Notwendiges Vorwissen: Für die Beschäftigung mit § 240 StGB sollten die allgemeinen Rechtfertigungsgründe (insbesondere § 32 StGB und § 34 StGB) sowie die Grundlagen des dreigliedrigen Prüfungsaufbaus bekannt sein.
Auch wenn die in § 240 StGB geregelte Nötigung laut polizeilicher Kriminalstatistik 2023 nur einen Anteil von 2,3 % Prozent aller erfassten Delikte in Deutschland ausmachte,1,1 % „einfache Nötigung“ nach § 240 Abs. 1 StGB, 0,5 % Nötigung im Straßenverkehr nach § 240 Abs. 1, Abs. 4 StGB, 0,6 % qualifizierte Nötigung nach § 240 Abs. 1, Abs. 4 StGB. besitzt der Tatbestand für die juristische Ausbildung große Relevanz. Denn einerseits ist der Grundtatbestand des § 240 StGB in vielen weiteren Delikten des Besonderen Teils enthalten, etwa in §§ 113, 177 Abs. 5, 239, 239a, 239b, 249, 253, 255 StGB.Wolter, NStZ 1986, 241; Brink/Keller, KJ 1983, 107 f.. Andererseits ist die praxisrelevante Fallgruppe der „Nötigung im Straßenverkehr“Diese bildet eine eigene Fallgruppe der polizeilichen Kriminalstatistik, s. Fn. 1; zur historischen Entwicklung der „Nötigung im Straßenverkehr“ s. Heger, in: Geisler u. a. (Hrsg.), FS Geppert, 2011, S. 155 ff.; kritisch zur Fallgruppe der Nötigung im Verkehrsstrafrecht Kölbel, Rücksichtslosigkeit und Gewalt im Straßenverkehr, 1997, S. 412 ff., der den §§ 315b, 315c StGB abschließenden Charakter zuerkennen und dadurch die Anwendung von § 240 StGB im Straßenverkehr ausschließen will (s. zur Frage, welche Formen von Gewalt die Nötigung erfasst, auch die Vertiefung in → Rn. 5). (etwa durch das Geben von Lichthupe, dichtes Auffahren, Drängeln) in Kombination mit anderen Straßenverkehrsdelikten beliebter Prüfungsstoff in der Zweiten Juristischen Staatsprüfung. Auch für die Erste Juristische Staatsprüfung gewinnt § 240 StGB aufgrund der großen öffentlichen Aufmerksamkeit, die Aktionen von Klima-Aktivistinnen erzeugt haben,Laut Auskunft des Bundeskriminalamts v. 8. Mai 2024 kann nicht pauschal beantwortet werden, ob sich Straßenblockaden von Klima-Aktivistinnen der statistischen Rubrik „einfache Nötigung“ oder der Kategorie „Nötigung im Straßenverkehr“ (s. Fn. 1) zuordnen lassen. und der im letzten Jahr stark angewachsenen (Übungs-)Literatur zu diesem Thema,S. etwa Erb, NStZ 2023, 577; Lund, NStZ 2023, 198; Rönnau/Saathof, JuS 2023, 439; Rönnau, JuS 2023, 112; Zimmermann/Griesar, JuS 2023, 401. an Prüfungsrelevanz. Es lohnt sich daher ein intensives Studium von § 240 StGB, insbesondere der Nötigungsmittel „Gewalt“ sowie „Drohung mit einem empfindlichen Übel“ sowie der Verwerflichkeitsklausel nach § 240 Abs. 2 StGB.
Rechtsgut und Deliktsstruktur
§ 240 schützt nach hM die individuelle Freiheit der Willensentschließung und der Willensbetätigung.RGSt 64, 113 (115); BVerfGE 73, 206 (237); BGHSt 37, 350 (353); Altvater/Coen, in: LK-StGB, Bd. 12, 13. Aufl. (2023), § 240 Rn. 1; Fischer, StGB, 71. Aufl. (2024), § 240 Rn. 2.
Es handelt sich bei dem Tatbestand um ein Erfolgsdelikt. Tatbestandlicher Erfolg ist die Herbeiführung eines Tuns, Duldens oder Unterlassen durch Einsatz eines Nötigungsmittels (Gewalt, Drohung). Die Nötigung kann damit „im Kern [als] ein zweiaktiges Delikt“Fischer, StGB, 71. Aufl. (2024), § 240 Rn. 9. aufgefasst werden, weil der Einsatz des Nötigungsmittels und der Nötigungserfolg zwei verschiedene Handlungen – einerseits der Einsatz des Nötigungsmittels durch den Täter, andererseits das hierdurch erzwungene Tun, Dulden oder Unterlassen des Opfers (Nötigungserfolg) – darstellen.
Die Nötigung ist nach hM ferner ein sog. „offener Tatbestand“BGHSt 2, 194 f.; BVerfGE 73, 206 (253): § 240 Abs. 2 StGB sei ein „tatbestandsregulierende[s] Korrektiv“; Altvater/Coen, in: LK-StGB, Bd. 12, 13. Aufl. (2023), § 240 Rn. 111, 118; Fischer, StGB, 71. Aufl. (2024), § 240 Rn. 38a; Otto, in: HK-GS, 5. Aufl. (2022), § 240 Rn. 26; aA Sinn, in: MüKo-StGB, Bd. 4, 4. Aufl. (2021), § 240 Rn. 13; ders., Die Nötigung im System des heutigen Strafrechts, 2000, S. 324 ff.; Amelung, GA 1999, 182 (192); Küper, JZ 2013, 449 (453). (ebenso wie § 253 StGB, → BT II § 9 Rn. 39 ff.). Dies bedeutet, dass bei der Nötigung der bekannte Prüfungsgrundsatz „Die Tatbestandsmäßigkeit indiziert die Rechtswidrigkeit“ nicht gilt. Stattdessen ist gemäß § 240 Abs. 2 StGB stets die positive Feststellung der Rechtswidrigkeit einer Nötigungshandlung erforderlich (→ Rn. 46 ff.).
