Kilian Wegner Strafrecht AT I: Übungsfälle Licensed under CC-BY-4.0

Einheit 2: Kausalität (Lösung)

Fall 1

Nach der conditio-sine-qua-non-Formel in ihrer herrschenden Fassung wäre W für den Freiheitsentzug des H kausal geworden, wenn sein Verhalten nicht weggedacht werden könnte, ohne dass der Freiheitsentzug des H in seiner konkreten Gestalt entfiele.

Hätte W vorliegend nicht beim RSHA um die Inhaftierung des H ersucht, wäre H zwar mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit trotzdem in ein Konzentrationslager eingewiesen worden, jedoch erst zu einem späteren Zeitpunkt, wobei dafür dann möglicherweise auch ein anderes Lager gewählt worden wäre. Der Antrag des W kann folglich nicht hinweggedacht werden, ohne dass die Freiheitsentziehung des H in ihrer konkreten Gestalt entfiele. W ist damit im Ergebnis für die Freiheitsentziehung des H kausal geworden.

Hinweis: Als Faustregel lässt sich festhalten, dass hypothetische Ersatzursachen, durch die der Taterfolg auch eingetreten wäre, wenn der Täter ihn nicht selbst herbeigeführt hätte, bei der strafrechtlichen Kausalitätsprüfung nicht beachtet werden dürfen. (Anderes gilt bei der Prüfung der sog. objektiven Zurechnung des Taterfolgs zur Tathandlung, die Ihnen in der nächsten Übungseinheit näher vorgestellt wird.)

Fall 2

Nach der conditio-sine-qua-non-Formel wäre T für den Tod von O kausal geworden, wenn sein Verhalten nicht weggedacht werden könnte, ohne dass der Tod des O entfiele. Wenn T dem O nicht das Notfallmedikament aus der Hand geschlagen hätte, hätte O die Arznei einnehmen können und wäre mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht gestorben. Denkt man sich das Verhalten des T hinweg, entfiele also der Tod des O, d. h. T ist für den Tod des O kausal geworden.

Gegen dieses Ergebnis spricht auf den ersten Blick, dass der Tod des O bei Hinwegdenken des Verhaltens von T nur dann wegfällt, wenn man sich den hypothetischen Kausalverlauf hinzudenkt, dass O das Notfallmedikament einnimmt und es seine heilsame Wirkung rechtzeitig entfaltet. Während hypothetische Kausalverläufe, durch die der Taterfolg auch eingetreten wäre, wenn der Täter ihn nicht selbst herbeigeführt hätte, bei der strafrechtlichen Kausalitätsprüfung nicht beachtet werden dürfen, können hypothetische rettende Kausalverläufe bei der Anwendung der conditio-sine-qua-non-Formel jedoch nach ganz herrschender Auffassung ohne Weiteres berücksichtigt werden.

Fall 3

A könnte sich gem. § 212 Abs. 1 StGB strafbar gemacht haben, indem er dem B Gift in das Essen mischte.

Hinweis: Achten Sie auf die korrekte Formulierung des Obersatzes. Sie können entweder schreiben „A könnte sich gem. § 212 Abs. 1 StGB wegen Totschlags strafbar gemacht haben“ oder „A könnte sich gem. § 212 Abs. 1 StGB eines Totschlags schuldig gemacht haben“. Mischformen („wegen Totschlags schuldig“) sind unzulässig.

Tatbestand

Durch den Tod des B ist der tatbestandliche Erfolg des § 212 Abs. 1 StGB eingetreten und mit der Giftbeibringung liegt auch eine Handlung des A vor. Diese Handlung wäre nach der Äquivalenztheorie jedoch nur dann kausal für den Tod des B, wenn sie nicht hinweggedacht werden könnte, ohne dass der Taterfolg in seiner konkreten Gestalt entfiele. Denkt man sich die Beibringung des Giftes durch A hinweg, wäre der Tod des B im vorliegenden Fall jedoch unverändert auf Grund der Schüsse des C eingetreten. Folglich hat A mit der Giftbeibringung zwar zunächst einen zum Tod des B führenden Kausalverlauf in Gang gesetzt, dieser Kausalverlauf ist durch die Schüsse des C jedoch in strafrechtlich relevanter Weise „unterbrochen“ worden bzw. das Verhalten des C hat die Kausalitätsreihe des A „überholt“. A ist damit nicht für den Tod des B kausal geworden und der Tatbestand von § 212 Abs. 1 StGB damit nicht erfüllt.

