§ 224 StGB normiert die „gefährliche Körperverletzung“. Die Norm listet, aufgeteilt auf fünf Nummern, besondere Merkmale auf, die eine einfache Körperverletzung zur gefährlichen Körperverletzung qualifizieren. Grund für den erhöhten Strafrahmen ist die Gefahr erheblicher Verletzungen (zB bei Einsatz eines gefährlichen Werkzeugs iSv § 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 StGB) oder die eingeschränkte Verteidigungschance der verletzten Person (etwa bei hinterlistigem Vorgehen gem. § 224 Abs. 1 Nr. 3 StGB). Je nach Qualifikationsmerkmal sind diese Gesichtspunkte unterschiedlich stark ausgeprägt.
Im juristischen Gutachten sind stets alle in Betracht kommenden Varianten des § 224 StGB zu prüfen; diese müssen aber nicht kumulativ vorliegen, damit § 224 StGB erfüllt ist.
Deliktsstruktur
Nach überwiegender Ansicht stellt die gefährliche Körperverletzung eine Kombination aus Verletzungs- und abstraktem Gefährdungsdelikt dar. Für die Auslegung der Norm ist jedoch auch die konkrete Gefährdung in der beurteilten Tatsituation relevant (vgl. dazu insb. unter → Rn. 10).
Objektiver Tatbestand
§ 224 Abs. 1 Nr. 1 StGB: Gift und gesundheitsschädliche Stoffe
Für Gift ist die folgende Definition üblich:
Gifte sind organische oder anorganische Stoffe, die durch chemische oder chemisch-physikalische Wirkung die Gesundheit schädigen.
Beispiel: Bleichmittel, das im Magen die Organe schädigt.
In Abgrenzung zu § 224 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 StGB (andere gesundheitsschädliche Stoffe) kommt es beim Gift auf die chemische oder chemisch-physikalische Wirkung im Körper an.
Weiterführendes Wissen: Bekannt sein sollte in diesem Zusammenhang der – wenn auch in den Details vorwiegend im allgemeinen Teil (Mittäterschaft bei Gremienentscheidungen) relevante – Lederspray-Fall.
Andere gesundheitsschädliche Stoffe, § 224 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 StGB
Andere gesundheitsschädliche Stoffe sind solche, die den Körper „anders“ – also nicht-chemisch – schädigen. Diese Wirkung kann thermisch (Verbrennungen oder Erfrierungen durch heißes bzw. kaltes Wasser) oder biologisch (Bakterien und Viren) sein. Dies schließt Krankheitserreger wie zB SARS-CoV-2 oder auch das HI-Virus
Beibringen und Gesundheitsschädlichkeit
„Beigebracht“ ist das Gift oder der Stoff, wenn er dergestalt mit dem Körper der verletzten Person in Kontakt kommt, dass es seine gesundheitsschädliche Wirkung entfalten kann.
Das Gift oder der Stoff muss die verletzte Person nach überwiegender Ansicht in die konkrete, also tatsächlich vorliegende, Gefahr einer erheblichen Gesundheitsschädigung bringen.
§ 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB: Waffen und gefährliche Werkzeuge
Waffe, § 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 1 StGB
Eine Waffe ist ein Gegenstand, der nach Art der Anfertigung dazu bestimmt ist, Menschen zu verletzen.
Typische Waffen sind Schuss-, Hieb- und Stichwaffen. Die Waffeneigenschaft eines Gegenstandes verdrängt als Spezialfall den Oberbegriff des gefährlichen Werkzeugs, sodass zB ein Kampfmesser nicht mehr unter das gefährliche Werkzeug zu subsumieren ist (vgl. den Wortlaut des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB: Waffe oder eines anderen gefährlichen Werkzeugs). Nicht erforderlich für die Waffeneigenschaft ist die Anwendbarkeit des WaffG.
Gefährliches Werkzeug, § 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 StGB
Definition
Ein gefährliches Werkzeug ist ein Gegenstand, der nach seiner objektiven Beschaffenheit und der Art der konkreten Verwendung dazu geeignet ist, erhebliche Verletzungen herbeizuführen.
Im Gegensatz zu Waffen, die zur gefährlichen Verletzung sozusagen „geboren“ sind, handelt es sich bei gefährlichen Gegenständen um Alltagsgegenstände, die erst in der konkreten Tatsituation zur Körperverletzung „erkoren“ wurden.