Vertiefung zur Verfassungsmäßigkeit und dem Rechtsgut von § 240 StGB
Aus Art. 103 Abs. 2 GG ergibt sich, dass strafrechtliche Normen hinreichend bestimmt sein müssen. In Hinblick darauf ist die Verfassungsmäßigkeit von § 240 StGB in der Literatur immer wieder angezweifelt worden.Grundlegend Callies, NJW 1985, 1506; hieran anschließend, insbesondere kritisch zur Verfassungsmäßigkeit von § 240 Abs. 2 StGB, Amelung, NJW 1995, 2584 (289); aktuell Kerschnitzki, JuWissBlog v. 9. Januar 2023, https://t1p.de/2kz2r. Zwar hat das BVerfG – gerade angesichts der extensiven Auslegung des Gewaltbegriffs durch die Gerichte – die Verfassungsmäßigkeit von § 240 StGB mehrfach bestätigtBVerfGE 73, 206; BVerfGE 92, 1; BVerfGE 104, 92. und dabei auf die durch Art. 103 Abs. 2 GG gezogenen Grenzen der Auslegung des Gewaltbegriffs sowie auf die durch § 240 Abs. 2 StGB eröffnete Möglichkeit, zu Unrecht von § 240 Abs. 1 StGB erfasste Verhaltensweisen von der Strafbarkeit auszunehmen, hingewiesen → Rn. 18 ff. Trotzdem fordern einige Stimmen in der Literatur eine restriktive Rechtsgutsbestimmung,Wohl im Sinne einer (vor- oder außerkonstitutionalen) Rechtsgutstheorie, s. hierzu die Beiträge in: Hefendehl u. a. (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie. Legitimationsbasis des Strafrechts oder dogmatisches Glasperlenspiel?, 2003. um zu verhindern, dass § 240 StGB zu einem „unbestimmten Freiheitsdelikt mit konturlosem Freiheitsschutz“Sinn, in: MüKo-StGB, Bd. 4, 4. Aufl. (2021), § 240 Rn. 6. oder „gänzlich blutleer und dogmatisch kaum brauchbar“Wolters, in: SK-StGB, Bd. 4, 10. Aufl. (2024), § 240 Rn. 2. wird. Eine kurze Beschäftigung mit diesen Ansichten, auch wenn für die Klausur nicht unmittelbar relevant, kann helfen, die Systematik des Nötigungstatbestandes, die umstrittene Auslegung des Gewaltbegriffs und die wieder aufgelebte Diskussion um die Strafbarkeit bzw. Zulässigkeit von zivilem UngehorsamS. etwa Erb, NStZ 2023, 577; Rönnau/Saathof, JuS 2023, 439; Rönnau, JuS 2023, 112; Zimmermann/Griesar, JuS 2023, 401. Hierzu bereits Kröpil, JR 2011, 283; Sinn, Die Nötigung im System des heutigen Strafrechts, 2000, S. 150 f. besser zu verstehen.
I. Nur Willensentschließungs- oder nur Willensbetätigungsfreiheit geschützt?
Einige Stimmen in der Literatur sehen entweder nur die WillensbetätigungsfreiheitS. bereits v. Liszt, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 23. Aufl. (1921) (hrsg. post mortem von Schmid), II. § 98, S. 361 f.: „Freiheit im Sinne des Strafrechts ist Freiheit der Willensbetätigung (nicht der Willensentschließung), mithin Handlungsfreiheit.“; Hruschka, JZ 1995, 737 (743); s. hierzu Sinn, Die Nötigung im System des heutigen Strafrechts, 2000, S. 53 ff., 99 f.; Marxen, KJ 1984, 54 (55). oder nur die WillensentschließungsfreiheitSo schon John, ZStW 1 (1881), 222 (238 ff.); in neuerer Zeit Köhler, in: Kerner (Hrsg.), FS Leferenz, 1983, S. 516; Sinn, in: MüKo-StGB, Bd. 4., 4. Aufl. (2021), § 240 Rn. 12. als von § 240 StGB geschützt an.
Beide Ansichten berufen sich gleichermaßen auf die sog. „Diskontinuitätsthese“.Bertuleit, Sitzdemonstrationen zwischen prozedural geschützter Versammlungsfreiheit und verwaltungsrechtsakzessorischer Nötigung, 1994, S. 66 ff., 80; Hruschka, JZ 1995, 735 (740). Hiernach steht die Nötigung in ihrer heutigen, die individuelle Freiheit schützenden Ausgestaltung nicht in Kontinuität zum crimen vis.Köhler, NJW 1983, 10 (12); Sinn, in: MüKo-StGB, Bd. 4, 4. Aufl. (2021), § 240 Rn. 63. Das crimen vis war im römischen Recht ein Auffangdelikt, das die Störung der öffentlichen Sicherheit und des öffentlichen Friedens unter Strafe stellte, wenn nicht ein spezifischeres Delikt in Betracht kam.Sinn, Die Nötigung im System des heutigen Strafrechts, 2000, S. 43. Gewalt war in diesem Sinne im Hinblick auf die Verletzung der öffentlichen Ordnung zu verstehen und nicht primär im Hinblick auf die Verletzung individueller Rechtsgüter.Sinn, Die Nötigung im System des heutigen Strafrechts, 2000, S. 44. Das Individuum und seine Willensfreiheit waren durch das crimen vis höchstens mittelbar geschützt. Da § 240 StGB in seiner jetzigen Fassung aber eindeutig das Individuum schütze („Wer einen Menschen […] zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt“), sei § 240 StGB diesen Ansichten nach als ein eigenständiger, vom crimen vis unabhängiger Tatbestand zu bewerten.