Hinweis: Es handelt sich hier um einen Fall der sog. „überholenden“ bzw. „abgebrochenen“ Kausalität. Diese Fälle sind daran zu erkennen, dass ein Täter zunächst einen zum Erfolg führen-den Kausalverlauf in Gang setzt, ein anderer Täter dann aber noch vor Erfolgseintritt eine andere Kausalkette einleitet, die unabhängig vom Verhalten des ersten Täters zum Erfolg führt.

Ergebnis

A hat sich nicht gem. § 212 Abs. 1 StGB strafbar gemacht.

Hinweis: Das heißt freilich nicht, dass A in diesem Fall straflos bliebe. Er hat sich vielmehr wegen versuchten Totschlags (bzw. versuchten Mordes) in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung strafbar gemacht.

Fall 4

R könnte für den Tod von J kausal geworden sein, indem sie diese mit einem Messer gestochen hat. Eine solche Kausalität läge vor, wenn die Messerstiche der R nicht hinweggedacht werden könnten, ohne dass der Tod von J in seiner konkreten Gestalt entfiele. Auf den ersten Blick ist dies hier zu verneinen, weil J ohne die Messerstiche durch die Schläge des S mit der Wasserflasche gestorben wäre, sodass erneut ein Fall der abgebrochen bzw. überholenden Kausalität vorzuliegen scheint, bei der die Tötungshandlung des S die Tötungshandlung der R „überholt“ hat und die Kausalkette zwischen den Messerstichen der R und dem Tod der J dadurch „abgebrochen“ wurde. Bei genauerer Betrachtung wird aber deutlich, dass S nicht auf die J eingeschlagen hätte, wenn diese nicht zuvor mit dem Messer von R attackiert worden wäre. S führte seine Tötungshandlung also nicht unabhängig von der Tötungshandlung der R aus, sondern knüpfte vielmehr bewusst an diese Handlung an, um so das Tötungsvorhaben von R zu Ende zu führen. Es handelt sich deshalb vorliegend nicht um einen Fall der abgebrochen bzw. überholenden Kausalität, sondern um einen Fall der fortwirkenden Kausalität, bei dem der Kausalverlauf, den R durch ihre Messerstiche in Gang gesetzt hat, in der von S eingeleiteten Kausalkette fortwirkt. So gesehen ist R für den Tod von J kausal geworden.

Hinweis: Es wird deutlich, dass die „conditio-sine-qua-non“-Formel Sie nur dann sicher zu dem „richtigen“ Ergebnis führt, wenn Sie dieses Ergebnis bereits vorher kennen. Für die Klausurbearbeitung tun Sie deshalb gut daran, die anerkannten Fallgruppen zur Kausalität und ihre Lösung durch die herrschende Meinung auswendig zu lernen!

Fall 5

A könnte für den Tod des C kausal geworden sein, wenn die von ihm verabreichte Dosis Gift nicht hinweggedacht werden könnte, ohne dass der Tod des C in seiner konkreten Gestalt entfiele. Hätte A dem C nicht 0,1 g des Giftes verabreicht, wäre C nicht gestorben. A ist für den Tod des C also kausal geworden. Das Gleiche gilt für B: Hätte er die seinige Dosis nicht dem C verabreicht, wäre dieser ebenfalls nicht gestorben. Folglich sind sowohl A als auch B ursächlich für den Tod von C geworden.

Hinweis: Es handelt sich hier um einen Fall der kumulativen Kausalität, der bereits durch die bloße Anwendung der „conditio-sine-qua-non“-Formel gelöst werden kann, ohne dass dieses Stichwort unbedingt fallen muss. Bei der Klausurbearbeitung sollten sie es dennoch erwähnen, damit die Korrektor:in sieht, dass Sie diese Fallgruppe kennen.

Fall 6

A wäre für den Tod des C kausal geworden, wenn man sich die Montage seiner Bombe hinwegdenken könnte, ohne dass der Tod des C in seiner konkreten Gestalt entfiele. Auch ohne die Montage der Bombe wäre C jedoch genau im selben Moment und auf die gleiche Weise zu Tode gekommen – nämlich durch die Bombe des B. Folgt man dem, wäre die Handlung von A nicht als Ursache für den Tod von C anzusehen. Für B ergäbe sich umgekehrt das gleiche Ergebnis: Wird seine Handlung hinweggedacht, entfällt der Tod von C – wegen der Bombe des A – ebenfalls nicht. Demnach hätten letztlich weder A noch B den Tod des C herbeigeführt.

Angesichts dieses wenig plausiblen Ergebnisses wendet die herrschende Meinung in einem solchen Fall der alternativen Kausalität eine modifizierte Fassung der „conditio-sine-qua-non“-Formel an. Demnach ist von mehreren Handlungen, die zwar alternativ, aber nicht kumulativ hinweggedacht werden können, ohne dass der Erfolg in seiner konkreten Gestalt entfiele, jede Handlung für den Erfolg kausal. Angewendet auf den vorliegenden Fall führt das zu dem Resultat, dass sowohl A als auch B für den Tod des C ursächlich geworden sind.