Ob der gefährliche Gegenstand beweglich sein muss, ist umstritten. Nach wohl herrschender Ansicht, die insb. von der Rechtsprechung vertreten wird, sind nur solche Gegenstände erfasst, die „durch menschliche Einwirkung irgendwie gegen einen menschlichen Körper in Bewegung gesetzt werden können“.
Die Gegenauffassung argumentiert hingegen zu Recht, dass es nicht darauf ankommen kann, ob eine Person gegen einen unbeweglichen Felsen geschlagen (dann nach hM kein § 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 StGB) oder ob ein beweglicher Felsen gegen eine Person geschlagen wird (dann soll § 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 StGB nach hM einschlägig sein).
Beispiele: A schlägt den Kopf von B gegen die Wand. C schubst D die Betontreppe hinunter. E schlägt den Kopf von F gegen den Bordstein.
Klausurhinweis: In der Klausur kommt es auf die Abgrenzung einer Waffe von einem anderen gefährlichen Werkzeug nicht entscheidend an, da das Gesetz in beiden Fällen dieselbe Rechtsfolge anordnet. Wenn Sie sich bei der Einordnung eines Gegenstandes unsicher sind, können Sie notfalls offenlassen, ob eine Waffe oder jedenfalls ein anderes gefährliches Werkzeug vorliegt. Von hoher praktischer Bedeutung ist jedoch die Frage, inwieweit Alltagsgegenstände, die sicher keine Waffen sind, unter den Begriff des gefährlichen Werkzeugs subsumiert werden können (oder aber überhaupt nicht unter § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB fallen).
Bedeutsame Fallkonstellationen
Im Folgenden sollen einige besonderen Fallkonstellationen vorgestellt werden, für die sich in der Rechtsprechung eine Kasuistik entwickelt hat.
Beschuhter Fuß und Handschuhe
Bei Tritten mit einem beschuhten Fuß hängt die Gefährlichkeit sowohl von der Beschaffenheit des Schuhs als auch von der konkreten Verwendung (getroffene Körperregionen) ab. Bei festem Schuhwerk wird man eine hinreichend erhöhte Gefährlichkeit der Tritte regelmäßig annehmen. Aber auch bei „normalen Straßenschuhen“ kann ein wuchtiger Tritt gegen empfindliche Körperteile ausreichen.
Dieselben Grundsätze gelten für Handschuhe. Insb. bei eingenähter Sandverstärkung (sog. Quarzhandschuhe) ist die Schlagwirkung erheblich verstärkt, sodass diese regelmäßig gefährliche Werkzeuge darstellen.
Klausurhinweis: In der Klausur sollten sämtliche Sachverhaltsangaben zur Beschaffenheit der (Hand-)Schuhe in die Subsumtion einfließen.
Der Einsatz von Tieren (Hunden)
Eine weitere häufige Problemkonstellation sind Körperverletzungen, die durch ein Tier wie zB einen Hund zugefügt wurden. Eine Strafbarkeit nach § 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 StGB kommt hier in Betracht, wenn der Täter das Tier bewusst wie ein Werkzeug (vgl. Wortlaut „mittels“) auf das Opfer hetzt. Wenn das Tier dagegen nicht auf menschliches Geheiß, sondern aus eigenem Instinkt angreift, ist § 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 StGB nicht einschlägig. Wenn die das Tier führende Person unachtsam ist, kommt aber zB eine Strafbarkeit aus § 229 StGB in Betracht (→ § 11).
Beispiele:
A hat Streit mit B. Um die Diskussion zu beenden, befiehlt sie ihrem Hund H, auf den B loszugehen. H beißt den B ins Bein (§§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 StGB).
E geht entspannt mit seinem nicht angeleinten Hund in einem öffentlichen Park spazieren. Als er gerade sein Handy in der Hand hat, läuft der Hund unbemerkt zu der Spaziergängerin S und beißt dieser in die Hand (§ 229 StGB).
Medizinischer Heileingriff
Medizinische Instrumente (insb. Skalpelle, Spritzen, Bohrer etc.) stellten nach früherer hM keine gefährlichen Werkzeuge dar.
In jüngerer Vergangenheit sind zunächst das OLG Karlsruhe
Scheren und Messer
Der Einsatz einer Schere beim feindseligen Abschneiden von Haaren stellt keine Verwendung dar, die geeignet ist, erhebliche Verletzungen zuzufügen.
