Sachverhalt
Die von S am 7. November 2022 erhobene Klage auf Zulassung zum Weihnachtsmarkt (siehe dazu Übungsfall 2: Weihnachtsmarkt) wird dem Magistrat der Stadt Gießen am nächsten Tag zugestellt. Davon aufgeschreckt bringt der Magistrat das Thema auf der am 9. November 2022 stattfindenden Sitzung der Stadtverordnetenversammlung unter dem letzten Tagesordnungspunkt „Verschiedenes“ ein. Infolgedessen nimmt die Sitzung einen turbulenten Verlauf. Aber der Reihe nach.
Die Stadtverordnetenvorsteherin V hat die Stadtverordneten mit E-Mail vom 2. November 2022 zur Sitzung am 9. November 2022 eingeladen und in der Einladung die Gegenstände der Verhandlung vermerkt. Dem Stadtverordneten G hat V bewusst keine E-Mail gesandt, weil sie von dessen Urlaub wusste. G hatte den Urlaub nach einem Streit mit seiner Ehefrau allerdings vorzeitig abgebrochen. Da V die Zeit, den Ort und die Tagesordnung der Sitzung wie üblich öffentlich bekannt gemacht hat, hat G noch rechtzeitig von der Sitzung erfahren und ist gut gelaunt erschienen, gemeinsam mit V, 28 weiteren Stadtverordneten und den Mitgliedern des Magistrats.
Für die Sitzung hat sich die Stadtverordnetenversammlung etwas Besonderes einfallen lassen: Da es während der Corona-Pandemie im Zuschauerbereich des Sitzungssaals sehr wenige Plätze gegeben hatte, hat man die Zuschauerplätze für die Sitzung am 9. November 2022 nach Fraktionsstärke aufgeteilt und für Parteimitglieder reserviert, um sich für deren Durchhaltevermögen und Unterstützung in der Pandemie zu bedanken. Die Parteimitglieder haben diese Einladung gerne angenommen und füllen den Zuschauerbereich bis auf den letzten Platz.
Nachdem die Sitzung zunächst ohne besondere Zwischenfälle verlaufen ist, kommt es unter dem letzten Tagesordnungspunkt „Verschiedenes“ nun zu einer lebhaften Diskussion über die Klage des S und die Kriterien für die Vergabe von Ständen auf dem Gießener Weihnachtsmarkt. V ist der Meinung, dass G nicht an der weiteren Beratung teilnehmen dürfe, da er selbst – was zutrifft – eine Gaststätte in Gießen betreibe und daher befangen sei. G ist anderer Meinung: Er habe in der Vergangenheit keinen Stand auf dem Weihnachtsmarkt betrieben und auch zukünftig nicht die Absicht dazu. Trotzdem legt V dem G nachdrücklich nahe, den Sitzungsraum zu verlassen. Dem kommt G unter Protest nach. Der Stadtverordnete A stellt daraufhin den Antrag, die Beschlussunfähigkeit der Stadtverordnetenversammlung festzustellen. V zählt durch und stellt fest, dass die Stadtverordnetenversammlung weiterhin beschlussfähig sei. Nach weiterer Diskussion erhält der Antrag, die Satzung für den Weihnachtsmarkt dahingehend zu ändern, dass einer der fünf Glühweinstandplätze jedes Jahr nach dem Losverfahren zu vergeben ist, 11 Ja-Stimmen, 8 Enthaltungen und 10 Nein-Stimmen. Der Magistrat fertigt die Satzungsänderung aus und macht sie am 10. November 2022 öffentlich bekannt.
G ärgert sich nachhaltig über den Verlauf der Sitzung und beschwert sich am 10. November 2022 beim Regierungspräsidenten des Regierungsbezirks Gießen: Schon mit der fehlenden Einladung habe man versucht, ihn von der Sitzung fernzuhalten; jedenfalls sei G dann hinsichtlich der Satzungsänderung um seine Mitwirkungsrechte gebracht worden. Der Regierungspräsident reagiert schnell und erkundigt sich noch am selben Tag beim Magistrat der Stadt Gießen nach den Umständen der Sitzung. Dabei kündigt er dem Magistrat an, den Beschluss über die Satzungsänderung aufzuheben.
Am Freitag, den 11. November 2022, erreicht den Magistrat der Stadt Gießen per Eilkurier ein Schreiben des Regierungspräsidenten, in dem der Regierungspräsident den am 9. November 2022 gefassten Beschluss über die Änderung der Satzung für den Weihnachtsmarkt „beanstandet“. Das Schreiben verweist auf die Umstände der Sitzung der Stadtverordnetenversammlung und die sich daraus nach Einschätzung des Regierungspräsidenten ergebenden Rechtsfehler. In der Rechtsbehelfsbelehrung weist der Regierungspräsident unter Angabe der Adresse des Regierungspräsidiums darauf hin, dass gegen diese Entscheidung innerhalb eines Monats Widerspruch beim Regierungspräsidenten erhoben werden könne.
Nach gemeinsamer Beratung von Stadtverordnetenversammlung und Magistrat entschließt sich die Stadt Gießen dazu, gegen die Entscheidung des Regierungspräsidenten Klage zu erheben. Der Magistrat reicht die Klage gegen das Land Hessen beim Verwaltungsgericht Gießen am Mittwoch, den 14. Dezember 2022 ein.
Hat die Klage der Stadt Gießen Aussicht auf Erfolg?
Bearbeitungshinweis:
Es ist davon aus, dass die Stadt Gießen ca. 90.000 Einwohnerinnen und Einwohner hat.
Lösungsvorschlag
Zulässigkeit
Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs
Mangels aufdrängender Sonderzuweisung richtet sich die Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs nach § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO. Der Streit um die Beanstandung richtet sich nach Normen des Kommunalrechts, insbesondere § 138 HGO. Diese berechtigen und verpflichten ausschließlich einen Träger öffentlicher Gewalt als solchen und gehören damit nach der Sonderrechtslehre dem öffentlichen Recht an. Es handelt sich daher um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit. Da nicht Verfassungsorgane um Verfassungsrecht streiten, ist die Streitigkeit auch nichtverfassungsrechtlicher Natur. Eine abdrängende Sonderzuweisung ist nicht ersichtlich. Somit ist der Verwaltungsrechtsweg eröffnet.
