausfrieden und die Privatsphäre des Ehepaars M und F bedroht, so dass es in dieser Konstellation genügt, wenn die Beeinträchtigung seiner körperlichen Unversehrtheit nicht völlig außer Verhältnis zu der drohenden Gefahr für die Rechtsgüter von M und F steht. Das ist angesichts der besonders schweren Beeinträchtigung dieser Rechtsgüter nicht der Fall. Die erforderliche Notstandshandlung des M ist folglich verhältnismäßig.

Subjektives Rechtfertigungselement

M handelte darüber hinaus auch mit dem Willen zur Gefahrenabwehr, so dass das subjektive Rechtfertigungselement erfüllt ist.

Zwischenergebnis

Der Schusswaffengebrauch des M war durch § 34 StGB gerechtfertigt.

Ergebnis

M hat sich nicht gem. §§ 223224 Abs. 1 Nr. 2 Var. 1 StGB strafbar gemacht.

Hinweis: In der Klausur zeichnet sich eine gute Bearbeitung von Notstandsfällen vor allem durch eine strukturierte Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Notstandshandlung aus. In einem ersten Schritt sollten Sie hier die widerstreitenden Rechtsgüter identifizieren. Bei der dann folgenden abstrakten Abwägung dieser Rechtsgüter werden Sie nur in seltenen Fällen zu dem Ergebnis kommen, dass das geschützte Rechtsgut (= Erhaltungsgut) in jedem denkbaren Fall gewichtiger ist als das durch die Notstandshandlung beeinträchtigte Rechtsgut (= Eingriffsgut). Umso wichtiger ist es deshalb, dass Sie sich in einem dritten Schritt intensiv mit dem Grad der Eingriffsintensität im konkreten Einzelfall auseinandersetzen. Sie sollten hierbei die Sachverhaltsinformationen möglichst vollständig auswerten. In Fällen, in denen die durch die Notstandshandlung beeinträchtigte Person die Notstandslage selbst zu verantworten hat, ist dabei der Rechtsgedanke des § 228 S. 1 BGB heranzuziehen. Das führt im Ergebnis dazu, dass ein solcher Gefahrverursacher einen stärkeren Eingriff in seine Rechtsgüter hinzunehmen hat als eine völlig unbeteiligte Person.

Fall 3

A, B und C könnten sich wegen Sachbeschädigung gem. § 303 Abs. 1 Var. 2 StGB strafbar gemacht haben, indem sie die genveränderten Weizenpflanzen aus dem Versuchsfeld entfernt haben.

Tatbestand

Bei den Weizenpflanzen handelt es sich um körperliche Gegenstände i. S. v. § 90 BGB und damit auch um Sachen gem. § 303 Abs. 1 StGB. Durch die Entfernung der Weizenpflanzen mit Hacken und Harken haben A, B und C diese Sachen in ihrer Substanz soweit beschädigt, dass sie als Versuchspflanzen nicht mehr brauchbar sind und sie mithin i. S. v. § 303 Abs. 1 Var. 2 StGB zerstört. Die Pflanzen standen im Eigentum des IPK oder eines Zulieferers des IPK, so dass es sich dabei um für A, B und C fremde Sachen handelte. Den Zerstörungserfolg haben A, B, C auch vorsätzlich herbeigeführt, so dass der Tatbestand von § 303 Abs. 1 Var. 2 StGB erfüllt ist.

Rechtfertigung

Möglicherweise ist das Verhalten von A, B und C jedoch wegen eines Defensivnotstandes gem. § 228 S. 1 BGB gerechtfertigt.

Hinweis: Der § 228 S. 1 BGB ist lex specialis gegenüber dem § 34 StGB und deshalb im Gutachten vorrangig zu prüfen! (a. A. vertretbar)

Notstandslage

Dazu müsste zunächst eine Notstandslage in Form einer Gefahr vorliegen, die durch eine fremde Sache droht. Eine Gefahr i. S. v. § 228 S. 1 BGB liegt vor, wenn eine gewisse Wahrscheinlichkeit für einen alsbald erfolgenden Rechtsgutschaden vorliegt.