Hieraus folgert nun etwa Köhler, dass § 240 StGB nur vor spezifischen Freiheitsbeeinträchtigungen schütze, nicht aber auch den Schutz der Bedingungen dieser Freiheitsbetätigung erfasse.Köhler, NJW 1983, 10 (12). Diese seien vielmehr abschließend in anderen Tatbeständen erfasst, etwa in § 185 StGB (ungestörte Kommunikation) oder § 239 StGB (Fortbewegungsfreiheit).Köhler, NJW 1983, 10 (12). Da Sitzblockaden den Tatbestand von § 239 StGB nicht erfüllen würden, könnten sie erst recht nicht § 240 StGB unterfallen und seien somit straflos.Köhler, NJW 1983, 10 (12).
Zu demselben Ergebnis gelangt Hruschka, allerdings mit leicht abweichender Argumentation: Ihm zufolge steht § 240 StGB nicht nur in Diskontinuität zum crimen vis, sondern beruht zudem auf der systematischen Trennung von vis absoluta (absolute Gewalt) und vis compulsiva (nötigende, zwingende Gewalt) → Rn. 11).Hruschka, JZ 1995, 737 (740 ff.). Aufbauend auf dieser Trennung folgert Hruschka, dass § 240 StGB nicht vor allen Formen von Gewalt schütze. Vielmehr erfasse § 240 StGB nur vis compulsiva als sog. „nötigende“ Gewalt.Hruschka, JZ 1995, 737 (742). Diese lasse anders als vis absoluta als „nicht nötigende Gewalt“ eine „Restfreiheit“ des Opfers in Bezug auf seine Entscheidung zu. Das Opfer befinde sich also allein bei der Anwendung von vis compulsiva in einer „deliktsspezifischen Nötigungsnotstandssituation“Nicht zu verwechseln mit dem auf Rechtfertigungsebene angesiedelten sog. „Nötigungsnotstand“ → Rn. 39 ff., in der es die erzwungene Handlung vornehmen, dulden oder unterlassen könne.S. hierzu Hruschka, JZ 1995, 737 (740). Die Nötigung wird dementsprechend systematisch auch als eine „Form vertypter Täterschaft“ begriffen.Sinn, in: MüKo-StGB, Bd. 4, 4. Aufl. (2021), § 240 Rn. 13; Timpe, Die Nötigung, 1989, S. 33; vgl. auch Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl. (1991), 21. Abschnitt Rn. 88 (S. 642 ff.); man könnte hier auch von „Selbstschädigungsdelikt“ sprechen, s. Toepel, in: NK-StGB, 6. Aufl. (2023), § 240 Rn. 15 (dort Fn. 33); zur Unterscheidung zwischen mittelbarer Täterschaft und Selbstschädigung Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 461 ff. Bei Anwendung von vis absoluta dagegen besitze das Opfer überhaupt keine Willensbetätigungsfreiheit mehr und könne deshalb auch zu keiner Handlung, Duldung oder Unterlassung genötigt werden.Deshalb lässt sich die Nötigung „im Ergebnis“ auch als ein zweiaktiges Delikt beschreiben, s. Fischer, StGB, 71. Aufl. (2024), § 240 Rn. 9. Mit anderen Worten greife der Nötigungsparagraf nur dort, wo die Freiheit „eingeschränkt“, nicht aber, wo sie vollkommen „beseitigt“ sei.Hruschka, JZ 1995, 737 (741). Denn in diesen Fällen der „reinen“, „nicht-nötigenden“ Gewaltanwendung“ ohne „zwingenden Charakter“ sei die Gewaltanwendung nach dem Grundsatz nullum crimen, nulla poena sine lege („kein Verbrechen, keine Strafe ohne Gesetz“) nur dann strafbar, wenn dies in anderen Tatbeständen des Besonderen Teils spezifisch normiert sei, wie etwa die Körperverletzung in § 223 StGB oder der Totschlag in § 212 StGB).Köhler, NJW 1983, 10 (12).
Deshalb unterfalle nicht jede Form von Gewalt § 240 Abs. 1 StGB, sondern nur die „willensbeugende Gewalt“, die einen (Rest-)Entscheidungsspielraum des Opfers voraussetze.S. hierzu Altvater/Coen, LK-StGB, Bd. 12, 13. Aufl. (2023), § 240 Rn. 1 ff.; Sinn, Die Nötigung im System des heutigen Strafrechts, 2000, S. 53 ff. Ferner – und hier kommt die eigentliche Krux der Argumentation von Hruschka – sei das Opfer nicht nur bei physischer, sondern auch bei moralischer Unmöglichkeit absolut daran gehindert, überhaupt zu handeln (etwa: wenn man, um sich fortzubewegen, einen Menschen überfahren müsste), sodass die Konsequenz dieser restriktiven Bestimmung des Rechtsguts in § 240 StGB nach Hruschka ist, dass das Versperren von Straßen – und damit auch Sitzblockaden – als nicht explizit durch spezifischere Tatbestände (sofern nicht § 315b StGB greift) erfasste vis absoluta – straflos sind.Hruschka, JZ 1995, 737 (745); dieses Ergebnis könnte man auf den ersten Blick auch auf einfacherem Weg erzielen, indem man den Gewaltbegriff unter Betonung des „Körperlichkeitskriteriums“ (vgl. v. Heintschel-Heinegg, StGB, 4. Aufl. [2021], § 240 Rn. 20, 16) wie im österreichischen Recht dahingehend auslegt, dass „Gewalt“ allein eine unmittelbar körperlich wirkende Beeinträchtigung beim Nötigungsopfer voraussetzt und dass eine moralisch oder psychisch wirkende Beeinträchtigung nicht ausreicht, s. Lengauer, verfassungsblog v. 2. April 2024. Dem folgend Cordes/Hohnerlein, verfassungsblog v. 23. April 2024. Allerdings ist zu beachten, dass der Gewaltbegriff in § 240 StGB gerade nicht – wie etwa in §§ 249, 255 StGB – (direkte) „Gewalt gegen eine Person“ erfordert. Das Körperlichkeitskriterium vermag allein daher nicht helfen, um den Schutzbereich von § 240 StGB zu bestimmen. Dagegen ermöglicht Hruschkas Ansatz eine konsequente, wenn auch zutiefst liberale – grundlegend kritisch hierzu Keller, Strafrechtlicher Gewaltbegriff und Staatsgewalt, 1982 – Bestimmung des Schutzbereichs von § 240 StGB und kann daher auch zugleich Antworten auf den Vorschlag von Strafbarkeitsschärfungen (→ Rn. 64) geben, die nämlich bei strikter Beachtung der „Diskontinuitätsthese“ nicht auf Erwägungen des Schutzes der allgemeinen Ordnung, sondern allein auf besonders schwere Beeinträchtigungen oder Gefahren für Individualrechtsgüter gestützt werden dürften.