Verletzung „mittels“ eines gefährlichen Tatmittels
Schließlich muss der Verletzungserfolg „mittels“ der Waffe oder des gefährlichen Werkzeugs herbeigeführt werden. Dabei ist nach Rechtsprechung des BGH nicht ausreichend, dass der Verletzungserfolg auf die Verwendung des Werkzeugs folgt. Das Werkzeug muss vielmehr direkt und von außen auf den Körper einwirken.
Beispiel: A schießt mit einer Pistole in den Reifen eines Pkw. Fahrzeugführer B erschrickt und verunfallt, wobei die Insassen des Wagens verletzt werden.
Der Schuss des A hat die Verletzungen des B in diesem Fall nur indirekt bewirkt, so dass A die Körperverletzung nach Ansicht des BGH nicht mittels einer Waffe begangen hat.
§ 224 Abs. 1 Nr. 3 StGB: hinterlistiger Überfall
Ein Überfall ist ein unvorhergesehener Angriff, auf den sich das Opfer nicht vorbereiten kann. Hinterlistig ist der Überfall, wenn der Täter seine Angriffsabsicht planmäßig verbirgt, um dadurch dem Opfer die Abwehr zu erschweren.
Bei § 224 Abs. 1 Nr. 3 StGB begründen die auf Grund der heimlichen Begehungsweise deutlich herabgesetzten Verteidigungschancen der angegriffenen Person die erhöhte Strafandrohung.
Zu beachten ist, dass der hinterlistige Überfall – trotz gewisser Ähnlichkeiten – nicht dem Begriff der Heimtücke bei § 211 Abs. 2 Gruppe 2 Var. 1 StGB entspricht. Analog zur Heimtücke bedarf es zwar auch bei § 224 Abs. 1 Nr. 3 StGB der Arglosigkeit der angegriffenen Person. Der Täter muss diese Arglosigkeit bei § 224 Abs. 1 Nr. 3 StGB jedoch auch in planmäßiger List für seine Zwecke verwenden. Es genügt für § 224 Abs. 1 Nr. 3 StGB also nicht, wenn der Täter lediglich ein Überraschungsmoment ausnutzt (indem er zB plötzlich von hinten angreift, während das Opfer ihm den Rücken zudreht). Dies führt zu dem vielleicht kontraintuitiven Ergebnis, dass der hinterlistige Überfall iSd § 224 Abs. 1 Nr. 3 StGB enger auszulegen ist als das Merkmal der Heimtücke (→ § 2 Rn. 21 ff.).
§ 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB: mit einem anderen Beteiligten gemeinschaftlich
Eine Körperverletzung wird mit einem anderen Beteiligten gemeinschaftlich begangen, wenn mindestens zwei Personen zusammenwirken und der verletzten Person gefahrsteigernd gegenüberstehen.
Grund der durch § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB bewirkten Strafschärfung ist das aus der Gruppendynamik folgende erhöhte Eskalations- und Gefährdungspotenzial.
Damit § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB erfüllt ist, muss neben dem Täter mindestens eine Person zusätzlich am Tatort anwesend sein. Umstritten ist, ob die am Tatort zusätzlich anwesende Person bloßer Gehilfe sein kann oder ob sie Mittäter sein muss. Die hM lässt die Gehilfenstellung genügen
Die Beteiligung der mindestens einen zusätzlichen Person muss zu einer erhöhten abstrakten Gefährlichkeit der Körperverletzung für das Opfer führen. Dies wird vom BGH
Mindestens zwei Angreifer üben Verletzungshandlungen aus und können damit eine größere Zahl an Verletzungen beibringen als ein einzelner Täter.
Die Verteidigungsmöglichkeiten des Opfers sind durch die Anwesenheit mehrerer Beteiligter entweder tatsächlich eingeschränkt oder jedenfalls aus Sicht des Opfers scheinbar eingeschränkt (etwa weil es denkt, eine Gegenwehr sei angesichts der Übermacht aussichtslos). Wenn die Verteidigungschancen des Opfers auf Grund der Vielzahl der Angreifer tatsächlich herabgesetzt sind, ist es gleichgültig, ob das Opfer von den weiteren Beteiligten weiß.
Rengier, BT II, 25. Aufl. (2024), § 14 Rn. 46. Auch sonstige psychische Unterstützungshandlungen für den Täter, der die Körperverletzung unmittelbar begeht, können eine gemeinschaftliche Begehung darstellen, sofern sich die Unterstützung – um die Strafrahmenerhöhung rechtfertigen zu können – gefahrerhöhend auswirkt. In der Literatur wird hierzu betont, dass reine Bestärkungsakte („Anfeuern“) dafür nicht ausreichend können.
