Kilian Wegner Strafrecht AT 2: Übungsfälle Licensed under CC-BY-4.0

Einheit 5 – Lösungshinweise

Lösungshinweise zu Fall 1

A könnte sich nach §§ 212 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1 Var. 1, 12 Abs. 1 StGB zulasten der Einbrecher strafbar gemacht haben, indem er die Flasche mit der giftigen Flüssigkeit aufstellte.

Vorprüfung

Ein Todeserfolg ist nicht eingetreten, folglich ist der Totschlag nicht vollendet.

Die Strafbarkeit des Versuchs ergibt sich für den Totschlag, der ein Verbrechen darstellt (vgl. § 12 Abs. 1 StGB), aus § 23 Abs. 1 Var. 1 StGB.

Tatbestand

Tatentschluss

A müsste mit Tatentschluss gehandelt haben, also vorsätzlich in Bezug auf die Tötung eines Menschen. A nahm billigend in Kauf, dass die Einbrecher, falls sie wiederkehren, aus der Flasche trinken und an einer Vergiftung sterben würden. Er handelte mit dolus eventualis.

Hinweis: Wenn der Sachverhalt ausdrücklich mitteilt, dass ein Handelnder den Erfolg „billigend in Kauf genommen hat“, ist das in aller Regel ein Hinweis darauf, dass der Eventualvorsatz von Ihnen ohne größere Auseinandersetzung zu bejahen ist und dass die eigentlichen Probleme des Falles in anderen Bereichen liegen.

Unmittelbares Ansetzen

A müsste unmittelbar zur Verwirklichung des Tatbestandes angesetzt haben. Unmittelbares Ansetzen liegt vor, wenn der Täter Handlungen vornimmt, die nach seinem Tatplan, bei ungestörtem Fortgang unmittelbar zur Tatbestandsverwirklichung führen sollen. Das ist der Fall, wenn der Täter subjektiv die Schwelle zum „Jetzt geht’s los“ überschreitet und objektiv zur tatbestandsmäßigen Angriffshandlung ansetzt, sodass sein Tun ohne wesentliche Zwischenakte in die Tatbestandsverwirklichung übergeht. Hat der Täter alle tatbestandlichen Handlungen bereits vorgenommen, so hat er grundsätzlich auch bereits unmittelbar zum Versuch angesetzt.

A hatte die Giftflasche aufgestellt und damit alle Handlungen, die erforderlich waren, damit der Erfolg eintreten konnte, bereits vorgenommen. Eine andere Beurteilung könnte sich jedoch daraus ergeben, dass die Einbrecher nach der Vorstellung des A nur möglicherweise und erst einige Zeit später durch das Gift zu Tode kommen sollten. A stellte sich also nicht vor, dass das Leben der Einbrecher schon unmittelbar gefährdet war. Überdies war auch noch eine „Mitwirkung“ der Einbrecher insofern erforderlich, als diese noch aus der Flasche trinken mussten. Wie das unmittelbare Ansetzen bei solchen „Fallensteller-“ oder „Distanzfällen“ bestimmt werden soll, ist umstritten.

Eine früher vertretene Auffassung stellte in entsprechenden Konstellationen auf das Beenden der Tathandlung ab. Mit dem Aufstellen der Giftflasche hätte der A hiernach unmittelbar angesetzt.

Eine andere Ansicht geht erst dann von einem Versuchsbeginn aus, wenn das Opfer in den Wirkungskreis des Tatmittels gerät. Innerhalb dieser Ansicht ist wiederum umstritten, ob es dabei nur auf die Vorstellung des Täters ankommen soll oder das Opfer tatsächlich in den Wirkbereich des Tatmittels geraten muss. Die Einbrecher sind nicht mehr zum Haus des A zurückgekehrt und somit tatsächlich nie in den Wirkungskreis des vergifteten Getränks geraten. A wusste auch bis zu dem Moment, als die Flasche sichergestellt worden war, dass die Einbrecher bisher nicht das Haus und damit den Wirkungsbereich der Giftflasche betreten hatten. Unabhängig davon, ob man die Vorstellung des A oder das tatsächliche Geschehen zugrunde legt, ist ein unmittelbares Ansetzen nach dieser Ansicht zu verneinen.