II. Freiheitsbegriff
Ferner ist umstritten, wie der Begriff „Willensfreiheit“ (ob nun verstanden als Willensentschließungs- und/oder Willensbetätigungsfreiheit) im Rahmen von § 240 StGB zu bestimmen ist. Dahinter steht die Einsicht, dass wir in einer Gesellschaft immer auch dem Einfluss anderer bzw. sozialem Druck ausgesetzt und daher niemals vollkommen „frei“ in einem naturalistischen Sinne sind.Altvater/Coen, LK-StGB, Bd. 12, 13. Aufl. (2023), § 240 Rn. 1. Welche genauen normativen Voraussetzungen an den Freiheitsbegriff zu stellen sind, ist umstritten und bedürfte zur Klärung einer vertiefteren Betrachtung. Überblicksartig sei hier nur auf folgende Begriffsbestimmungen hingewiesen: Ein Teil der Lehre geht davon aus, dass nur die individuelle Freiheit in ihrer rechtlich „anerkannten“ oder „garantierten“ Form von § 240 StGB geschützt wird.Timpe, Die Nötigung, 1989, S. 27; Wolters, in: SK-StGB, Bd. 4, 10. Aufl. (2024), § 240 Rn. 3. Andere stellen darüber hinaus auf einen „positiven Freiheitsbegriff“ ab, der etwa auch Täuschungen erfassen kann,Amelung, GA 1999, 182 (197 ff.). oder dagegen auf einen „(bloß) negativen Freiheitsbegriff“, verstanden als Fehlen von äußeren Zwängen.Altvater/Coen, LK-StGB, Bd. 12, 13. Aufl. (2023), § 240 Rn. 1, aufbauend auf Isaiah Berlins berühmter Unterscheidung zwischen „positiver“ und „negativer“ Freiheit, wonach negative Freiheit die (individuelle) Freiheit „von“ etwas (zB staatlichen Zwängen) beschreibt und positive Freiheit die Freiheit „zu“ etwas – der Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung; kritisch zu dieser philosophischen Unterscheidung zwecks Legitimation aufs Strafrecht gewendet Keller, Strafrechtlicher Gewaltbegriff und Staatsgewalt, 1982, S. 41 ff. Schließlich wird auch ein an Art. 2 Abs. 1 GG orientiertes Freiheitsverständnis vertreten.Bergmann, Das Unrecht der Nötigung, S. 46. Bedeutung gewinnt dieser Streit für die Klausur etwa bei der Frage nach der Strafbarkeit bei einer Drohung mit dem Unterlassen einer rechtlich nicht gebotenen HandlungEidam, in: Matt/Renziwkoski-StGB, 2. Aufl. (2020), § 240 Rn. 5, 42. (s. → noch unter Rn. 27).
Objektiver Tatbestand
Nötigungsmittel
§ 240 StGB Abs. 1 StGB erfordert zunächst den Einsatz eines (im Vergleich zu den in §§ 249, 255, 177 Abs. 5 StGB genannten Methoden) sog. einfachen oder unqualifizierten Nötigungsmittels. Dieses ist entweder der Einsatz von „Gewalt“ oder die „Drohung mit einem empfindlichen Übel“.
Klausurtipp: Jede Gewaltanwendung kann auch konkludent die Drohung mit Gewalt beinhalten. Beginnen Sie in diesem Fall mit der Prüfung der Gewalt.
Gewalt
Gewalt ist einer der „umstrittensten Rechtsbegriffe des gesamten Strafrechts“.Sinn, Die Nötigung im System des heutigen Strafrechts, 2000, S. 150 mwN; vgl. Küper/Zopfs, Strafrecht BT, 11. Aufl. (2022), Rn. 286 („zu den umstrittensten Begriffen des Besonderen Teils.“); Überblick über die Literatur bei Fischer, StGB, 71. Aufl. (2024), § 240 Rn. 12 f. mwN.
Gewalt iSv § 240 Abs. 1 StGB
Gewalt ist der körperlich wirkende Zwang durch die Entfaltung von Kraft oder durch eine physische Einwirkung sonstiger Art, die nach ihrer Zielrichtung, Intensität und Wirkungsweise dazu geeignet und bestimmt ist, die Freiheit der Willensentschließung oder Willensbetätigung eines anderen aufzuheben oder zu beeinträchtigen.