Statthafte Rechtsschutzform
Die statthafte Rechtsschutzform richtet sich nach dem Begehren des Rechtsschutzsuchenden (vgl. §§ 88, 122 Abs. 1 VwGO). Die Stadt Gießen möchte die Beanstandung „aus der Welt schaffen“. § 142 HGO bestimmt zwar, dass gegen Anordnungen der Aufsichtsbehörde nach Maßgabe der VwGO die Anfechtungsklage statthaft ist. Allerdings ist das gerichtliche Verfahren Teil der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz (Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG) und der Bund hat davon in der VwGO sehr weitgehend Gebrauch gemacht. Die Länder können nicht ohne weiteres in das in der VwGO geregelte maßnahmenbezogene Rechtsschutzsystem eingreifen. Dementsprechend ist § 142 HGO allenfalls klarstellend zu verstehen:
Regelungswirkung entfaltet eine Maßnahme, wenn sie darauf gerichtet ist, Rechtsfolgen zu setzen.
Auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen ist eine Maßnahme gerichtet, wenn sie nicht nur darauf abzielt, im Innenbereich des Staates Wirkungen auszulösen, sondern unmittelbar die Rechtsposition einer natürlichen oder juristischen Person gestaltet oder festgestellt werden soll.
Nach alledem handelt es sich bei der Beanstandung um einen Verwaltungsakt im Sinne von § 35 S. 1 HVwVfG.
Klagebefugnis
Da gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, muss die Stadt Gießen nach § 42 Abs. 2 VwGO geltend machen, durch die Beanstandung in ihren Rechten verletzt zu sein. Eine solche Rechtsverletzung muss zumindest möglich, das heißt nicht offenkundig ausgeschlossen sein. Die Verwaltungsakte betreffen die Stadt Gießen in ihrem Recht der Selbstverwaltung aus Art. 137 Abs. 1, Abs. 3 HV. Es ist nicht von vornherein offenkundig ausgeschlossen und damit möglich, dass die Beanstandung rechtswidrig ist und die Stadt Gießen daher in diesem Recht verletzt. Somit ist die Stadt Gießen klagebefugt.
Ordnungsgemäß und erfolglos durchgeführtes Vorverfahren
Die Stadt Gießen hat vor Erhebung der Klage kein Vorverfahren angestrengt. Da der Regierungspräsident den Verwaltungsakt erlassen hat, war das Vorverfahren hier aber nach § 68 Abs. 1 S. 2 VwGO i.V.m. § 16a Abs. 2 S. 1 HessAGVwGO nicht erforderlich.
Klagefrist
§ 74 Abs. 1 S. 2 VwGO bestimmt, dass die Anfechtungsklage innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Verwaltungsakts zu erheben ist, wenn nach § 68 VwGO ein Widerspruchsbescheid nicht erforderlich ist. Hier war ein Widerspruchsbescheid nicht erforderlich. Der Verwaltungsakt wurde der G am Freitag, den 11. November 2022 bekannt gegeben. Eine einmonatige Klagefrist wäre damit am Montag, den 12. Dezember 2022 abgelaufen (§§ 57 Abs. 2 VwGO, § 222 Abs. 1 und Abs. 2 ZPO, §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 BGB). Damit wäre die am 14. Dezember 2022 erhobene Klage verfristet.
Allerdings beginnt die Frist für ein Rechtsmittel oder einen anderen Rechtsbehelf nur zu laufen, wenn der Beteiligte über den Rechtsbehelf, die Verwaltungsbehörde oder das Gericht, bei denen der Rechtsbehelf anzubringen ist, den Sitz und die einzuhaltende Frist schriftlich oder elektronisch belehrt worden ist (§ 58 Abs. 1 VwGO). Ist die Belehrung unterblieben oder unrichtig erteilt, so ist die Einlegung eines Rechtsbehelfs innerhalb eines Jahres seit Zustellung, Eröffnung oder Verkündung zulässig (§ 58 Abs. 2 S. 1 VwGO). Der Regierungspräsident hat in dem Schreiben vom 11. November 2022 unrichtig darüber belehrt, dass gegen seine Entscheidung der Widerspruch statthaft sei. Damit hat die einmonatige Klagefrist nach § 74 Abs. 1 S. 2 VwGO nicht begonnen, zu laufen. Die Stadt Gießen hat die Klagen innerhalb der nach § 58 Abs. 2 VwGO geltenden Jahresfrist erhoben.
Die Anfechtungsklage ist daher nicht verfristet.
Richtiger Klagegegner
Nach § 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO ist das Land Hessen als Rechtsträger des Regierungspräsidenten (§ 1 RegPräsBezG), der die angefochtene Beanstandung erlassen hat, der richtige Klagegegner.
Beteiligungsfähigkeit und Prozessfähigkeit
Die Stadt Gießen (§ 1 Abs. 2 HGO) und das Land Hessen sind als juristische Personen nach § 61 Nr. 1 Var. 2 VwGO beteiligungsfähig. Beide lassen sich im Prozess nach § 62 Abs. 3 VwGO vertreten, die Stadt Gießen durch den Magistrat (§ 71 Abs. 1 S. 1 HGO), das Land Hessen durch den Ministerpräsidenten, der die Vertretungsbefugnis auf nachgeordnete Stellen übertragen kann (Art. 103 Abs. 1 HV).
Zuständigkeit des Gerichts
Das Verwaltungsgericht Gießen ist gemäß §§ 45, 52 Nr. 3 S. 2 VwGO i.V.m. § 1 Abs. 2 Nr. 3 HessAGVwGO zuständig.
Zwischenergebnis
Die Klage der Stadt Gießen ist zulässig.
Begründetheit
Die Anfechtungsklage ist begründet, soweit die Beanstandung rechtswidrig und die Stadt Gießen dadurch in ihren Rechten verletzt ist (vgl. § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO).