ZB von Heger, in: Lackner/Kühl/Heger, 30. Aufl. (2023), § 224 Rn. 7 mwN. Oft wird für solche Konstellationen verlangt, dass die „anfeuernde“ Person sich zumindest auch selbst bereit zeigen muss, notfalls aktiv in das Geschehen einzugreifen.So statt vieler Küper, GA 2003, 363 (381)
Die letzten beiden Fallkonstellationen zeigen, dass nicht jede Person eigenhändig Verletzungshandlungen ausführen muss, solange sie einsatzbereit am Tatort dem Opfer gegenübertritt oder sonst gefahrerhöhend mitwirkt. Nicht ausreichend ist es dagegen, wenn ein Beteiligter schlicht passiv am Tatort neben dem Täter steht.
Umstritten ist, ob § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB erfüllt ist, wenn mindestens zwei zur Hilfeleistung verpflichtete Garanten sich ausdrücklich oder konkludent zum Nichtstun verabreden und gleichzeitig am Tatort präsent sind (näher → Rn. 37 ff.).
Wichtig ist, dass (Mit-)Täter der gefährlichen Körperverletzung mit einem anderen Beteiligten nur sein kann, wer auch (Mit-)Täter der Körperverletzung ist. Der Beteiligte iSd § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB macht sich nur der Beihilfe zur gefährlichen Körperverletzung schuldig, wenn die Voraussetzungen der Täterschaft nicht vorliegen.
Beispiel: A möchte C verprügeln. Zur Unterstützung kommt B mit, steht bedrohlich in der Ecke und ist bereit, im Notfall einzugreifen. A kontrolliert die Situation jedoch vollständig und ist nicht auf den B angewiesen. Hier macht sich A wegen einer täterschaftlichen gefährlichen Körperverletzung (§ 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB), B aber nur wegen Beihilfe (§§ 224 Abs. 1 Nr. 4, 27 StGB) dazu strafbar.
§ 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB: Lebensgefährdende Behandlung
Eine Körperverletzung erfolgt mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung, wenn die Verletzungshandlung (nicht: der Verletzungserfolg!)
Eine Mindermeinung in der Literatur verlangt darüber hinaus eine konkrete Lebensgefährdung im Einzelfall.
Klausurhinweis: Relevanz entfaltet dieses in der Praxis kaum mehr relevante Problem in der Klausurbearbeitung insbesondere dann, wenn die verletzte Person nicht konkret in Lebensgefahr schwebte, obwohl sie einer potenziell lebensgefährlichen Behandlung unterzogen wurde (zB wenn jemand angeschossen wird, die Kugel aber letztlich nur das Ohr streift). In solchen Fällen ist das hier behandelte Problem im Gutachten kurz anzusprechen und das Erfordernis einer konkreten Lebensgefahr abzulehnen.
Wenn die verletzte Person dagegen tatsächlich in Lebensgefahr schwebt, stellt sich das Problem nicht, da dann selbst die engere Literaturauffassung dazu kommt, dass § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB erfüllt ist. Sie können dann das Merkmal dann im erweiterten Feststellungsstil beispielsweise mit folgender Formulierung abhandeln: „O drohte durch die Schussverletzung zu sterben, so dass § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB selbst nach der engsten dazu vertretenen Auffassung, die verlangt, dass das Opfer in konkrete Lebensgefahr gebracht wurde, erfüllt ist.“
Auch bei § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB muss die Körperverletzung „mittels“ einer das Leben gefährdenden Behandlung erfolgen. Hierfür genügt es nicht, dass mit der Behandlung lediglich ein Kausalverlauf in Gang gesetzt wurde, der zu einer abstrakten Lebensgefahr führt. Vielmehr muss die Lebensgefahr in der Behandlung direkt angelegt sein.
Beispiele:
Stößt A den B auf die Fahrbahn einer Straße, ohne ihn durch den Stoß selbst weiter zu verletzen, entsteht eine Lebensgefahr für B erst dadurch, dass er möglicherweise von vorbeifahrenden Autos erfasst wird, nicht aber schon durch den Stoß – also die für § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB relevante Handlung – selbst.