Der Gewaltbegriff erfordert also – in Parallele zur zweiaktigen Struktur von § 240 Abs. 1 StGB – zwei zentrale Elemente:
eine bewusste Handlung bzw. ein Unterlassen auf Seiten des Täters oder der Täterin,
die bzw. das zu einer körperlichen Zwangswirkung auf Seiten des Opfers führt.
Während der Täter die Zwangswirkung auf das Opfer intendieren muss, muss das Opfer die Zwangswirkung nicht als solche empfinden. Vielmehr ist nach der hM auch Gewalt gegen Bewusstlose möglich.BGHSt 4, 210.
Vis compulsiva / vis absoluta
Traditionellerweise wird zwischen vis compulsiva und vis absoluta unterschieden. Vis compulsiva, die sog. „willensbeugende Gewalt“ (auch „zwingende“ oder „nötigende“ Gewalt) liegt vor, wenn dem Opfer trotz der Gewaltanwendung ein autonomer Entscheidungsspielraum verbleibt (bspw. schlagen, festhalten, treten).Schluckebier/Werner, in: SSW-StGB, 6. Aufl (2024), § 240 Rn. 7. Dagegen liegt vis absoluta, sog. „absolute Gewalt“ vor, wenn die Gewaltanwendung dazu führt, dass das Opfer keine Möglichkeit mehr hat, entgegen dem Willen des Täters zu handeln (bspw. bewusstlos schlagen, fesseln, einsperren).Altvater/Coen, LK-StGB, Bd. 12, 13. Aufl. (2023), § 240 Rn. 10. Nach hM können beide Formen von Gewalt den Gewaltbegriff von § 240 StGB erfüllen.Fischer, StGB, 71. Aufl. (2024), § 240 Rn. 9; Eisele, in: Schönke/Schröder, 30. Aufl. (2019), § 240 Rn. 4; Otto, in: HK-GS, 5. Aufl. (2022), § 240 Rn. 8; zu anderen Ansichten s. → Rn 5.
Klausurrelevante Fallgruppen der Gewalt
Für die Klausur lassen sich einige relevante Fallgruppen ausmachen, in denen das Vorliegen von Gewalt problematisiert werden sollte. Charakteristisch für diese Fallgruppen ist, dass die physische Krafteinwirkung ganz fehlt (Gewalt durch Unterlassen) bzw. nicht unmittelbar gegenüber dem Opfer (Gewalt gegen Sachen, gegen Dritte, durch Einsperren oder Straßenblockaden) verübt wird oder sich bloß als typische Begleiterscheinung eines anderen rechtswidrigen Verhaltens (Nötigung im Straßenverkehr) darstellt.
Gewalt durch Unterlassen
Nach hM ist auch die Verübung von Gewalt durch Unterlassen im Rahmen von § 240 StGB möglich,S. bereits RGSt 13, 49 (50), wonach die körperliche Kraftentfaltung auf Täterseite nicht erforderlich ist und „Gewalt“ auch durch ein Unterlassen ausgeübt werden kann; ferner BayOblG NJW 1963, 824 (825); nicht ganz zutreffend ist daher die oft zu lesende Bemerkung, der Gewaltbegriff sei „durch die Rechtsprechung zunehmend aufgeweicht“ worden, so etwa Marxen, KJ 1984, 54 (55) und Valerius, in: BeckOK-StGB, 61. Ed. (Stand: 01.05.2024), § 240 Rn. 7; zur genaueren Darstellung der uneinheitlichen Entwicklung des Gewaltbegriffs unter Berücksichtigung zweier gegenläufiger Tendenzen s. vielmehr Renzikowski, in: Ridder/Breitbach/Deiseroth, Versammlungsrecht, 2. Aufl. (2018), § 240 Rn. 11 ff. wenn eine Garantenstellung besteht, zB bei der Entziehung von Nahrung des Kindes durch den Vater.Sinn, in: MüKo-StGB, Bd. 4, 4. Aufl. (2021), § 240 Rn. 67.
Gewalt gegen Sachen
Seinem Wortlaut nach erfordert § 240 StGB – anders als §§ 249, 255 StGB – nicht, dass die Gewalt unmittelbar gegen eine Person ausgeübt wird. Sie kann sich vielmehr auch gegen eine Sache richten (etwa: Festschließen eines fremden Fahrrads, um eine andere Person am Wegfahren zu hindern oder Wegnahme der Reisepapiere, um die Flugreise einer anderen Person zu vereiteln)Vgl. Wessels/Hettinger/Engländer, BT 1, 47. Aufl. (2023), § 8 Rn. 361.. Obwohl der Wortlaut hier offen ist, verlangt die herrschende Meinung einschränkend, dass die Einwirkung des Täters auf die Sache eine physische Zwangswirkung gegen das Opfer entfaltet.
Beispiel: T hängt im Winter die Fenster der Wohnung von O aus und stellt die Heizung ab, wodurch O friert.Sinn, in: MüKo-StGB, Bd. 4, 4. Aufl. (2021), § 240 Rn. 64.
Nach diesen Grundsätzen ist auch die Verübung von Gewalt durch Einsperren als mittelbar gegen den Körper des Opfers gerichtete Kraftentfaltung möglich, soweit das Opfer faktisch in seiner Fortbewegungsfreiheit behindert wird (hierbei ist irrelevant, ob das Opfer sich auch tatsächlich eingesperrt fühlt).So bereits RGSt 13, 49 (51); BGHSt 20, 194 (195) (in Bezug auf § 249 StGB); Heger, in: Heger/Lackner/Kühl, 30. Aufl. (2023), Rn. 7; s. zum bei § 239 StGB ebenfalls auftretenden Problem, dass das Opfer nicht merkt, dass es eingesperrt wird → § 13 Rn. 4 ff.