Der BGH differenziert wie folgt:

Steht für den Täter fest, das Opfer werde erscheinen und sein für den Taterfolg eingeplantes Verhalten bewirken, so liegt eine unmittelbare Gefährdung (nach dem Tatplan) bereits mit Abschluß der Tathandlung vor […]. Hält der Täter – wie hier – ein Erscheinen des Opfers im Wirkungskreis des Tatmittels hingegen für lediglich möglich, aber noch ungewiss oder gar für wenig wahrscheinlich […], so tritt eine unmittelbare Rechtsgutgefährdung nach dem Tatplan erst dann ein, wenn das Opfer tatsächlich erscheint, dabei Anstalten trifft, die erwartete selbstschädigende Handlung vorzunehmen und sich deshalb die Gefahr für das Opfer verdichtet.

Entscheidend soll danach sein, ob der Täter dolus directus (dann Beendigung der Tathandlung) oder dolus eventualis (dann Eintritt des Opfers in den Wirkungskreis) aufweist. A wusste vorliegend nicht sicher, ob die Einbrecher noch einmal erscheinen würden. Im Gegenteil „war dies wegen des damit verbundenen Entdeckungsrisikos von vornherein auch nicht sehr wahrscheinlich. Der Verdacht, es könne dennoch geschehen, gründete sich allein auf die zum Abtransport im Dachgeschoß bereitgelegte Diebesbeute. Daß die Täter […] auch im Wiederholungsfall wieder Lebensmittel im Erdgeschoß verzehren würden, war schon wegen der vier im Hause versteckten Polizeibeamten kaum zu erwarten. Auch dies war dem Angekl. bewußt. Er konnte allenfalls noch mit einem späteren, nicht mehr polizeilich überwachten Auftauchen der Einbrecher und deren Griff zur Giftflasche rechnen.“

Da A mit dolus eventualis handelte, hätte es eines Eintritts der Einbrecher in den Wirkungskreis des Giftes bedurft. Daran fehlte es. Unter Zugrundelegung der Auffassung des BGH hätte A nicht unmittelbar zum Totschlagsversuch angesetzt.

Die h.L. spricht vom Versuchsbeginn immer dann, wenn der Täter die Herrschaft über das weitere Geschehen aus der Hand gibt. Tut er dies nicht, so ist auch nach dieser Ansicht der Eintritt des Opfers in den Wirkungskreis des Tatmittels maßgeblich für das unmittelbare Ansetzen. Da letzteres weder tatsächlich noch nach der Vorstellung des A geschah, ist zu prüfen, ob der A den Geschehensablauf aus den Händen gab. A war bis um 19:30 Uhr selbst im Haus anwesend, hätte also jederzeit die Giftflasche entfernen oder Personen, die daraus hätten trinken wollen, warnen können. Um 20:00 Uhr informierte A die sich im Haus befindenden Polizisten. Durch den Anruf stellte er sicher, dass für die potenziellen Einbrecher keine Gefahr mehr bestand und hatte so weiterhin die Kontrolle über das Geschehen. Dies gilt erst recht für die Zeit ab 21:00 Uhr, nachdem A wieder ins Haus zurückgekehrt war. A hätte danach noch nicht unmittelbar angesetzt.

Lediglich die erstgenannte Ansicht kommt zu dem Ergebnis, dass A unmittelbar zum versuchten Totschlag ansetzte. Stellt man jedoch auch in „Distanzfällen“ auf die Ausführung der Tathandlung ab, wird der Versuchsbeginn derart weit nach vorn verlagert, dass auch Konstellationen erfasst sind, in denen weder nach der Vorstellung des Täters noch tatsächlich überhaupt eine Rechtsgutsgefährdung bestand und in denen der Täter noch die volle Kontrolle über das Geschehen hatte. Diese Ansicht ist daher abzulehnen. Alle weiteren Ansichten kommen zum gleichen Ergebnis, sodass ein Streitentscheid zwischen diesen entbehrlich ist. A hat durch das Aufstellen der Giftflasche noch nicht unmittelbar angesetzt.