Wirft A jedoch das Baby B in eiskaltes Wasser, ist bereits die Handlung geeignet, eine Lebensgefahr für B herbeizuführen.
Begehen durch Unterlassen
Grundlagen
Die gefährliche Körperverletzung kann gemäß den allgemeinen Regeln auch durch Unterlassen begangen werden, soweit das Unterlassen gem. § 13 Abs. 1 Hs. 2 StGB der Verwirklichung durch aktives Tun entspricht (zB wenn eine Aufsichtsperson zulässt, dass ein Kind ein Gift trinkt oder in eine Säge greift).
Nicht durch bloßes Unterlassen begangen werden kann ein hinterlistiger Überfall (§ 224 Abs. 1 Nr. 3 StGB), da dieser Tatbestand verlangt, dass der Täter planmäßig darauf hinarbeitet, eine für die Verteidigungschancen des Opfers nachteilige Situation zu schaffen. Im bloßen Nichtstun kann aber kein planmäßiges Gestalten einer solchen Situation, sondern lediglich das Ausnutzen vorhandener Bedingungen liegen.
Aktuelles Problem: Unterlassen bei § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB
Ein aktuelles und damit besonders klausurrelevantes Problem stellt die Frage dar, ob § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB erfüllt sein kann, wenn mindestens zwei zur Hilfeleistung verpflichtete Garanten sich ausdrücklich oder konkludent zum Nichtstun verabreden und gleichzeitig am Tatort präsent sind.
Beispiel 1 (nach BGHSt 67, 290): A, B und C sind Garanten für die unter Betreuung stehende O. Eines Tages erleidet O einen psychotischen Anfall, in dessen Verlauf sie sich unter anderem übergibt und Muskelkrämpfe erleidet.
A, B und C erkennen, dass O fachärztliche Hilfe benötigt und ihr Leiden durch die richtigen Medikamente schnell gelindert werden könnte. Gleichwohl verabreden sie, keine ärztliche Hilfe hinzuzuziehen.
Beispiel 2 (nach BGHSt 67, 229): A und B sind Eltern des einjährigen Kindes O. Obwohl sie ärztlich mehrfach davor gewarnt werden, dass O unterernährt ist, kommen A und B zumindest konkludent überein, O nicht mit den notwendigen Nährstoffen zu versorgen, obwohl ihnen dies möglich wäre. O erleidet infolge der Mangelernährung dauerhafte körperliche Schäden.
Die Beispielfälle sind an zwei jüngere Entscheidungen angelehnt, die zum einen der 2. BGH-Strafsenat und zum anderen der 6. Strafsenat getroffen haben. In diesen Entscheidungen haben die Senate die Frage, ob § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB angewendet werden kann, gegenteilig beantwortet:
In BGHSt 67, 229 vertritt der 2. BGH-Strafsenat die Ansicht, dass § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB nicht dadurch erfüllt werden kann, dass zwei (oder mehr) Garanten sich zur Nicht-Abwendung des Erfolgs verabreden. Zwar gebe der Wortlaut von § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB („mit anderen […] gemeinschaftlich begeht“) hierfür keinen Anhaltspunkt; insbesondere der Begriff „begehen“ werde vom Gesetz ausweislich der Überschrift von § 13 StGB („Begehung durch Unterlassen“) neutral sowohl für aktives Tun als auch für Unterlassen verwendet. Auch die Gesetzesbegründung schweige zu der Frage. Jedoch spreche das Telos des § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB für die vom 2. Strafsenat gefundene Lösung: Eine „Abrede zum Nichtstun“ unter den Garanten erhöhe nicht in selber Weise die von § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB in den Blick genommene abstrakte Gefährlichkeit der Körperverletzung, wie die anerkannten Aktiv-Konstellationen des § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB. Ohne eine erhöhte Gefährlichkeit lasse sich aber der erhöhte Strafrahmen nicht rechtfertigen. Der Senat bedient sich ergänzend eines Erst-Recht-Schlusses: Wenn es für § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB schon nicht ausreiche, passiv neben einem Aktivtäter zu agieren, dann könne die Norm erst recht nicht greifen, wenn zwei oder mehrere Personen passiv bleiben, ohne dass es überhaupt einen Aktivtäter gibt.