Weiterführender Hinweis: In Teilen der Literatur wird diese Modifizierung der „conditio-sine-qua-non“-Formel mit dem Argument kritisiert, dass sich Fälle der alternativen Kausalität auch mit der ursprünglichen conditio-Formel lösen lassen, wenn der konkret zum Taterfolg führende Kausalverlauf nur hinreichend genau betrachtet wird (s. etwa Samson, WuV, 7. Aufl. 1988, S. 22 oder Jakobs, AT, 2. Aufl. 1991, 7/21). So sind z. B. im vorliegenden Fall drei Kausalverläufe denkbar, die zum Tod von C geführt haben könnten: Erstens ist vorstellbar, dass C durch die Detonation der Bombe von A getötet wurde und bereits tot war, als – Sekundenbruchteile später – die Bombe von B detonierte. In diesem Fall wäre nach der conditio-Formel nur A und nicht B kausal für den Tod von C. Zweitens ist es umgekehrt möglich, dass die Bombe des B den C zuerst tötete, mit der Folge, dass nur B und nicht A für den Tod von C kausal geworden wäre. Im dritten denkbaren (und wohl wahrscheinlichsten) Fall töteten beide Bomben den C genau gleichzeitig, so dass nach Maßgabe der conditio-Formel sowohl A als auch B für den Tod von (mit-)ursächlich geworden wären. Welcher dieser drei Kausalverläufe nun tatsächlich eingetreten ist, kann nur durch einen Sachverständigen festgestellt werden. Wenn die ersten beiden theoretisch denkbaren Kausalverläufe sich dabei nicht sicher ausschließen lassen, ist in dubio pro reo zugunsten von A und B davon auszugehen, dass jeweils nur der andere für den Tod von C kausal geworden ist. Beide können dann nur aus einem versuchten Delikt bestraft werden.

Fall 7

Strafbarkeit der A

A könnte sich nach § 212 Abs. 1 StGB strafbar gemacht haben, indem sie ihren Stiefvater S mit der Bratpfanne schlug.

Tatbestand

Mit dem Tod des S ist der Taterfolg des § 212 Abs. 1 StGB eingetreten, in Form der Bratpfannenhiebe liegt außerdem eine strafrechtlich relevante Handlung der A vor. Diese Handlung wäre dann kausal für den Taterfolg, wenn die Schläge von A nicht hinweggedacht werden könnten, ohne dass der Tod des S in seiner konkreten Gestalt entfiele. Es ist aber gerade nicht aufklärbar, ob die Schläge der A zum Tod von S geführt haben oder ob S auch gestorben wäre, wenn nur M ihn geschlagen hätte. Wegen der prozessualen Entscheidungsregel in dubio pro reo muss deshalb hier davon ausgegangen werden, dass A nicht für den Tod von S kausal geworden ist und den Tatbestand von § 212 Abs. 1 StGB folglich nicht erfüllt hat.

Ergebnis

A hat sich nicht nach § 212 Abs. 1 StGB strafbar gemacht.

Strafbarkeit der M

Auch hat M sich durch ihre Schläge gegen S nicht nach § 212 Abs. 1 StGB strafbar gemacht, denn insofern kann ebenfalls nicht nachgewiesen werden, dass gerade ihre Schläge und nicht die Schläge von A ursächlich für den Tod von C waren. Eine Verurteilung aus dem vollendeten Tötungsdelikt scheidet auch hier in dubio pro reo aus.

Exkurs: Die Lösung dieses Falles widerspricht der Lösung von Fall 4 (s. dazu auch schon Hertel, NJW 1966, 2418 ff.), obwohl in beiden Fällen der Lösungsweg des BGH gewählt wurde. Der Widerspruch ergibt sich dabei aus der folgenden Überlegung: Angenommen, es stünde fest, dass allein die Schläge von M den Tod des S herbeigeführt hätten. Dann wären die an sich lebensgefährlichen Schläge der A trotzdem als kausal für den Tod von S anzusehen, weil der von A angestoßene Kausalverlauf (= S wird niedergeschlagen) im Handlungsunrecht von M fortwirken würde („fortwirkende Kausalität“). Folglich könnte A aus einem vollendeten Tötungsdelikt bestraft werden. Wenn dagegen feststünde, dass es allein die Schläge von A waren, die zum Tod von S geführt haben, könnte A ebenfalls aus einem vollendeten Tötungsdelikt bestraft werden. Für die Strafbarkeit von A kann es also keine Rolle spielen, ob gerade ihre Schläge den Tod von S verursacht haben, d. h. auf in dubio pro reo kommt es überhaupt nicht an. Trotzdem löst z. B. auch Rengier (AT, § 13 Rn. 31 Beispiel 3) den Fall so, wie hier vorgeschlagen. Für die Klausurvorbereitung müssen sie – gerade in Bezug auf den Allgemeinen Teil des Strafrechts – lernen, mit solchen Widersprüchen zwischen verschiedenen Urteilen oder Lehrbuchpassagen umzugehen!