Hinweis zur Darstellung eines Meinungsstreits: Werden zu einem Problem mehrere Ansichten vertreten, so dürfen diese im Gutachten keinesfalls losgelöst vom Fall diskutiert werden. Stattdessen ist nach der Darlegung des Problems (hier: Wann setzt der Täter in einem „Distanzfall“ unmittelbar an?) wie folgt vorzugehen: eine Ansicht ist darzustellen, der Sachverhalt unter diese Ansicht zu subsumieren und ein Ergebnis zu finden. Dann wird die zweite Ansicht dargelegt, unter diese subsumiert und ein Ergebnis genannt. In dieser Weise verfahren Sie mit allen Ansichten, die Sie darstellen möchten. Anschließend wird eine argumentative Auseinandersetzung mit den Ansichten nur insofern geführt, als sie zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Kommen – wie hier – drei Ansichten zum selben Ergebnis und nur eine weicht von diesem Ergebnis ab, so ist im begründen, warum man folgt bzw. nicht folgt. Zu den anderen Ansichten, die zum gleichen Ergebnis führen, wird kein Streitentscheid geführt. Kommen alle Ansichten zum gleichen Ergebnis, nehmen Sie überhaupt nicht Stellung.

Zwischenergebnis

A hatte noch nicht unmittelbar zum Totschlagsversuch angesetzt.

Zwischenergebnis

Der Tatbestand des versuchten Totschlags ist nicht erfüllt.

Ergebnis

A hat sich durch das Aufstellen der Giftflasche nicht nach §§ 212 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1 Var. 1, 12 Abs. 1 StGB strafbar gemacht.

Lösungshinweise zu Fall 2

Hinweis: Der vorliegende Sachverhalt bewegt sich im erweiterten Umfeld dessen, was unter dem Begriff „Sterbehilfe“ kontrovers diskutiert wird. Solche Fälle weisen in der Regel eine Reihe von spezifischen Schwierigkeiten auf, die teilweise die Rechtswidrigkeit, teilweise die Abgrenzung von Tun und Unterlassen und zum Teil Fragen des Besonderen Teils betreffen. Hier soll es allein um die das unmittelbare Ansetzen betreffende Problematik gehen, nicht um die besonderen strafrechtlichen Fragen der Sterbehilfe.

T könnte sich wegen eines versuchten Totschlags durch Unterlassen nach §§ 212 Abs. 113 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1 Var. 1, 12 Abs. 1 StGB strafbar gemacht haben, indem er die künstliche Ernährung der E einstellte.

Vorprüfung

E ist nicht zu Tode gekommen, sodass die Tat nicht vollendet wurde. Die Versuchsstrafbarkeit ergibt sich aus §§ 212 Abs. 1, 23 Abs. 1 Var. 1 i.V.m. § 12 Abs. 1 StGB.

Tatbestand

T müsste zur Tat entschlossen gewesen sein und unmittelbar angesetzt haben.

Tatentschluss

T müsste Vorsatz bzgl. aller objektiven Merkmale des Totschlags durch Unterlassen aufgewiesen haben. Vorsatz ist die willentliche Verwirklichung des Tatbestandes in Kenntnis aller objektiven Umstände. T wollte den Tod der E herbeiführen und stellte sich vor, diesen Erfolg durch die Nichtvornahme der Nahrungszufuhr, also durch ein Unterlassen, herbeizuführen. T wusste auch, dass er als behandelnder Arzt Garant für das Leben der E war. T hatte einen Tatentschluss gefasst.