Ermächtigungsgrundlage für die Beanstandung
Nach dem aus dem Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 2 GG) abzuleitenden Vorbehalt des Gesetzes sind wesentliche Entscheidungen vom Gesetzgeber zu treffen. Entscheidungen der Verwaltung bedürfen insoweit einer gesetzlichen Grundlage auch dann, wenn sie nicht in Grundrechte von Grundrechtsträgern eingreifen. Inhalt und Grenzen des Selbstverwaltungsrechts der Gemeinden zu bestimmen, ist eine wesentliche Entscheidung. Der Landesgesetzgeber hat mit § 138 HGO aber eine hinreichend bestimmte Ermächtigungsgrundlage dafür geschaffen, dass die Aufsichtsbehörde Beschlüsse der Gemeindevertretung unter bestimmten Voraussetzungen aufheben kann.
Formelle Rechtswidrigkeit der Beanstandung
Zuständigkeit
Zuständig für die Aufhebung eines Beschlusses der Gemeindevertretung in Form der Beanstandung ist nach § 138 HGO die Aufsichtsbehörde. Wer die Aufsichtsbehörde ist, bestimmt § 136 HGO. Für Sonderstatus-Städte ist das nach § 136 Abs. 2 S. 1 HGO der Regierungspräsident. Gießen ist eine Sonderstatus-Stadt (§ 4a Abs. 2 S. 2 HGO). Die Stadt Gießen liegt im Landkreis Gießen und dieser gehört zum Regierungsbezirk Gießen (§ 2 Abs. 3 S. 1 RegPräsBezG). Damit ist der Regierungspräsident des Regierungsbezirks Gießen sachlich und örtlich für die Aufhebung des Beschlusses der Stadtverordnetenversammlung der Stadt Gießen zuständig.
Verfahren
§ 138 HGO stellt keine besonderen Verfahrensanforderungen. Da es sich aber bei der Aufhebung des Beschlusses der Stadtverordnetenversammlung um einen Verwaltungsakt handelt, der in Rechte der Stadt Gießen eingreift, war der Stadt Gießen vor dem Erlass Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern (§ 28 Abs. 1 HVwVfG). Vor der Aufhebung des Beschlusses hat der Regierungspräsident dem Magistrat der Stadt Gießen als vertretungsberechtigtem Organ (§ 71 Abs. 1 S. 1 HGO) Gelegenheit gegeben, sich zu den Umständen der Sitzung der Stadtverordnetenversammlung zu äußern. Damit wurde die Stadt Gießen im Einklang mit § 28 Abs. 1 HVwVfG angehört.
Form
Der schriftliche Verwaltungsakt wurde im Einklang mit § 39 Abs. 1 S. 1 HVwVfG ordnungsgemäß begründet.
Zwischenergebnis
Die Beanstandung ist nicht formell rechtswidrig.
Materielle Rechtswidrigkeit der Beanstandung
Nach § 138 HGO kann die Aufsichtsbehörde unter anderem Beschlüsse und Anordnungen der Gemeindevertretung, ihrer Ausschüsse, des Gemeindevorstands und des Ortsbeirats, die das Recht verletzen, innerhalb von sechs Monaten nach der Beschlussfassung aufheben.
Beschluss der Gemeindevertretung
Gegenstand der Beanstandung muss damit ein Beschluss der Gemeindevertretung sein. Bei der Stadtverordnetenversammlung handelt es sich in Städten um die Gemeindevertretung (§ 9 Abs. 1 S. 3 HGO). Beschlüsse sind die rechtserheblichen Äußerungen der Willensentschließung eines solchen Kollegialorgans.
Verletzung des Rechts
Zu prüfen ist, ob der Beschluss der Satzungsänderung durch die Stadtverordnetenversammlung im Sinne von § 138 HGO das Recht verletzt, also rechtswidrig ist. Zu prüfen sind formelle und materielle Rechtsfehler.
Vertiefungshinweis: Umfang der Staatsaufsicht
§ 138 HGO macht mit dem Erfordernis, dass der Beschluss oder die Anordnung das Recht verletzt, deutlich, dass sich die Aufsicht nach dieser Vorschrift auf eine reine Rechtsaufsicht beschränkt. Ähnlich formuliert ist § 139 HGO. Grundlage dafür ist Art. 137 Abs. 3 S. 2 HV, wonach sich die Aufsicht des Staates darauf beschränkt, dass ihre Verwaltung „im Einklang mit den Gesetzen“ geführt wird. Aufsicht ist also Rechtsaufsicht – in die Zweckmäßigkeit der Entscheidung hat sich der Staat (das heißt das Land Hessen) grundsätzlich nicht einzumischen. Das ist Wesen der von Art. 137 Abs. 3 S. 1 HV gewährleisteten Eigenverantwortlichkeit der Kommunen bei der Aufgabenerledigung.
Darüber hinausgehend bestimmt Art. 137 Abs. 4 HV, dass den Kommunen oder ihren Vorständen durch Gesetz oder Verordnung staatliche Aufgaben zur Erfüllung nach Anweisungen übertragen werden können. Mit Blick auf Gemeinden ist damit gemeint, dass bestimmte, ihnen ohnehin als Aufgabe der örtlichen öffentlichen Verwaltung zustehende Aufgaben (Art. 137 Abs. 1 HV) gesetzlich zu Pflichtaufgaben gemacht werden (Eingriff in die Eigenverantwortlichkeit) und das Gesetz zusätzlich in bestimmtem Umfang Weisungsrechte vorsieht, damit der Staat die Art und Weise der Aufgabenerledigung beeinflussen kann (weiterer Eingriff in die Eigenverantwortlichkeit):
Das Gesetz ordnet die Weisungsbefugnis nicht als Staatsaufsicht ein.
Formelle Rechtsfehler des Beschlusses
Formelle Rechtsfehler des Beschlusses kommen unter dem Gesichtspunkt der Zuständigkeit und des Verfahrens in Betracht.