Vertiefungshinweis zu dem Erst-Recht-Schluss des 2. BGH-Strafsenats
Der vom 2. BGH-Strafsenat angeführte Erst-Recht-Schluss (= wenn es für § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB schon nicht ausreicht, passiv neben einem Aktivtäter zu agieren, dann könne die Norm erst recht nicht greifen, wenn zwei oder mehrere Personen passiv bleiben, ohne dass es überhaupt einen Aktivtäter gibt) überzeugt nicht.
Ein Erst-Recht-Schluss ist nur zulässig, wenn zwischen der Aussage, die feststeht, und der Aussage, die erschlossen werden soll, nur ein einziger Unterschied besteht und dieser Unterschied ein steigerungsfähiges Merkmal ist.
Beispiel für einen legitimen Erst-Recht-Schluss:
Wenn schon zwei Autos nicht nebeneinander parken dürfen, dann dürfen das erst recht nicht drei Autos.
Die Steigerungsregel lautet hier: Je mehr Autos nebeneinander parken, desto mehr schränkt das den Straßenverkehr ein und ist daher verboten.
Bei dem hier behandelten Problem unterscheiden sich Ausgangssatz (= es genügt für § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB nicht, wenn neben einem Aktivtäter eine weitere Person schlicht passiv bleibt) und Schluss (= es genügt für § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB nicht, wenn mindestens zwei Garanten sich zum Nichts-Tun verabreden) aber in mehr als nur einem steigerungsfähigen Begriff: Einmal geht es darum, dass irgendjemand passiv neben einem aktiven Täter steht. Zum anderen geht es darum, dass mehrere Personen passiv sind, bei denen es sich aber um Garanten handelt, was in der aktiven Konstellation nicht der Fall ist.
Der Erst-Recht-Schluss führt daher in die Irre.
In BGHSt 67, 290 kommt der 6. BGH-Strafsenat zum gegenteiligen Ergebnis und meint, dass § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB erfüllt sei, wenn mindestens zwei zur Hilfeleistung verpflichtete Garanten sich ausdrücklich oder konkludent zum Nichtstun verabreden und gleichzeitig am Tatort präsent sind. Auch hier steht die teleologische Argumentation im Vordergrund, jedoch mit anderer Stoßrichtung als beim 6. BGH-Strafsenat. Denn der 6. Senat ist der Auffassung, dass auch eine „Abrede zum Nichtstun“ unter den Garanten die abstrakte Gefährlichkeit der Körperverletzung erhöhe, da eine solche Vereinbarung wechselseitig den Tatentschluss stärke (Gruppendynamik) und die Wahrscheinlichkeit verringere, dass einer der Garanten seiner Garantenpflicht gerecht wird.
Vertiefungshinweis: Da der BGH gemeinsam mit den Obergerichten der Länder die Aufgabe hat, die Rechtsprechung zu vereinheitlichen, sollten widersprüchliche Senatsentscheidungen eigentlich nicht vorkommen. Daher verpflichtet § 132 Abs. 3 S. 1 GVG einen BGH-Senat, der plant, von der Rechtsprechung eines anderen Senats abzuweichen, den anderen Senat im Zuge einer sog. Divergenzvorlage anzufragen, ob der andere Senat an seiner Linie festhalten möchte. Wenn die Senate sich im Divergenzverfahren nicht einigen können, muss der Große Senat für Strafsachen entscheiden (§ 132 Abs. 2 GVG). Dieses System hat in der hier behandelten Konstellation versagt, weil der 2. Strafsenat seine Entscheidung zwar schon im Januar 2023 getroffen, sie aber erst viele Monate später veröffentlicht hat. Als der 6. Strafsenat im Mai 2023 seine Entscheidung fällte, war ihm die gegenteilige Entscheidung des 2. Senats daher nicht bekannt. Die nun bestehende Divergenz kann erst aufgelöst werden, wenn erneut ein passender Fall den BGH erreicht.
Für die Auffassung des 6. BGH-Strafsenats spricht, dass es durchaus vorstellbar ist, dass durch eine „Untätigkeitsvereinbarung“ eine psychologische Hemmschwelle geschaffen wird, dem Opfer zu helfen.