Zur Erinnerung: Die Abgrenzung zwischen aktivem Tun und Unterlassen erfolgt nach h.M. nach dem Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit – i.R.d. Versuchs konkreter danach, worin nach der Vorstellung des Täters der Schwerpunkt zu sehen ist. Denkbar wäre es, im vorliegenden Fall auf die Verabreichung des Tees abzustellen und damit ein aktives Tun anzunehmen. Der eigentliche Unwert liegt hier jedoch darin, dass T der E keine Nahrung mehr zuführte, obwohl er als Arzt dazu verpflichtet war, die Grundversorgung der E zu sichern. Nicht die Verabreichung des Tees, sondern die fehlende Nahrungszufuhr sollten, auch nach der Vorstellung des T, zum Tod von E führen.

Besondere Schwierigkeiten wirft im Bereich der Sterbehilfe außerdem die Frage auf, ob das (aktive) Abschalten von lebenserhaltenden Maschinen in ein Unterlassen umgedeutet werden kann. Diese Fragestellung soll hier nicht weiter behandelt werden, da die Versuchsproblematik im Vordergrund steht.

Unmittelbares Ansetzen

Zudem müsste T zur Verwirklichung des Tatbestandes unmittelbar angesetzt haben. Zur Definition s.o. Fall 1, I. 2. Diese Ausgangsdefinition kann jedoch für Unterlassungsdelikte nicht ohne weiteres übernommen werden. Beim Unterlassen wird dem Täter vorgeworfen, dass er untätig bleibt, obwohl er hätte handeln müssen. Beim Untätigbleiben kann es aber gerade keine Zwischenschritte geben, die, wenn der Täter sie vornehmen würde, zum Erfolg führten, sodass das Fehlen wesentlicher Zwischenschritte nicht als Abgrenzungskriterium zwischen Vorbereitungshandlungen und Versuch dienen kann. Stattdessen werden drei Ansichten dazu vertreten, wann bei unechten Unterlassungsdelikten der Versuch beginnt.

Eine Ansicht nimmt das unmittelbare Ansetzen an, wenn der Täter die erste Rettungsmöglichkeit ungenutzt verstreichen lässt. T hätte dann schon mit dem ersten Tag, an dem er der E keine Nahrung verabreichte, unmittelbar angesetzt.

Nach einer anderen Ansicht beginnt der Versuch, wenn der Täter die letzte Rettungsmöglichkeit verstreichen lässt. T hätte in den auf die Einstellung der Ernährung folgenden Tagen jederzeit die Möglichkeit gehabt, die Nahrungszufuhr wieder aufzunehmen. Der Tod der E war erst in zwei bis drei Wochen zu erwarten, sodass erst nach dieser Zeit und wenn T die E nicht mehr vor dem Verhungern hätte bewahren können, die letzte Rettungschance verstrichen wäre. T hat nach dieser Ansicht noch nicht unmittelbar angesetzt.

Die h.M. wendet diejenigen für Begehungsdelikte entwickelten Grundsätze des § 22 StGB auf Unterlassungstaten an, die einer Übertragung zugänglich sind. Das gilt vor allem für das Gefährdungskriterium. Der Versuchsbeginn ist danach anzunehmen, wenn eine unmittelbare Gefahr für das Rechtsgut des Opfers entsteht oder eine schon bestehende Gefahr durch das Unterlassen erhöht wird.

Bereits aufgrund des hohen Alters und des schlechten Gesundheitszustandes der E bestand eine chronische Gefahr für deren Leben. Wird in einem solchen Zustand die Ernährung für mehrere Tage unterbrochen, steigert dies die Gefahr, dass durch die Mangelernährung andere Komplikationen zu den schon bestehenden gesundheitlichen Problemen hinzutreten, die jedenfalls gemeinsam noch schneller zum Tod des Opfers führen können. Die aufgrund der Krankheit schon bestehende Gefahr für das Leben der E wurde durch das Absetzen der Ernährung noch erhöht, sodass T auch nach dieser Ansicht bereits unmittelbar zum Totschlagsversuch angesetzt hatte.