Hinweis: Auf die „Gegenwärtigkeit“ der Gefahr kommt es bei § 228 S. 1 BGB anders als bei § 34 StGB und – stärker noch – bei § 32 StGB nicht an!

A, B und C berufen sich auf die Gefahr, durch unkontrolliert verbreitete genveränderte Weizenpflanzen in ihrer Gesundheit geschädigt zu werden. Ob solche genveränderten Weizenpflanzen entsprechende Gesundheitsschäden verursachen können, ist nicht geklärt, d. h. es besteht zumindest die abstrakte Gefahr, dass solche Schäden eintreten können. Das ist für die Annahme einer Notstandslage ausreichend.

Hinweis: Dass die Gefahr, die von dem Feldversuch ausgeht, grundsätzlich – von den verletzten Auflagen abgesehen – durch eine Genehmigung des Bundesamts für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit gedeckt ist, findet bei der Feststellung einer Notstandslage keine Berücksichtigung. Anders als bei § 32 StGB, wo ein rechtswidriger Angriff vorliegen muss, kann eine Notstandslage unabhängig von der Rechtswidrigkeit eines gefahrverursachenden Verhaltens vorliegen. Solche Aspekte sind jedoch bei der Frage anzusprechen, ob die Notstandshandlung ein zur Gefahrenabwehr verhältnismäßiges Mittel war.

Erforderliche und verhältnismäßige Notstandhandlung

Das Verhalten von A, B und C müsste ferner ein erforderliches und verhältnismäßiges Mittel gewesen sein, um die Notstandslage zu überwinden.

Erforderlichkeit

Erforderlich ist eine Notstandshandlung, wenn es kein milderes, gleich geeignetes Mittel zur Gefahrenabwehr gibt. A, B und C haben sich erfolglos bei den zuständigen Behörden darüber beschwert, dass das IPK die notwendigen Auflagen, die zum Schutz vor einer unkontrollierten Verbreitung der Weizenpollen in der Versuchsanlage installiert werden müssten, nicht eingerichtet hat. Dieses im Vergleich zur Zerstörung der Pflanzen mildere Mittel hat sich also als zur Gefahrenabwehr ineffektiv erwiesen. Es hätte gleichwohl noch die Möglichkeit bestanden, die zuständigen Aufsichtsbehörden mittels einer verwaltungsrechtlichen Verpflichtungsklage (§ 42 Abs. 1 VwGO) zum Einschreiten gegen das IPK zu zwingen. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass eine unkontrollierte Verbreitung der Weizenpollen jederzeit hätte stattfinden können und ein verwaltungsgerichtliches Verfahren – selbst unter Zuhilfenahme des Eilrechtsweges (§ 123 Abs. 1 S. 1 VwGO) – die Notstandslage möglicherweise nicht schnell genug abgewendet hätte. Ein gerichtliches Vorgehen wäre also im Vergleich zu der „Feldbefreiung“ nicht gleichermaßen effektiv gewesen. Die Aktion von A, B und C war folglich zur Abwendung der Notstandslage erforderlich.

Verhältnismäßigkeit

Die Notstandshandlung wäre auch verhältnismäßig, wenn der Schaden an den Pflanzen nicht außer Verhältnis zu der abgewehrten Gefahr stünde.

Schwere des Eingriffs

Materiell hat das IPK durch die Zerstörung der Pflanzen einen Schaden i. H. v. 500 EUR erlitten, was zwar keinen unerheblichen, aber auch keinen besonders hohen Schaden darstellt. Zusätzlich ist aber zu berücksichtigen, dass das Institut den Feldversuch mit einer Genehmigung der zuständigen Aufsichtsbehörde im Rahmen seiner verfassungsrechtlich garantierten Forschungsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG) ausgeübt hat, was sich vor dem Hintergrund des Grundsatzes der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte auch in dem Rechtsverhältnis zwischen A, B, C und dem IPK auswirkt. Dieses Argument wird jedoch dadurch relativiert, dass das IPK die notwendigen Schutzauflagen nicht eingehalten und insofern im Widerspruch zur Rechtsordnung gehandelt hat. In der Gesamtschau liegt damit höchstens ein mittelschwerer Eingriff in die Rechtsposition des IPK vor.