Fall 8

A könnte sich gem. § 223 Abs. 1 StGB wegen Körperverletzung an den Käufer:innen des Ledersprays strafbar gemacht haben, indem sie sich für einen Vertrieb des Produkts entschieden hat und es an Schuhläden auslieferte.

Tatbestand

Objektiver Tatbestand

Bei den von den Kund:innen geschilderten Beschwerden handelt es sich um pathologische körperliche Zustände und damit um Gesundheitsschädigungen i. S. v. § 223 Abs. 1 Var. 2 StGB. Mit gesundheitsschädlichen Stoffen in Kontakt gebracht zu werden, ist außerdem eine üble unangemessene Behandlung, die sowohl das körperliche Wohlbefinden als auch die körperliche Unversehrtheit nicht nur unerheblich beeinträchtigt. Folglich ist auch der Taterfolg der körperlichen Misshandlung i. S. v. § 223 Abs. 1 Var. 1 StGB bei den betroffenen Kund:innen eingetreten.

A müsste durch die Auslieferung des Sprays für den Eintritt dieser Körperverletzungserfolge auch kausal geworden sein. Das wäre der Fall, wenn ihre Handlung nicht hinweggedacht werden könnte, ohne dass die körperlichen Beschwerden der Kund:innen entfielen. Problematisch ist insofern, dass sich die gesundheitsschädlichen Eigenschaften des Ledersprays naturwissenschaftlich nicht identifizieren lassen, d. h. es besteht die theoretische Möglichkeit, dass die Gesundheitsschäden der Kund:innen Ursachen haben, die mit dem Lederspray überhaupt nicht in Verbindung stehen. Man könnte deshalb denken, dass in dubio pro reo davon auszugehen ist, A habe die Körperverletzungserfolge nicht verursacht.

Allerdings kommt dieser Zweifelssatz nur dann zur Anwendung, wenn das zuständige Gericht nicht im Rahmen einer rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung zu der richterlichen Überzeugung (§ 261 StPO) gelangt, dass die zu beweisende Tatsache – also hier der Kausalzusammenhang zwischen Spray-Benutzung und Gesundheitsschaden – mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vorliegt und insofern kein Raum mehr für vernünftige Zweifel bleibt.

Vorliegend stellt der übereinstimmende Krankheitsverlauf bei einer großen Anzahl der Käufer:innen des Ledersprays aber bereits ein gewichtiges Indiz für das Wirksamwerden ein und derselben Ursache – also der Benutzung der Sprays – dar. Dass sich keine Alternativursache, die allen Betroffenen gemein ist, finden lässt, spricht ebenfalls dafür. Schließlich lassen auch die Resultate der Tierversuche eine zufällige Häufung der aufgetretenen Gesundheitsschäden als abwegig erscheinen. Vor diesem Hintergrund wäre es im vorliegenden Fall beweiswürdigungsrechtlich zulässig (und wohl auch geboten), von einem Kausalzusammenhang zwischen der Handlung des A und den Gesundheitsschäden der Käufer:innen des Ledersprays auszugehen (so sah es auch der BGH in der diesem Fall zu Grunde liegenden Entscheidung).

Hinweis: Das Beispiel zeigt, dass im Bereich der Kausalität Rechts- und Beweisfragen gedanklich voneinander zu trennen sind, gleichzeitig aber eng zusammenhängen!

Subjektiver Tatbestand

A müsste außerdem vorsätzlich gehandelt haben (§ 15 StGB). Sie hielt es auf Grund der Beschwerden ihrer eigenen Mitarbeiter:innen für möglich, dass das Lederspray zu gesundheitlichen Schäden bei den Kund:innen führen könnte und nahm den Eintritt solcher Schäden billigend in Kauf. Sie handelte folglich mit Eventualvorsatz (dolus eventualis).

Rechtswidrigkeit

A handelte rechtswidrig.

Schuld

A handelte auch schuldhaft.

Ergebnis

A hat sich gem. § 223 Abs. 1 StGB strafbar gemacht.