Lediglich die Auffassung, die auf das Verstreichenlassen der letzten Rettungsmöglichkeit abstellt, kommt zu dem Ergebnis, dass T noch nicht unmittelbar angesetzt hatte. Gegen diese Ansicht spricht, dass sie die Strafbarkeit zu spät einsetzen lässt. Selbst wenn die Gefahr für das Opfer schon sehr groß geworden ist, braucht der Täter hier solange nicht einzugreifen, wie ihm noch eine weitere Möglichkeit verbleibt. Dies ist mit einem effektiven Rechtsgüterschutz nicht vereinbar. Zudem würde der auf diese Weise ermittelte Versuchsbeginn regelmäßig auch mit dem Ende des Versuchs zusammenfallen, sodass praktisch keine Möglichkeit für einen Rücktritt verbliebe. Dem steht der Gedanke des § 24 StGB entgegen, der zwischen Beginn und Ende eines Versuchs dem Täter die Chance offenhalten will, durch Aufgabe oder Verhinderung der Vollendung der Tat straffrei zu bleiben. Dem Täter seine Rücktrittsmöglichkeit zu nehmen, wirkt sich ferner negativ auf den Opferschutz aus, weil für den Täter der Anreiz entfällt, den Erfolg vom Opfer abzuwenden. Weiterhin ist gegen diese Ansicht anzuführen, dass sie kein klares Kriterium zur Abgrenzung von Vorbereitung und Versuch enthält. So ging T im vorliegenden Fall davon aus, dass der Tod in zwei bis drei Wochen eintreten würde. Wann T zum letzten Mal die Möglichkeit zur Rettung der E gehabt hätte, ließe sich nicht hinreichend sicher sagen. Diese Ansicht ist daher abzulehnen.

T hat durch die Einstellung der Ernährung unmittelbar zum versuchten Totschlag durch Unterlassen an E angesetzt.

Zwischenergebnis

Tatentschluss und unmittelbares Ansetzen liegen vor. T erfüllte den Tatbestand.

Rechtswidrigkeit/Schuld

Es sind keine Rechtfertigungsgründe ersichtlich. Insbes. lag keine Einwilligung der E oder ihres Vormundes vor. Eine Einwilligung durch das Vormundschaftsgericht war von T nicht eingeholt und später verweigert worden. T handelte rechtswidrig.

Entschuldigungs- oder Schuldausschließungsgründe greifen ebenfalls nicht ein, sodass T auch schuldhaft handelte.

Hinweis: Im Original-Fall hatte der Sohn und Pfleger der E der Einstellung der künstlichen Ernährung zugestimmt. Außerdem gingen sowohl der Sohn als auch der Arzt davon aus, der Behandlungsabbruch sei zulässig. Im Urteil hatte sich der BGH daher zusätzlich mit einer (mutmaßlichen) Einwilligung und einem Verbotsirrtum auseinanderzusetzen.

Kein Rücktritt/Ergebnis

T ist nicht vom Versuch zurückgetreten. Er machte sich durch das Einstellen der künstlichen Ernährung wegen eines versuchten Totschlags durch Unterlassen nach §§ 212 Abs. 113 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1 Var. 1, 12 Abs. 1 StGB strafbar.

Lösungshinweise zu Fall 3

Fraglich ist, ob A bereits zum versuchten Totschlag durch das Unterlassen, ihr Kind zu füttern, angesetzt hat. Die üblicherweise zur Bestimmung des unmittelbaren Ansetzens (vgl. Fall 1, I. 2.) herangezogene Definition kann auf den Versuch eines unechten Unterlassungsdelikts nicht ohne Weiteres übertragen werden (vgl. dazu Fall 2, I. 2.). Zum Beginn eines Unterlassungsversuchs werden verschiedene Ansichten vertreten:

Stellt man auf die erste vom Täter nicht ergriffene Rettungsmöglichkeit ab, so hätte die A bereits dann zum Totschlag angesetzt, als sie die erste Mahlzeit ihres Kindes ausließ. Sieht man mit einer anderen Ansicht das Verstreichenlassen der letzten Rettungsmöglichkeit als maßgeblich an, so zeigt schon die Tatsache, dass das Kind im Krankenhaus gerettet werden konnte, dass A die letzte Möglichkeit, das Kind vor dem Tod zu bewahren, noch nicht verstrichen war. A hätte folglich noch nicht unmittelbar angesetzt. Nach der h.M. beginnt der Versuch eines Unterlassungsdeliktes dann, wenn das Rechtsgut des Opfers unmittelbar gefährdet ist. Ein Tod durch Verhungern tritt nicht sofort ein, vielmehr kann ein Mensch auch ohne Nahrung regelmäßig eine gewisse Zeit überleben. Als A die Wohnung verließ, war das Leben des Kindes daher noch nicht unmittelbar gefährdet.

Neben dem Eintritt einer unmittelbaren Rechtsgutgefährdung geht die h.M. jedoch auch dann von einem Versuchsbeginn aus, wenn der Täter – vergleichbar mit dem unmittelbaren Ansetzen in „Distanzfällen“ (oben Fall 1) – die Herrschaft über den weiteren Geschehensablauf aus der Hand gibt und das Opfer damit seinem Schicksal überlässt. In dem Moment, in dem die A das Kind allein in der Wohnung zurückließ, nahm sie sich selbst die Möglichkeit einzugreifen, wenn die Lebensgefahr für ihr Kind akut wird. Sie gab mit dem Verlassen der Wohnung die Obhut über das Kind auf und somit die Herrschaft über das weitere Geschehen aus der Hand. Unter Zugrundelegung der h.M. hätte die A unmittelbar zur Tötung angesetzt, als sie die Wohnung verließ.

Erneut kommt lediglich die Ansicht, die auf das Verstreichen der letzten Rettungsmöglichkeit abstellt, zu einem abweichenden Ergebnis. Sie ist aus o.g. Gründen abzulehnen (vgl. Fall 2, I. 2.). Folglich setzte A spätestens mit dem Verlassen der Wohnung unmittelbar zum versuchten Totschlag durch Unterlassen an.

 Lösungshinweise zu Fall 4

A könnte sich durch das Würgen der N wegen versuchten Totschlags nach §§ 212 Abs. 122, 23 Abs. 1 Var. 1, 12 Abs. 1 StGB strafbar gemacht haben.

Vorprüfung

Es kam nicht zum Tod der N, sodass keine Vollendung eingetreten ist. Als Verbrechen (vgl. § 12 I StGB) ist der versuchte Totschlag gem. § 23 I Var. 1 StGB strafbar.

Tatbestand

Tatentschluss

A müsste mit Tatentschluss gehandelt haben. Dies setzt Vorsatz bzgl. aller objektiven Tatumstände voraus. A wollte die N töten, handelte also mit dolus directus 1. Grades.

Unmittelbares Ansetzen

Zudem müsste A unmittelbar zur Tötung der N angesetzt haben. Unmittelbares Ansetzen liegt dann vor, wenn der Täter subjektiv die Schwelle zum „Jetzt geht’s los“ derart überschreitet, dass es nach seiner Vorstellung keiner wesentlichen Zwischenschritte mehr bedarf, damit sein Tun bei ungestörtem Fortgang unmittelbar und in räumlich-zeitlichem Zusammenhang in die tatbestandlichen Handlungen einmündet. Zur Konkretisierung dieser Formel kann darüber hinaus die Gefährdung des Opfers aus der Sicht des Täters, eine Berührung zwischen Täter- und Opfersphäre und die Dichte des Tatplanes herangezogen werden. 

Handlungen, die keinen tatbestandsfremden Zwecken dienen, sondern wegen ihrer notwendigen Zusammengehörigkeit mit der Tathandlung nach dem Plan des Täters als deren Bestandteil erscheinen, weil sie an diese zeitlich und räumlich angrenzen und mit ihr im Falle der Ausführung eine natürliche Einheit bilden, [sind] nicht als der Annahme unmittelbaren Ansetzens entgegenstehende Zwischenakte anzusehen. (BGH NStZ 2014, 447, 448).