Dagegen muss hiernach Gewalt durch sog. „Internetdemonstration“ oder „Onlineblockade“, d. h. durch den Aufruf zum massenhaften Anklicken einer Website, um den Server zum Zusammenbruch zu bringen, verneint werden.OLG Frankfurt a. M., Beschl. v. 22. Mai 2006 – 1 Ss 319/05 (Rn. 19 ff.); daran anschließend Eisele, in: Schönke/Schröder, 30. Aufl. (2019), § 240 Rn. 5; Sinn, in: MüKo-StGB, Bd. 4, 4. Aufl. (2021), § 240 Rn. 65; aA Kraft/Meister, MMR 2003, 366 (370); Toepel, in: NK-StGB, 6. Aufl. (2023), § 240 Rn. 65. Denn hier ist die Kraftentfaltung (Klicken der Maus) noch nicht einmal mittelbar auf den Körper des Opfers gerichtet. Die Zwangseinwirkung des Opfers beschränkt sich darin, die Seite nicht aufrufen zu können.OLG Frankfurt a. M., Beschl. v. 22. Mai 2006 – 1 Ss 319/05 (Rn. 19 ff.); Sinn, in: MüKo-StGB, Bd. 4, 4. Aufl. (2021), § 240 Rn. 65.
Gewalt gegen Dritte
Ähnliche Grundsätze gelten, wenn die Gewalt nicht unmittelbar gegen das Opfer, sondern gegen eine dritte Person angewendet wird (sog. „Dreiecksnötigung“). Unabhängig von der Strafbarkeit des Täters wegen der Gewaltanwendung gegen die dritte Person (zB wegen Körperverletzung) kann nötigende Gewalt nach § 240 Abs. 1 StGB vorliegen, wenn sich diese als physische Zwangswirkung gegen das Opfer auswirkt, zB wenn Fahrgäste eines Verkehrsmittels durch Betäubung der Fahrerin festgehalten werdenSinn, in: MüKo-StGB, Bd. 4, 4. Aufl. (2021), § 240 Rn. 66. oder der Führer einer blinden Person zusammengeschlagen wird.S. hierzu das Fallbeispiel Nr. 3 bei Ligocki, Der Drittbezug bei Gewalt, 2019, S. 5 mwN. Ansonsten kommt die Drohungsvariante (→ Rn. 22 ff.) in Betracht.
Gewalt durch Sitzblockaden
Bereits seit der „Laepple“-Entscheidung (BGHSt 23, 46) aus dem Jahr 1969 beschäftigt die Gerichte die Frage, ob (friedliche) Sitzblockaden als Gewalt iSv § 240 StGB eingestuft werden können. Nachdem der BGH hier anlässlich einer Sitzblockade von Studierenden angenommen hatte, dass der Gewaltbegriff auch dann erfüllt sein kann, wenn das Nötigungsopfer sich ohne körperliche Kraftentfaltung des Täters nur subjektiv zu einem bestimmten Verhalten veranlasst fühlt, erklärte das BVerfG in der sog. „Sitzblockaden II“-Entscheidung (BVerfGE 92, 1) diesen sog. „vergeistigten“ oder „entmaterialisierten“ Gewaltbegriff für mit Art. 103 Abs. 2 GG unvereinbar und damit verfassungswidrig.BVerfGE 92, 1, (15 f.); zuvor hatte das BVerfG in der sog. „Mutlangen“-Entscheidung (BVerfGE 73, 206) von 1986 aufgrund von Stimmengleichheit keinen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG angenommen. Das Tatbestandsmerkmal verliere durch die Interpretation des BGH gänzlich seine tatbestandsbegrenzende Funktion, weil es eine Vielzahl an sozialadäquaten Handlunge erfasse, die erst im Rahmen der Verwerflichkeitsprüfung nach § 240 Abs. 2 StGB ausgeschieden werden könnten.BVerfGE 92, 1 (15 .).
Daraufhin entwickelte der BGH 1995 die – freilich bis heute umstrittene –S. exemplarisch die Urteilsanmerkung zu BGHSt 41, 182 von Ott, NJW 1969, 2023; Magnus, NStZ 2012, 538 (541 ff.); Lengauer, verfassungsblog v. 2. April 2024. sog. „Zweite-Reihe-Rechtsprechung“ (BGHSt 41, 182). Hiernach können auch Sitzblockaden (und damit ebenso das aktuell relevante „sich-fest-Kleben“ auf Straßen) Gewalt im Sinne von § 240 StGB darstellen, wenn hierdurch die Autofahrerinnen faktisch an ihrer Fortbewegungsfreiheit gehindert werden. Dies kann dadurch passieren, dass die erste Reihe an Autos direkt vor den Demonstrierenden halten muss, um diese nicht zu überfahren. Da diese erste Reihe an Autos zwar faktisch weiterfahren (und die Demonstrierenden überfahren) könnte, liegt hier nach der Rechtsprechung zunächst nur (noch nicht strafbare) psychische Gewalt vor. Die Autofahrerinnen der ersten Reihe stehen nämlich vor dem moralischen Dilemma, Menschen zu überfahren, um schneller an ihr Ziel zu kommen.Dafür, dieses moralische Dilemma als „rechtliche“ Unmöglichkeit der faktischen Unmöglichkeit gleichzustellen etwa noch BGH NJW 1969, 1770 (1772); auch Hruschka, JZ 1995, 737 (745) argumentiert für die Gleichsetzung von rechtlicher und faktischer Unmöglichkeit, allerdings vor dem Hintergrund der Annahme, dass § 240 StGB nur die Willensbetätigungs-, nicht die Willensentschließungsfreiheit schütze (s. → Rn. 5), weshalb seiner Ansicht nach (entgegen BGH NJW 1969, 1770) Sitzblockaden als nicht durch speziellere Tatbestände geschützte vis absoluta grundsätzlich straflos sind. Sie werden hier aller Wahrscheinlichkeit nach stehen bleiben.Falls nicht, droht ihnen auch eine Strafbarkeit nach §§ 223 ff., §§ 211 ff. StGB, ggf. in Verbindung mit §§ 22, 23 Abs. 1 StGB. Für die zweite Reihe an Autofahrerinnen aber, die hinter der ersten Reihe der Autos, die stehen bleiben, stehen bleiben muss, stellen die vor ihnen stehenden Autos faktisch ein Hindernis zur Weiterfahrt dar. Sie können nicht weiterfahren, selbst wenn sie wollten. Dasselbe gilt für jede weitere Reihe an hinter ihnen kommenden Autos. Daher stellt spätestens ab der zweiten Reihe an Autos die Sitzblockade physische Gewalt in mittelbarer Täterschaft nach § 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB (durch die erste Reihe an Autos als Tatmittler) dar.