Zuständigkeit für die Beschlussfassung
Die Verbandszuständigkeit der Stadt Gießen, das heißt ihre Kompetenz im Verhältnis zu anderen Trägern öffentlicher Gewalt, bestimmt sich nach Art. 137 Abs. 1 HV und § 2 S. 1 HGO. Demnach ist die Gemeinde ausschließliche Trägerin der öffentlichen Verwaltung, soweit die Gesetze nicht ausdrücklich etwas anderes bestimmen. Da die Entscheidung über die Vergabekriterien mit Blick auf den gemeindeeigenen Weihnachtsmarkt nicht gesetzlich einem anderen Rechtsträger zugewiesen ist, fehlt es der Stadt Gießen nicht an der Verbandszuständigkeit. Die Stadtverordnetenversammlung hat darüber hinaus für die Änderung von Satzungen nach § 51 Nr. 6 HGO die ausschließliche Organzuständigkeit im Verhältnis zu den anderen Organen der Gemeinde inne.
Verfahren der Beschlussfassung
(1) Einberufung zur Sitzung
Möglicherweise hat die Stadtverordnetenvorsteherin V die Stadtverordnetenversammlung nicht ordnungsgemäß zur Sitzung einberufen. Jedenfalls im Einklang mit § 58 Abs. 1 S. 1 HGO hat die V die Einladung per E-Mail, das heißt elektronisch versandt und darin die Gegenstände der Verhandlung vermerkt. Sie hat mit der E-Mail vom 2. November 2022 auch die dreitägige Ladungsfrist (§ 58 Abs. 1 S. 2 HGO) vor der Sitzung am 9. November 2022 eingehalten.
Möglicherweise hat V aber dadurch gegen § 58 Abs. 1 S. 1 HGO verstoßen, dass sie nicht auch G geladen hat. Nach dieser Bestimmung beruft die Vorsitzende „die Gemeindevertreter“ zu den Sitzungen der Gemeindevertretung ein. Der Wortlaut lässt keine Beschränkung des Adressatenkreises der Ladung erkennen. Auch Sinn und Zweck der Vorschrift sprechen für eine Pflicht der Vorsitzenden, auch solche Gemeindevertreter einzuberufen, deren Anwesenheit wegen Krankheit oder Urlaubs nicht zu erwarten ist:
Möglicherweise wurde dieser Rechtsfehler aber dadurch geheilt, dass G zur Sitzung erschienen ist und nicht die Vertagung der Sitzung beantragt hat. Eine solche, der rügelosen Verhandlung nach § 39 S. 1 und § 295 Abs. 1 ZPO vergleichbare Heilungsmöglichkeit ergibt sich zwar nicht unmittelbar aus der HGO. Allerdings bestimmt § 58 Abs. 1 HGO auch nicht ausdrücklich, wie sich ein Rechtsfehler auf die Wirksamkeit getroffener Beschlüsse auswirkt. Die Rechtsfolge eines Rechtsfehlers ist daher aus dem Sinn und Zweck der Vorschrift abzuleiten. § 58 Abs. 1 HGO soll den Mitgliedern der Gemeindevertretung ermöglichen, sich terminlich auf eine Sitzung der Gemeindevertretung einzustellen und sich mit genügend Vorlaufzeit inhaltlich darauf vorzubereiten. Erfährt ein fehlerhaft nicht geladenes Mitglied auf andere Weise von der Sitzung und erscheint dazu, ist zumindest der Zweck gewahrt, die Sitzung terminlich wahrnehmen zu können. Im Übrigen muss das fehlerhaft nicht geladene Mitglied die Möglichkeit haben, eine Vertagung der Sitzung zu beantragen und zu erwirken, um sich wie alle anderen Mitglieder auch hinreichend auf die Sitzung vorbereiten zu können. Verzichtet das Mitglied aber auf einen solchen Antrag, weil es auf andere Weise früh genug von der Sitzung erfahren hat oder freiwillig auf seine Vorbereitungszeit verzichtet, erfordert der Zweck des § 58 Abs. 1 HGO nicht die Unwirksamkeit der in der Sitzung getroffenen Beschlüsse.
Im Ergebnis hat die Stadtverordnetenvorsteherin V die Stadtverordnetenversammlung damit ordnungsgemäß einberufen.
(2) Öffentlichkeit der Sitzung
Möglicherweise hat die Gemeindevertretung die Vorschriften über die Öffentlichkeit der Sitzungen verletzt. Gemäß § 52 Abs. 1 S. 1 HGO fasst die Gemeindevertretung ihre Beschlüsse in öffentlichen Sitzungen. Die Anforderungen an die Öffentlichkeit der Sitzungen lassen sich durch teleologische Auslegung des § 52 Abs. 1 S. 1 HGO bestimmen, wenn man einem Blick auf die Bedeutung des Öffentlichkeitsgrundsatzes wirft: § 52 Abs. 1 S. 1 HGO konkretisiert Anforderungen des verfassungsrechtlichen Demokratieprinzips, das auch für das kommunale Organisationsrecht gilt (Art. 28 Abs. 1 GG). Die Öffentlichkeit des Staatshandelns soll Interesse, Verständnis, Vertrauen und Kontrollmöglichkeiten der Bürger fördern und gewährleisten. Auf diese Weise bleibt die Volksvertretung gegenüber dem Wahlvolk politisch verantwortlich und behält das Wahlvolk seinerseits effektiven Einfluss auf die Ausübung der Staatsgewalt (Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG).
Davon ausgehend setzt die Öffentlichkeit der Sitzungen voraus, dass die Gemeindevertretung grundsätzlich jedermann ohne Ansehen der Person jederzeit freien Zugang zum Verhandlungsraum gewährt (sog. Saalöffentlichkeit).
Im Fall der Kapazitätserschöpfung setzt der Grundsatz der Öffentlichkeit voraus, dass jedermann ohne Ansehen der Person zumindest chancengleiche Zugangsmöglichkeiten hat, dass also die Gemeindevertretung die Zusammensetzung des Publikums grundsätzlich nicht beeinflusst. Dieser Grundsatz gilt zwar nicht grenzenlos. Da die Gemeindevertretung die Öffentlichkeit für einzelne Angelegenheiten mit sachlichem Grund ausnahmsweise ausschließen darf (§ 52 Abs. 1 S. 2 und S. 3 HGO),
Vertiefungshinweis: Sachliche Rechtfertigung für bevorzugte Vergabe
Eine sachliche Rechtfertigung für eine bevorzugte Vergabe eines Teils der Plätze zugunsten der Presse liegt in deren in Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG verankerten demokratischen Kontroll- und Mittlerfunktion.