Klausurhinweis: Das skizzierte Auslegungsproblem in der Klausur aufzugreifen, ist nicht ganz leicht. Es empfiehlt sich, zunächst §§ 223 Abs. 1, 13 Abs. 1 StGB zu prüfen, um der Korrektor:in einen sicheren Umgang mit den Anforderungen des unechten Unterlassungsdelikt zu demonstrieren. Das hat den Vorzug, dass bei der sich dann anschließenden Prüfung von § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB das Augenmerk auf die besonderen Probleme dieses Tatbestands gelegt werden kann. Es empfiehlt sich dann der folgende Aufbau:
a) Zunächst ist zu erörtern, ob die Garanten „Beteiligte“ iSv § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB sind. Die Streitfrage, ob auch bloße Gehilfen unter den Begriff des Beteiligten fallen (→ Rn. 26) könnte man mit dem Argument offenlassen, dass die hM mehrere Garanten, die absprachegemäß alle nicht eingreifen, immer als Mittäter einstuft.
b) Im nächsten Schritt kann man sich dann dem Hauptproblem zuwenden, ob § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB durch eine „Untätigkeitsvereinbarung“ mehrerer Garanten verwirklicht werden kann. Es gibt zwei denkbare methodische Anknüpfungspunkte für dieses Rechtsproblem: Entweder legt man den Begriff „gemeinschaftlich“ aus und fragt sich, ob eine Tat „gemeinschaftlich“ begeht, wer sich verabredet, Nichts zu tun. Oder man prüft die Modalitätenäquivalenz und fragt danach, ob eine „Untätigkeitsvereinbarung“ wertungsmäßig den anerkannten Fallkonstellationen des § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB in der Aktivvariante entspricht. Da selbst der BGH seinen methodischen Zugang zu dem Problem allenfalls andeutet, kann man den Ansatzpunkt auch offen lassen und feststellen, dass es jedenfalls darauf ankommt, ob das Verhalten der Garanten hinreichend gefahrsteigernd ist, um die durch § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB bewirkte erhebliche Strafschärfung zu rechtfertigen.
Ob man eine hinreichende Gefahrsteigerung sieht, ist dann Ansichtssache und kann mit den in → Rn. 40 genannten Argumenten angenommen oder abgelehnt werden.
Subjektiver Tatbestand
Der subjektive Tatbestand verlangt vorsätzliches Handeln iSd § 15 StGB. Dolus eventualis genügt. Es muss zusätzlich zu dem Vorsatz der einfachen Körperverletzung auch Vorsatz in Bezug auf das verwirklichte Qualifikationsmerkmal vorliegen.
Bei Nr. 1, 2 und 3 ist die Kenntnis der Umstände erforderlich, aus denen sich die Gefährlichkeit der Verletzungshandlung ergibt.
Für Nr. 4 muss sich der Vorsatz auf die gemeinschaftliche Begehung der Tat erstrecken.
Am anspruchsvollsten im subjektiven Tatbestand ist die Prüfung der lebensgefährdenden Behandlung (Nr. 5). Hier ist sauber zwischen Gefährdungsvorsatz und Tötungsvorsatz zu unterscheiden (vgl. → § 2 Rn. 9 ff.). Regelmäßig liegt (bloßer) Vorsatz zur lebensgefährdenden Behandlung vor, wenn der Täter zwar um die abstrakte Lebensgefährlichkeit seiner Handlungen weiß, aber auf den Nichteintritt des Todes nachvollziehbar vertraut. Aus der Prüfperspektive des Tötungsdelikts handelt der Täter damit bewusst fahrlässig hinsichtlich des Todeseintritts. Mangels eingetretenem Taterfolg (Tod) besteht jedoch keine Strafbarkeit nach § 222 StGB. In der Klausur kommt es entscheidend darauf an, den Sachverhalt umfassend auf vorsatzrelevante Indizien auszuwerten.
Konkurrenzen
Wie bei § 223 StGB (→ § 7 Rn. 64) liegt nur ein Fall von § 224 StGB vor, wenn Täter dasselbe Opfer aufgrund desselben Tatentschlusses in kurzem zeitlichen Abstand mehrfach hintereinander verletzt (zB durch fünf Schläge mit dem Knüppel). Es müssen dann keine Konkurrenzverwägungen angestellt und der Prüfung kann ein einheitlicher Einleitungssatz vorangestellt werden („T könnte sich gem. § 224 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 StGB strafbar gemacht haben, in dem er O fünfmal mit dem Knüppel schlug.“).
Strenger als bei § 223 StGB bewertet der BGH dagegen Fälle, in denen der Täter mehrere Opfer iSv § 224 StGB verletzt. Während bei § 223 StGB hier rechtliche Handlungseinheit (und damit Tateinheit) möglich ist,
Das Konkurrenzverhältnis von § 224 StGB zu § 223 StGB ist in → § 7 Rn. 65 f. beschrieben.