Die „Zweite-Reihe-Rechtsprechung“ wurde vom BVerfG für mit Art. 103 Abs. 2 GG für vereinbar erklärt,BVerfGE 104, 92; BVerfG, Beschl. v. 7. März 2011 – 1 BvR 388/05. wobei das BVerfG explizit darauf hinweist, dass „der wertsetzenden Bedeutung von Art. 8 GG“BVerfGE 104, 92 (108). bzw. dem „Kommunikationszweck einer durch Art. 8 GG geschützten Versammlung“BVerfG, Beschl. v. 7. März 2011 – 1 BvR 388/05 (Rn. 41). im Rahmen der Verwerflichkeitsprüfung nach § 240 Abs. 2 StGB Rechnung zu tragen ist.
Gewalt durch verkehrswidriges Verhalten
Bei Gewalt durch verkehrswidriges Verhalten, d. h. der Nötigung im Straßenverkehr, muss genau auf den Einzelfall geschaut werden. Gewalt wird dann angenommen, wenn die Einwirkung auf die andere Verkehrsteilnehmerin nicht nur die Folge, sondern der Zweck des verbotswidrigen Verhaltens ist. Auch hier kommt es also auf die Intention der sich verkehrswidrig verhaltenden Person an (ähnlich wie bei der Pervertierungsabsicht beim verkehrsfeindlichen Inneneingriff iSv § 315b StGB, → § 27 Rn. 24). Gewalt wird etwa angenommen bei: gezieltem „Ausbremsen“, wenn es keine Ausweichmöglichkeiten gibt, oder einer „Vollbremsung“, dichtem Auffahren zur Erzwingung des Überholens sowie dem Geben von Lichthupe.Heger, in: Heger/Lackner/Kühl, 30. Aufl. (2023), § 240 Rn. 9.
Drohung
Drohung iSv § 240 Abs. 1 StGB
Drohung ist das Inaussichtstellen eines Übels, auf das der Drohende Einfluss hat oder zu haben vorgibt.
Abzugrenzen ist die Drohung von einer (nicht-tatbestandsmäßigen) Warnung.Wessels/Hettinger/Engländer, BT 1, 47. Aufl (2023), § 8 Rn. 367. Diese liegt vor, wenn der Täter auf eine Gefahr hinweist, auf die er gerade keinen Einfluss hat, etwa: „Wenn du nicht aufhörst, herumzuschreien, werden deine Eltern dich ins Waisenhaus stecken“. Allerdings kann sich hinter der Warnung – auch konkludent – eine Drohung verbergen (passend zum vorgenannten Beispiel etwa: „Ich werde deinen Eltern davon erzählen, dass du herumschreist.“).
Eine Drohung kann auch konkludent, d. h. durch schlüssiges Verhalten, erfolgen. So kann etwa in der Erhebung der Faust die konkludente Drohung liegen, zuzuschlagen. Auch eine Gewaltausübung kann die konkludente Drohung weiterer Gewaltausübung beinhalten. Daher sind im Einzelfall die Tatbestandsvarianten der „Gewalt“ und der Drohung mit einem empfindlichen Übel nicht immer eindeutig voneinander abgrenzbar. Auch deshalb bietet es sich in der Klausur an, mit der Prüfung der „Gewalt“ zu beginnen, sollte der Sachverhalt Anhaltspunkte für das Vorliegen einer solchen geben.
Empfindliches Übel
Übel iSv § 240 Abs. 1 StGB
Ein Übel ist jeder Nachteil.
Empfindlich ist das Übel, wenn seine Ankündigung unter Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse des Betroffenen nach normativer Betrachtung geeignet erscheint, einen besonnenen Menschen aufgrund seiner Erheblichkeit zu dem mit der Drohung erstrebten Verhalten zu bestimmen.
Beispiel: Als Gespenster verkleidete Kinder im Alter von 10 Jahren klingeln an der Tür des 40-jährigen W. Als W öffnet, rufen Sie: „Süßes, sonst gibt’s Saures“, und wedeln dabei mit Rasierschaum. In den letzten Jahren haben die Kinder, wenn man ihnen keine Süßigkeiten gegeben hat, die Haustür mit Rasierschaum besprüht. Weil W davor Angst hat, gibt er den Kindern widerwillig Schokolade.
Strafbarkeit der Kinder?
Lösung: Hier liegt nach objektiven Kriterien keine Drohung mit einem empfindlichen Übel vor. Denn das Besprühen mit Rasierschaum, der leicht abzuwischen ist, mag zwar unangenehm sein, es kann aber erwartet werden, dass ein Erwachsener dieser Bedrohung „in besonnener Selbstbehauptung“ standhält.BGH NJW 1983, 756 (767); Wessels/Hettinger/Engländer, BT 1, 47. Aufl. (2023), § 8 Rn. 369; kritisch zur Vagheit dieser Formulierung Amelung, GA 1999, 182 (192).