Die Stadtverordnetenversammlung hat alle Zuschauerplätze für die Sitzung am 9. November 2022 nach Fraktionsstärke aufgeteilt und für Parteimitglieder reserviert, um sich für deren Durchhaltevermögen und Unterstützung in der Pandemie zu bedanken. So nachvollziehbar der Wunsch ist, nahestehenden Funktionsträgerinnen und Funktionsträger Anerkennung auszudrücken, so wenig ist dieser Gesichtspunkt doch mit Blick auf die verschiedenen Inhalte der Sitzung sachlich. Hinzu kommt, dass kein einziger Platz allgemein zugänglich war und die Stadtverordnetenversammlung das Publikum damit vollständig gezielt zusammengestellt hat.
Die Stadtverordnetenversammlung hat damit die Vorschriften über die Öffentlichkeit verletzt.
(3) Unterbliebene Mitwirkung des G
Möglicherweise ist der Beschluss unter Verletzung des Mitwirkungsrechts des G zustande gekommen, das aus dessen freiem Mandat aus § 35 Abs. 1 HGO folgt. Das kommt hier mit Blick darauf in Betracht, dass G wegen eines angenommenen Widerstreits der Interessen nicht an der weiteren Beratung und Entscheidung über die Satzungsänderung mitgewirkt hat. Während die Mitwirkung eines eigentlich ausgeschlossenen Mitglieds der Gemeindevertretung gegen das Mitwirkungsverbot in § 25 Abs. 1 HGO verstößt, verletzt die umgekehrte Situation – der Ausschluss eines Mitglieds, das keinem Mitwirkungsverbot nach § 25 Abs. 1 HGO unterliegt – das Mitwirkungsrecht des Mitglieds der Gemeindevertretung aus § 35 Abs. 1 HGO.
Eine Verletzung ist jedenfalls dann nicht anzunehmen, wenn G dem Mitwirkungsverbot aus § 25 Abs. 1 HGO unterlag. Nach § 25 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 HGO darf niemand in haupt- oder ehrenamtlicher Tätigkeit in einer Angelegenheit beratend oder entscheidend mitwirken, wenn er durch die Entscheidung in der Angelegenheit einen unmittelbaren Vorteil oder Nachteil erlangen kann. G ist als Stadtverordneter Gemeindevertreter (§ 49 S. 2 HGO) und damit nach § 35 Abs. 2 S. 1 HGO ehrenamtlich Tätiger im Sinne des § 25 HGO. Vorteile im Sinne des § 25 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 HGO können insbesondere rechtlicher oder wirtschaftlicher Art sein.
Allerdings muss dieser Vorteil auch unmittelbar auf der Entscheidung in der Angelegenheit beruhen. Der Begriff der Unmittelbarkeit ist vage. Denkbar wäre, Begriff der „Unmittelbarkeit“ mit Blick auf den Wortlaut formal zu verstehen und zu fordern, dass kein weiteres Ereignis hinzutreten muss, um den Vorteil herbeizuführen. Hier müsste G erst einmal die Absicht haben, überhaupt einen Stand auf dem Weihnachtsmarkt zu betreiben, und dann auch noch durch den Magistrat auf Grundlage der neuen, nicht konkret auf G zugeschnittenen Vergabekriterien zugelassen werden. Es müssen also weitere Ereignisse hinzutreten, damit sich ein wirtschaftlicher Vorteil verwirklicht. Formal gesehen beruht der Vorteil also nicht unmittelbar auf der Entscheidung in der Angelegenheit. Der Zweck von § 25 Abs. 1 HGO liegt darin, sicherzustellen, dass die öffentliche Verwaltung auf kommunaler Ebene unparteiisch und uneigennützig handelt. Das rechtfertigt ein anderes, teleologisch begründetes Verständnis der Unmittelbarkeit, nämlich dahingehend, dass der Gemeindevertreter auf Grund besonderer persönlicher Beziehungen zu dem Gegenstand der Beschlussfassung ein individuelles Sonderinteresse an der Entscheidung hat, das zu einer Interessenkollision führen kann und die Besorgnis einer beeinflussten Stimmabgabe rechtfertigt.
Das Mitwirkungsrecht des G wurde aber auch dann nicht verletzt, wenn die unterbliebene Mitwirkung des G der Stadtverordnetenversammlung bzw. der V nicht zurechenbar ist. Nach § 25 Abs. 3 HGO entscheidet das betreffende Organ darüber, ob ein Widerstreit der Interessen vorliegt, hier also namentlich die Stadtverordnetenversammlung. Zwar ist ein Beschluss nach § 25 Abs. 6 S. 1 HGO auch dann unwirksam, wenn das Mitwirkungsverbot verletzt worden ist, die Gemeindevertretung darüber aber – etwa, weil sie keine Kenntnis vom Widerstreit der Interessen hatte – nicht entschieden hat. Im umgekehrten, hier vorliegenden Fall, in dem das Mitwirkungsverbot nicht verletzt ist, dafür aber das betreffende Mitglied der Gemeindevertretung nicht mitgewirkt hat, lässt sich die unterbliebene Mitwirkung der Gemeindevertretung nur zurechnen, wenn sie den Gemeindevertreter rechtswidrig ausschließt und sich der Gemeindevertreter somit aufgrund rechtlicher Verpflichtung und nicht aus freien Stücken entfernt. Andernfalls hätte es der Gemeindevertreter in der Hand, dem Beschluss der Gemeindevertretung über den Widerstreit der Interessen zuvorzukommen und auf diese Weise die Rechtswidrigkeit des ohne ihn gefassten Beschlusses zu erwirken.
Der Beschluss ist damit nicht unter Verletzung des Mitwirkungsrechts des G aus § 35 Abs. 1 HGO zustande gekommen.