Nicht einfach zu beurteilen ist das Konkurrenzverhältnis zwischen § 224 StGB und § 226 StGB:
Einigkeit besteht heute darüber, dass zwischen § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB und § 226 StGB Tateinheit besteht, damit im Schuldspruch klar wird, dass der Täter das Opfer nicht nur in Lebensgefahr gebracht hat, sondern dies tatsächlich auch gravierende Konsequenzen hatte.
BGH NJW 2009, 863. Umstritten ist dagegen, ob dies auch im Verhältnis von § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB zu § 226 StGB gilt.
Beispiel: T sticht den O mit einem Messer, woraufhin dieser erblindet.
Der BGH hat in dieser Konstellation lange Tateinheit verneint und angenommen, dass § 226 StGB den § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB verdrängt.
BGHSt 21, 194 (195); BGH NJW 1976, 297 (298); BGH BeckRS 2007, 12999. Davon haben der 2. und der 3. BGH-Strafsenat sich jedoch jüngst unter Bezugnahme auf die hL in einem obiter dictum distanziert.BGH NStZ-RR 2021, 138; BGH BeckRS 2023, 19316. Sie argumentieren, dass das spezifische Tatunrecht, das mit dem wissentlichen und willentlichen Einsatz einer Waffe oder eines anderen gefährlichen Werkzeugs verbunden ist, im Schuldspruch nicht hinreichend zum Ausdruck komme, wenn neben § 226 StGB nicht auch § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB aufgeführt werde. Diesen Ausführungen ist zuzustimmen und sie sind im Übrigen auch auf alle anderen Fälle des § 224 Abs. 1 StGB zu übertragen. Nach richtiger Auffassung besteht zwischen § 224 StGB und § 226 StGB also (eine handlungseinheitliche Begehung vorausgesetzt) stets Tateinheit.
Nach derselben Logik wie bei § 226 StGB kann auch im Verhältnis zu § 227 StGB Tateinheit bestehen. Das gilt allerdings nicht für § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB, weil der darin aufgegriffene Erschwernisgrund der lebensgefährdenden Behandlung durch § 227 StGB abgedeckt ist.
Soweit andere Delikte die Erschwernisgründe des § 224 StGB vollständig aufgreifen, wird die Norm im Wege der Spezialität verdrängt (wie es zB im Fall von § 250 Abs. 2 Nr. 3 StGB im Verhältnis zu § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB der Fall ist).
Für das Konkurrenzverhältnis von § 224 StGB mit den Tötungsdelikten gelten die Ausführungen in → § 7 Rn. 68 f. entsprechend.
Aufbauschema
Prüfung gemeinsam mit § 223 StGB
Tatbestand
Objektiver Tatbestand
Objektiver Tatbestand des Grunddelikts
Handlung
Erfolg (= körperliche Misshandlung und/oder Gesundheitsschädigung)
Kausalität und objektive Zurechnung
Begehung des Grunddelikts...
durch Beibringung von Gift oder anderen gesundheitsschädlichen Stoffen
mittels einer Waffe oder eines anderen gefährlichen Werkzeugs
mittels eines hinterlistigen Überfalls
mit einem anderen Beteiligten gemeinschaftlich
mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung
Subjektiver Tatbestand
Vorsatz bzgl. des Grunddelikts
Vorsatz bzgl. verwirklichter Qualifikationsmerkmale
Rechtswidrigkeit
Schuld
Prüfung getrennt von § 223 StGB
Tatbestand
Objektiver Tatbestand
Beibringung von Gift oder anderen gesundheitsschädlichen Stoffen
Tatbegehung mittels einer Waffe oder eines anderen gefährlichen Werkzeugs
Tatbegehung mittels eines hinterlistigen Überfalls
Tatbegehung mit einem anderen Beteiligten gemeinschaftlich
Tatbegehung mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung
Subjektiver Tatbestand
Rechtswidrigkeit
Schuld
Prozessuales / Wissen für die 2. Juristische Prüfung
Wie sich aus einem Gegenschluss zu § 230 Abs. 1 StGB ergibt, ist bei der gefährlichen Körperverletzung kein Strafantrag erforderlich.
Weiterführende Studienliteratur und Übungsfälle
Wagner, Gefährliche Körperverletzung beim gemeinsamen Unterlassen, ZJS 2023, 1414 (Open Access)