A hatte die N durch die Fesselung in seiner Wohnung in seine Gewalt gebracht, wodurch es bereits zu einer Berührung der Sphären von A und N kam. Zudem hatte es A der N so unmöglich gemacht, sich gegen kommende Gewalthandlungen und die geplante Tötung zur Wehr zu setzen, sodass für die N eine konkrete Gefahr für ihr Leben bestand, die auch der A, der N bereits mit Tötungsabsicht fesselte, erkannte. Die Aussage des A, dass die N mehrere Tage lang nicht vermisst werden würde, deutet jedoch darauf hin, dass er plante, die N noch über einen längeren Zeitraum hinweg zu quälen, ehe es zur Tötung kommen sollte. Nach seiner Vorstellung sollten die Fesselung und das Würgen also noch nicht in einem engen zeitlichen Zusammenhang mit der später geplanten Tötungshandlung stehen. A stellte sich stattdessen vor, zuvor noch mehrere Handlungen vorzunehmen – so wollte er sie zunächst mit einem Messer verletzen und erst im Anschluss töten. Neben dem großen zeitlichen Abstand zur Tötung könnten daher auch weitere von A geplante Zwischenschritte dem unmittelbaren Ansetzen entgegenstehen.

Dem lässt sich entgegenhalten, dass sowohl die zeitliche Streckung des Tatgeschehens als auch die über mehrere Tage gehenden Qualen, die A der N zufügen wollte, wesentliche Elemente des Tatplans darstellten. Die von A noch geplanten Zwischenschritte sollten das Geschehen aus dessen Sicht folglich nicht unterbrechen. Das Zufügen von Qualen sollte keinen tatbestandsfremden Zwecken dienen, sondern war Teil des einheitlichen Tötungsvorhabens. A stellte sich ebenso wenig vor, dass noch von der Tötung unabhängige Handlungsschritte vorgenommen werden sollen. Auch plante er im weiteren Geschehen keine Handlungen, an denen die N hätte mitwirken sollen, sodass es für den A nicht von Bedeutung war, die N bis zu einem bestimmten Zeitpunkt am Leben zu erhalten, damit sie diese Handlungen hätte vornehmen können, ehe er die Tötung hätte einleiten wollen.

Die Fesselung und das Würgen der N hingen zudem in räumlicher und situativer Sicht eng mit der geplanten Tötung der N zusammen. So wollte A gerade sicherstellen, dass sein Tatplan ungestört ablaufen und ohne weitere Unterbrechungen in die Tatvollendung einmünden konnte. Betrachtet man also alle Kriterien, die zur Bestimmung des unmittelbaren Ansetzens herangezogen werden, in der Gesamtschau, so lässt sich trotz der zeitlichen Streckung des von A geplanten Geschehens das unmittelbare Ansetzen des A durch das Fesseln und Würgen der N bejahen.

Hinweis: Das unmittelbare Ansetzen in Fällen zeitlicher Streckung des Tatgeschehens abzulehnen, lässt sich ebenso gut vertreten. Zur Begründung stellt z.B. Krehl (NStZ 2014, 449) vor allem auf das Unmittelbarkeitskriterium des § 22 StGB ab, an dem es fehle, wenn zwischen der Handlung des Täters und der letztendlichen Tötung eine längere Zeit verstreichen soll.

 Zwischenergebnis

A war zur Tat entschlossen und hat unmittelbar angesetzt. Der Tatbestand ist erfüllt.

Rechtswidrigkeit/Schuld

A handelte auch rechtswidrig und schuldhaft.

Kein Rücktritt/Ergebnis

A zeigte kein Rücktrittsverhalten, sodass er nicht mehr vom Versuch zurücktreten konnte. Er machte sich wegen eines versuchten Totschlags an der N nach §§ 212 Abs. 1, 13 Abs. 122, 23 Abs. 1 Var. 1, 12 Abs. 1 StGB strafbar.