Gewicht des durch die Notstandshandlung geschützten Rechtsguts

A, B und C berufen sich zur Rechtfertigung ihres Handelns auf den Schutz von Leib und Leben für sich und andere Menschen, die Gesundheitsschäden durch die unkontrollierte Ausbreitung der genveränderten Pflanzen erleiden könnten. Diesen Rechtsgütern kommt wegen ihres engen Bezugs zur Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG abstrakt ein hohes Gewicht zu. Konkret ist allerdings schwer zu beurteilen, wie hoch die Eintrittswahrscheinlichkeit der befürchteten Schäden im vorliegenden Fall tatsächlich ist, was die Rechtsposition von A, B und C im Grundsatz schwächt. Das gilt aber dann nicht, wenn der drohende Rechtsgutschaden im Falle seines Eintritts besonders groß wäre, weil das Vorsichtsprinzip als Leitgedanke des Gefahrenabwehrrechts in solchen Fällen auch bei geringer Eintrittswahrscheinlichkeit einer Gefahr deren Abwehr gestattet. Sollte sich im vorliegenden Fall herausstellen, dass die genveränderten Weizenpflanzen tatsächlich Gesundheitsschäden für den Menschen verursachen, hätte das nach einer unkontrollierten Verbreitung des entsprechenden Saatguts katastrophale Folgen für weite Teile der (Welt-)Bevölkerung. Dieses Szenario würde einen derart schweren Schaden für die Gesundheit vieler Menschen verursachen, dass seiner Abwehr schon bei einer geringen Eintrittswahrscheinlichkeit ein hohes Gewicht zukommt.

Relation

Damit steht der von dem IPK erlittene Schaden jedenfalls nicht außer Verhältnis zu dem Gewicht des von A, B und C geschützten Interesses. Die Zerstörung der Pflanzen war folglich eine verhältnismäßige Maßnahme, um die Notstandslage abzuwenden.

Hinweis: Die Gegenauffassung ist natürlich vertretbar. Bei einer gutachterlichen Abwägungsentscheidung kommt es in der Klausur nicht auf das Ergebnis, sondern auf eine strukturierte und gedanklich nachvollziehbare Argumentation an!

Subjektives Rechtfertigungselement

A, B und C haben ihre Aktion auch mit dem Ziel durchgeführt, die Notstandslage abzuwehren.

Zwischenergebnis

Das Verhalten von A, B und C war gem. § 228 S. 1 BGB gerechtfertigt.

Ergebnis

A, B und C haben sich nicht gem. § 303 Abs. 1 Alt. 2 StGB strafbar gemacht.

Fall 4

In Betracht kommt eine Rechtfertigung des A gem. § 34 StGB.

Notstandslage

Dazu müsste zunächst eine Notstandslage, mithin eine gegenwärtige Gefahr für ein notstandsfähiges Rechtsgut, vorliegen. A beruft sich für sein Verhalten auf das von Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG geschützte Informationsinteresse der Öffentlichkeit hinsichtlich der Person des B und die gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Vorwürfe. Auch solche Rechtsgüter der Allgemeinheit können im Rahmen eines Notstands geschützt werden. Das genannte Informationsinteresse würde im vorliegenden Fall beeinträchtigt, wenn A die Aufzeichnung des Gesprächs mit B nicht veröffentlichen dürfte.

Erforderliche und verhältnismäßige Notstandshandlung

Fraglich ist jedoch, ob das Verhalten von A zur Befriedigung des Informationsinteresses der Öffentlichkeit erforderlich und verhältnismäßig war.

Erforderlichkeit

Möglicherweise hätte das Informationsinteresse der Öffentlichkeit hinsichtlich der Person des B und der gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Vorwürfe durch ein milderes Mittel befriedigt werden können, so dass die Veröffentlichung der geheimen Mitschnitte nicht erforderlich gewesen wäre. Denkbar ist beispielsweise, dass die Öffentlichkeit sich über die in Rede stehenden Ereignisse im Rahmen der anstehenden öffentlichen Hauptverhandlung (lies: § 169 S. 1 GVG!) gegen B hätte informieren können. Ob B sich dort in gleicher Weise eingelassen hätte, wie im Gespräch mit A ist jedoch – insbesondere was die fehlende Reue für die Taten im Zusammenhang mit den „Silbertanne“-Morden angeht – unwahrscheinlich. Möglicherweise hätte diese Ausweichmöglichkeit das Informationsinteresse der Öffentlichkeit insofern also nicht gleichermaßen befriedigt. Andererseits ließe sich auch argumentieren, A hätte den Ausgang des Strafverfahrens zumindest abwarten müssen.