(4) Beschlussfähigkeit
Möglicherweise verletzt der Beschluss die Vorschriften über die Beschlussfähigkeit in § 53 HGO. Nach § 53 Abs. 1 S. 1 HGO ist die Gemeindevertretung beschlussfähig, wenn mehr als die Hälfte der gesetzlichen Zahl der Gemeindevertreter anwesend ist. Die gesetzliche Zahl der Gemeindevertreter ergibt sich aus § 38 Abs. 1 HGO. Bein einer anzunehmenden Zahl von Einwohnerinnen und Einwohnern in Höhe von ca. 90.000 beträgt die Zahl der Gemeindevertreter 59. Zu Beginn der Sitzung waren neben G und V – die als Stadtverordnetenvorsteherin ihrerseits Stadtverordnete ist (§ 57 Abs. 1 S. 1 HGO) – 28 weitere Stadtverordnete anwesend. Der Magistrat nimmt zwar nach § 59 S. 1 HGO an den Sitzungen der Stadtverordnetenversammlung teil. Seine Mitglieder sind aber nicht zugleich Mitglieder der Stadtverordnetenversammlung. Damit waren zu Beginn der Sitzung 30 Stadtverordnete anwesend, was mehr als der Hälfte (29,5) der gesetzlichen Zahl der Stadtverordneten entspricht. In dem Moment, in dem G die Sitzung verlassen hat, waren indessen nur noch 29 Stadtverordnete und damit weniger als die Hälfte der gesetzlichen Zahl der Stadtverordneten anwesend. Damit war die Stadtverordnetenversammlung ab diesem Zeitpunkt – und somit auch für den Beschluss über die Änderung der Satzung für den Weihnachtsmarkt – nicht mehr im Sinne von § 53 Abs. 1 S. 1 HGO beschlussfähig.
Vertiefungshinweis zum Begriff der Anwesenheit
Der Begriff der Anwesenheit setzt die rechtliche und tatsächliche Möglichkeit der Anwesenden voraus, sich an einer Wahl oder einer Abstimmung zu beteiligen. Rechtlich dazu nicht in der Lage und damit nicht mitzuzählen sind solche Gemeindevertreter, die sich zwar im Sitzungsraum aufhalten, die aber an der Entscheidung nicht mitwirken dürfen (etwa nach § 25 Abs. 1 HGO).
Allerdings gilt die Beschlussfähigkeit nach § 53 Abs. 1 S. 2 a.E. HGO so lange als vorhanden, bis das Gegenteil auf Antrag festgestellt wird. Aus der systematischen Beziehung zum ersten Halbsatz ergibt sich, dass dafür der Vorsitzenden der Gemeindevertretung die Beschlussfähigkeit bei Beginn der Sitzung festgestellt haben muss.
Damit stellt sich die Frage, ob § 53 Abs. 1 S. 2 a.E. HGO in der Weise teleologisch zu reduzieren ist, dass die Beschlussfähigkeit dann nicht mehr als vorhanden gilt, wenn die Beschlussunfähigkeit trotz Antrags rechtswidrig nicht festgestellt wird. Eine teleologische Reduktion setzt voraus, dass der Wortlaut Fälle erfasst, deren Einbeziehung nicht Sinn und Zweck der Regelung entspricht und die sich wertungsmäßig von anderen, bewusst erfassten Fällen unterscheiden. § 53 Abs. 1 S. 2 a.E. HGO soll Rechtssicherheit dadurch gewährleisten, dass ein Kommen und Gehen der Gemeindevertreter während der Sitzung nach einer erstmaligen Feststellung der Beschlussfähigkeit die Wirksamkeit eines Beschlusses nur dann berühren kann, wenn die Beschlussfähigkeit ausdrücklich angezweifelt worden ist und nicht nur nachträglich anhand des Protokolls infrage gestellt wird.
Nach diesen Maßgaben galt die Stadtverordnetenversammlung ungeachtet der rechtswidrigen Feststellung der Beschlussfähigkeit durch V nach dem Weggang des G und dem Antrag des A auf Feststellung der Beschlussunfähigkeit nicht mehr nach § 53 Abs. 1 S. 2 a.E. HGO als beschlussfähig. Damit verletzt der Beschluss die Vorschriften über die Beschlussfähigkeit in § 53 HGO.
(5) Verhandlung des Antrags unter „Verschiedenes“
Möglicherweise leidet der Beschluss auch dadurch an einem formellen Rechtsfehler, dass über ihn unter dem letzten Tagesordnungspunkt „Verschiedenes“ verhandelt und beschlossen wurde. Nach § 58 Abs. 2 HGO kann über Angelegenheiten, die nicht auf der Einladung zu der Sitzung verzeichnet sind, nur verhandelt und beschlossen werden, wenn zwei Drittel der gesetzlichen Zahl der Gemeindevertreter dem zustimmen.
Dass die Angelegenheit der Kriterien für die Vergabe von Standplätzen auf dem Weihnachtsmarkt nicht schon in der Einladung verzeichnet war, lässt sich daraus schließen, dass der Magistrat dieses Thema unter dem letzten Tagesordnungspunkt „Verschiedenes“ in die Sitzung eingebracht hat. Die Angelegenheit wurde also nicht unter einem eigenen, aus der Einladung ersichtlichen Tagesordnungspunkt verhandelt. Zwar lässt sich die Abstimmung der anwesenden Stadtverordneten über die Änderung der Satzung so verstehen, dass sie damit zugleich stillschweigend im Sinne von § 58 Abs. 2 HGO ihre Zustimmung zur Verhandlung und zum Beschluss über diese Angelegenheit zum Ausdruck gebracht haben.
§ 58 Abs. 2 HGO wäre danach allenfalls dann nicht verletzt, wenn die Vorschrift erlaubt, über die Angelegenheit immerhin unter dem Tagesordnungspunkt „Verschiedenes“ zu verhandeln und zu beschließen. Die Tagesordnung ist zwar zum einen ein politisches Gestaltungsmittel der Stadtverordnetenvorsteherin. Sie soll aber zum anderen die Mitglieder der Gemeindevertretung schützen: Die Gemeindevertreter sollen anhand der Einladung über ihre Teilnahme an der Sitzung entscheiden und sich auf die jeweilige Angelegenheit inhaltlich vorbereiten können
Der Beschluss leidet somit auch dadurch an einem formellen Rechtsfehler, dass über ihn unter dem letzten Tagesordnungspunkt „Verschiedenes“ verhandelt und beschlossen wurde.