Verhältnismäßigkeit

Auf die Frage der Erforderlichkeit der Notstandshandlung würde es jedoch letztlich nicht ankommen, wenn die Veröffentlichung der geheim mitgeschnittenen Aufnahmen jedenfalls ein unverhältnismäßiges Mittel zur Befriedigung des Informationsinteresses der Öffentlichkeit gewesen wäre. Eine solche Unverhältnismäßigkeit liegt vor, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Rechtsgüter das geschützte Interesse das beeinträchtigte nicht wesentlich überwiegt.

Als widerstreitende Interessen stehen sich im vorliegenden Fall das über Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG verfassungsrechtlich geschützte Informationsinteresse der Öffentlichkeit und das ebenfalls grundgesetzlich verbriefte allgemeine Persönlichkeitsrecht des B (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) gegenüber. Abstrakt lässt sich keiner dieser Rechtspositionen ein Vorrang einräumen. Bei einer konkreten Betrachtung ist zunächst festzustellen, dass die Öffentlichkeit angesichts des aktuell anstehenden Gerichtsverfahrens gegen B ein relativ hohes Interesse an der Person des B und den ihm vorgeworfenen Taten hatte. Dass B in dem Interview zum Ausdruck bringt, für die ihm vorgeworfenen und bereits öffentlich eingestandenen Taten keine Reue zu empfinden, verleiht diesem Interesse zusätzliches Gewicht, weil es für die politische, rechtliche und moralische Bewertung des Geschehens wichtig ist. Auf der anderen Seite berühren die heimlichen Aufnahmen in Bild und Ton die Privatsphäre des B und stellen nach der sog. Sphärentheorie des Bundesverfassungsgerichts mindestens einen mittelschweren Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Betroffenen dar. Zugunsten der Rechtsposition des B ist insofern zusätzlich zu berücksichtigen, dass er bereits sehr alt und zudem schwer krank ist und somit der Privatsphäre in seinem Zimmer im Altenheim als Rückzugs- und Schutzraum in besonderer Weise bedarf. Vor diesem Hintergrund kann im Ergebnis nicht festgestellt werden, dass das Informationsinteresse der Öffentlichkeit das Interesse des B auf den Schutz seiner Privatsphäre wesentlich überwiegt; vielmehr scheint die Interessenlage in etwa ausgeglichen zu sein. Vor diesem Hintergrund ist die Veröffentlichung der Gesprächsmitschnitte nicht als verhältnismäßiges Mittel zur Befriedigung des Informationsinteresses der Öffentlichkeit anzusehen.

Hinweis: Spätestens in diesem Fall merken Sie, dass die Verhältnismäßigkeitsprüfung im Rahmen des strafrechtlichen Notstands ein typisches „Einfallstor“ für verfassungsrechtliche Wertungen ist. Im Hintergrund steht dabei der Gedanke, dass kein Bürger für eine Handlung bestraft werden darf, deren Ausübung ihm verfassungsrechtlich zugesichert ist. Auf der anderen Seite ist der Staat auch verpflichtet, die Bürger in gewissem Maße durch das Strafrecht oder andere öffentlich-rechtliche Vorschriften davor zu schützen, dass andere Bürger ihre grundrechtlich abgesicherten Interessen verletzen.

Ergebnis

A ist nicht gem. § 34 StGB gerechtfertigt.

Hinweis: Das heißt freilich nicht, dass A im Ergebnis zwingend nach § 201 Abs. 1 StGB zu bestrafen ist, denn möglicherweise hat er in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum (§ 17 S. 1 StGB) und damit schuldlos gehandelt. Mit diesem Rechtsinstitut werden Sie sich in einer der folgenden Übungseinheiten noch näher befassen.