(6) Erreichen der erforderlichen Stimmenmehrheit
Nach § 54 Abs. 1 S. 1 HGO werden Beschlüsse, soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen gefasst. Bei Stimmengleichheit ist ein Antrag abgelehnt (§ 54 Abs. 1 S. 2 HGO). Stimmenthaltungen und ungültige Stimmen zählen zur Berechnung der Mehrheit nicht mit (§ 54 Abs. 1 S. 3 HGO). Eine andere gesetzliche Bestimmung findet sich unter anderem in § 6 Abs. 2 S. 1 HGO, wonach die Beschlussfassung über die Hauptsatzung und ihre Änderung der Mehrheit der gesetzlichen Zahl der Gemeindevertreter bedarf. Mit Blick auf andere Satzung, namentlich auch einer Satzung über öffentliche Einrichtungen (vgl. § 19 Abs. 2 HGO) ist eine andere gesetzliche Bestimmung nicht ersichtlich. Damit bleibt es bei den Bestimmungen in § 54 Abs. 1 HGO.
Der Antrag, die Satzung für den Weihnachtsmarkt zu ändern, hat 11 Ja-Stimmen, 8 Enthaltungen und 10 Nein-Stimmen erhalten. Da die Enthaltungen nicht mitzählen, ist nur die Zahl der Ja- und der Nein-Stimmen zu vergleichen. Da die Zahl der Ja-Stimmen hier höher ist als die Zahl der Nein-Stimmen, hat der Antrag die erforderliche Stimmenmehrheit erreicht.
Zwischenergebnis
Formelle Rechtsfehler liegen in der fehlenden Öffentlichkeit, der fehlenden Beschlussfähigkeit und der Verhandlung und des Beschlusses über den Antrag unter dem Tagesordnungspunkt „Verschiedenes“.
Materielle Rechtsfehler des Beschlusses
Der Beschluss leidet an materiellen Rechtsfehlern, wenn die Stadtverordnetenversammlung die Satzung inhaltlich nicht auf diese Weise ändern durfte. Zu prüfen ist zum einen, ob die Satzungsänderung auf einer hinreichenden Ermächtigungsgrundlage beruht, und zum anderen, ob der Inhalt der Änderung – die geänderten Vergabekriterien – auch im Übrigen mit höherrangigem Recht vereinbar ist.
Ermächtigungsgrundlage für die Satzungsänderung
Das Recht, Satzungen zu erlassen, können Gemeinden schon aus der verfassungsrechtlichen Garantie der kommunalen Selbstverwaltung in Art. 137 Abs. 3 HV ableiten. Einfachgesetzlich bestimmt § 5 Abs. 1 S. 1 HGO, dass die Gemeinden die Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft durch Satzung regeln können, soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist. Ob die Beschränkung der Satzungsbefugnis auf Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft ein Redaktionsversehen ist und § 5 Abs. 1 S. 1 HGO im Gleichlauf mit Art. 137 Abs. 1 HV und § 2 S. 1 HGO dahingehend auszulegen ist, dass Gemeinden sämtliche, ihnen nicht gesetzlich entzogene Aufgaben durch Satzung regeln dürfen,
Der Vorbehalt des Gesetzes, der sich aus dem Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 2 GG) und dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) ableiten lässt und im Bereich der Grundrechtsausübung durch grundrechtliche Gesetzesvorbehalte konkretisiert wird, erfordert jedenfalls für belastendes Handeln der Verwaltung eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage. Wesentliche Entscheidungen sind dem Gesetzgeber vorbehalten. Die allgemeine Befugnis zum Satzungserlass in § 5 Abs. 1 S. 1 HGO kennzeichnet nicht hinreichend bestimmt, in welchen Fällen und in welchem Umfang die Gemeinde in Grundrechte der Einwohner eingreifen darf. Daher bedarf es für Grundrechtseingriffe einer besonderen Ermächtigungsgrundlage.
Vorliegend ändert die Satzungsänderung die Kriterien, anhand deren im Fall einer Erschöpfung der Platzkapazitäten auf dem Weihnachtsmarkt die Stände zu vergeben sind. Die Ablehnung eines Bewerbers um einen Standplatz enthält dem Bewerber vielmehr staatliche eine Leistung – die Zuteilung eines knappen Guts – vor. Insofern ist eine solche Entscheidung zwar mit Blick auf Art. 3 Abs. 1 GG und gegebenenfalls auch die Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG grundrechtlich relevant. Da der Leistungsanspruch aber von vornherein unter dem Vorbehalt steht, dass Kapazitäten vorhanden sind, und somit den Inhalt eines bloßen Teilhabeanspruchs einnimmt, geht eine echte Eingriffswirkung mit der Ablehnung nicht einher. Hinzu kommt, dass sich das Erfordernis und auch die Befugnis, einzelne Bewerber im Fall einer Kapazitätserschöpfung nicht zuzulassen, schon aus § 70 Abs. 3 GewO analog und damit aus einer einfachgesetzlichen Bestimmung ergibt. Die Regelung der Vergabekriterien in der Satzung füllt nur den sich öffnenden Spielraum bei der Entscheidung aus, welchen Bewerbern der Vorzug gegeben wird, und trägt zur Vorhersehbarkeit der Entscheidung für die Bewerber bei. Um eine wesentliche Entscheidung handelt es sich dabei nicht. Einer besonderen gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage für die Festlegung der Vergabekriterien in Satzungsform bedurfte es damit nicht.
Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht
Die geänderten Vergabekriterien sehen vor, dass einer der fünf Glühweinstandplätze jedes Jahr nach dem Losverfahren zu vergeben ist. Diese Regelung eröffnet nunmehr jedem Bewerber um einen Glühweinstand eine reale, wenn auch kleine Chance darauf, als Betreiber eines Glühweinstands zum Weihnachtsmarkt zugelassen zu werden. Damit werden die neuen Vergabekriterien dem allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz in Art. 3 Abs. 1 GG und der Analogie zu § 70 Abs. 3 GewO gerecht. Auch im Übrigen hält die Satzungsänderung inhaltlich die räumlichen, sachlichen, personellen und zeitlichen Grenzen ein.
Zwischenergebnis
Der Beschluss über die Satzungsänderung leidet nicht an materiellen Rechtsfehlern.
Zwischenergebnis
Der Beschluss der Satzungsänderung durch die Stadtverordnetenversammlung verletzt das Recht.
Innerhalb von sechs Monaten nach Beschlussfassung
Der Regierungspräsident hat den Beschluss hier schon am 11. November 2022, damit zwei Tage nach der betreffenden Sitzung der Stadtverordnetenversammlung und somit innerhalb von sechs Monaten nach der Beschlussfassung aufgehoben. Weitere zeitliche Grenzen gelten nicht. Insbesondere betrifft die – ebenfalls sechsmonatige – Frist zur Geltendmachung der Verletzung bestimmter Vorschriften mit Blick auf Satzungen in § 5 Abs. 4 S. 1 HGO nicht die Befugnis der Aufsichtsbehörde, einen dem Satzungserlass oder der Satzungsänderung zugrunde liegenden Beschluss der Stadtverordnetenversammlung zu beanstanden (§ 5 Abs. 4 S. 2 HGO).
Vertiefungshinweis zur Heilungsvorschrift in § 5 Abs. 4 S. 1 HGO
Nach § 5 Abs. 4 S. 1 HGO ist für die Rechtswirksamkeit der Satzungen eine Verletzung der Vorschriften der §§ 53, 56, 58, 82 Abs. 3 und des § 88 Abs. 2 HGO unbeachtlich, wenn sie nicht innerhalb von sechs Monaten nach der öffentlichen Bekanntmachung der Satzung schriftlich unter Bezeichnung der Tatsachen, die eine solche Rechtsverletzung begründen können, gegenüber der Gemeinde geltend gemacht worden ist. Diese Vorschrift ist dann zu prüfen, wenn jemand die Satzung selbst angreift, sei es im Wege der prinzipalen Normenkontrolle nach § 47 Abs. 1 Nr. 1 oder Nr. 2 VwGO, sei es im Wege der inzidenten Normenkontrolle im Rahmen eines anderen verwaltungsgerichtlichen Verfahrens. Im hier vorliegenden Fall wird die Frage, ob die Satzungsänderung unwirksam ist, aber gar nicht aufgeworfen – die Aufsichtsbehörde hebt nach § 138 HGO nicht die Satzungsänderung (den Außenrechtsakt) auf (und darf das auch gar nicht),
Kein Ausschluss durch öffentliche Bekanntmachung der Satzungsänderung
Da die Gemeinde die Satzungsänderung schon am 10. November 2022 und damit zeitlich vor der Beanstandung im Sinne von § 5 Abs. 3 S. 1 HGO ausgefertigt und öffentlich bekannt gemacht hat, stellt sich die Frage, ob eine Beanstandung des der Satzungsänderung zugrunde liegenden Beschlusses der Stadtverordnetenversammlung ausgeschlossen war. Immerhin ist die öffentlich bekannte gemachte Satzungsänderung als Außenrechtsakt in der Welt. Systematisch zeigt § 139 HGO, dass die Aufsichtsbehörde auch die Möglichkeit hat, bei die Gemeinde im Fall eines rechtswidrigen Unterlassens zu einem rechtmäßigen Tätigwerden innerhalb einer bestimmten Frist anzuweisen – die Aufsichtsbehörde könnte die Gemeinde also auch anweisen, den Beschluss auf rechtmäßige Weise zu wiederholen.
Allerdings zeigt § 138 HGO bei einer weiteren systematischen Betrachtung, dass der Gesetzgeber die Situation eines schon vor Beanstandung des Innenrechtsakts (Beschluss) nach außen vollzogenen Außenrechtsakts (Satzung, Verwaltungsakt oder ähnliches) im Blick hatte: Nach § 138 HGO kann die Aufsichtsbehörde gemeinsam mit einer Beanstandung verlangen, dass Maßnahmen, die aufgrund aufzuhebender Beschlüsse getroffen worden sind, rückgängig gemacht werden. Die Aufsichtsbehörde hat damit zwar nicht die Möglichkeit, die auf dem beanstandeten Beschluss beruhende Satzung oder Satzungsänderung selbst aus der Welt zu schaffen oder für ungültig zu erklären (wie es der VGH nach § 47 Abs. 5 S. 2 VwGO kann). Sie kann aber von der Gemeinde verlangen, dass die Gemeinde die infolge der Beanstandung des Beschluss eingetretene Unwirksamkeit der Satzung in derselben Weise öffentlich bekanntmacht wie die Satzung selbst und damit den Rechtsschein einer wirksamen Satzung aus der Welt schafft.
Fehlerfreie Ermessensausübung
Angesichts des Wortlauts „kann“ steht die Beanstandung im Ermessen (§ 40 HVwVfG) der Aufsichtsbehörde, das gerichtlich auf Ermessensfehler hin zu überprüfen ist (§ 114 S. 1 VwGO). Denkbar ist allein, dass die Aufsichtsbehörde die gesetzlichen Grenzen des Ermessens dadurch überschritten hat, dass sie unverhältnismäßig gehandelt hat. Namentlich stellt sich die Frage, ob die Beanstandung erforderlich und angemessen war. Als alternative Maßnahme wäre denkbar gewesen, die Gemeinde zunächst dazu aufzufordern, den betreffenden Beschluss selbst aufzuheben.
Zwischenergebnis
Die Beanstandung ist nicht materiell rechtswidrig.
Zwischenergebnis
Die Beanstandung ist nicht rechtswidrig. Die Klage ist mangels rechtswidrigen Verwaltungsakts unbegründet.
Ergebnis
Die Klage der Stadt Gießen ist zulässig, aber unbegründet. Sie hat keine Aussicht auf Erfolg.