Abgesehen davon sind die 10-jährigen Kinder nach § 19 StGB strafunmündig und würden daher ohne Schuld handeln.
Drohung mit Unterlassen
Das angedrohte Übel kann grundsätzlich nicht nur in einem Tun, sondern auch in einem Unterlassen liegen. Die Konstellation der „Drohung mit einem Unterlassen“ ist zu unterscheiden von der „Drohung durch Unterlassen“, bei der nicht der in Aussicht gestellte Nachteil, sondern das Nötigungsmittel aus einem Nichtstun besteht.Valerius, in: BeckOK-StGB, 61. Ed. (Stand: 01.05.2024), § 240 Rn. 38. Droht der Täter mit dem Unterlassen einer rechtlich gebotenen Handlung (etwa: Einstellung der Unterhaltszahlung eines Vaters, sollte die Mutter mit einem anderen Mann zusammenziehen), ist dies unproblematisch als strafbare Drohung zu werten, da das Opfer einen Rechtsanspruch auf die Vornahme der Handlung hat und das Drohen mit dem Versagen dieser Handlung daher für das Opfer ein empfindliches Übel darstellt.Jäger, in: Amelung u. a. (Hrsg.), FS Krey, 2010, S. 193 f.
Andersherum stellt die Drohung mit dem Unterlassen einer rechtlich verbotenen Handlung keine Drohung mit einem empfindlichen Übel dar, da die Nichtvornahme einer verbotenen Handlung kein „Übel“ ist, sondern im Gegenteil das rechtlich gebotene Verhalten.Jäger, in: Amelung u. a. (Hrsg.), FS Krey, 2010, S. 194; Wessels/Hettinger/Engländer, BT 1, 47. Aufl. (2023), § 8 Rn. 372; aA Eidam, in: Matt/Renzikowski-StGB, 2. Aufl. (2020), § 240 Rn. 42 mit dem Hinweis darauf, dass § 240 StGB nicht nur die rechtlich anerkannte Freiheit schütze (s. → Rn. 5).
Umstritten ist die Fallgruppe der Drohung mit dem Unterlassen einer rechtlich nicht vorgeschriebenen Handlung unter Ausnutzung einer sozialen, institutionellen oder ökonomischen Machtposition.S. Hillenkamp/Cornelius, 40 Probleme aus dem Strafrecht – BT, 13. Aufl. (2020), 8. Problem, S. 45 ff.: s. hierzu auch die klausurmäßige Aufbereitung in Sebastian/Lorenz, ZJS 2017, 85 (98 f.).
Beispiel (angelehnt an den sog. „Kaufhausdetektivfall“ – BGHSt 31, 195Hier zitiert nach BGH NJW 1983, 756.):
Die 20-jährige S möchte unbedingt Theaterautorin werden. In ganz Deutschland gibt es nur eine Universität, die den Studiengang „Szenisches Schreiben“ anbietet und dafür bis zu vier Studienplätze pro Jahr vergibt (es müssen nicht alle Plätze vergeben werden, es können auch weniger als vier Studierende zugelassen werden). Ein solches Studium ist zwar keine zwingende Voraussetzung für den Beruf einer Theaterautorin, und auch keine Garantie für späteren Erfolg, aber hilfreich, um wichtige Kontakte zu knüpfen und in der Szene Fuß zu fassen. Die Entscheidung über die Studienplatzvergabe erfolgt anhand der „künstlerischen Eignung“ der Bewerberinnen. Die Entscheidung hierüber, ebenso wie über die Anzahl der zugelassenen Studierenden (liegt im freien Ermessen des Leiters des Studiengangs P. Dieser wählt aus ca. 1.000 Bewerbungen die vier besten aus, darunter S, und lädt sie zum persönlichen Gespräch ein. In diesem sagt P zu S, ihre künstlerische Eignung gehe aus ihren Textproben eindeutig hervor, sie würde einen Platz aber trotzdem nur dann erhalten, wenn sie in Zukunft jeden Dienstag und Donnerstag seine Kinder von der Schule abholen, für diese Mittagessen kochen und sein Haus putzen würde. Weil S unbedingt Szenisches Schreiben studieren möchte, geht sie darauf ein und erhält den Studienplatz.
Strafbarkeit von P wegen (versuchter) Nötigung?
Lösungshinweise:
In der ursprünglichen Entscheidung BGHSt 31, 195 ging es um die Frage, ob es den Tatbestand der (versuchten) Nötigung nach § 240 StGB erfüllt, wenn ein Ladendetektiv einer jungen Frau, die er beim Diebstahl erwischt, verspricht, die durch seinen Kollegen gefertigte Anzeige „unter den Tisch“ fallen zu lassen, wenn die Frau sich bereit erklären würde, mit ihm zu schlafen.
Der BGH bejahte den Tatbestand der versuchten Nötigung mit dem Argument, dass eine Drohung mit dem Unterlassen einer rechtlich nicht gebotenen Handlung unter Umständen effektiver sein könne, um ein Nötigungsziel zu erreichen, als die Drohung mit dem Unterlassene einer rechtlich gebotenen Handlung. Es sei daher sachlich nicht gerechtfertigt, den mit dem Unterlassen einer rechtlich nicht gebotenen Handlung Drohenden pauschal straflos zu stellen. Vielmehr sei in diesen Fällen, wie auch bei der Drohung mit dem Unterlassen einer rechtlich gebotenen Handlung, nach den allgemeinen Grundsätzen zu schauen, ob a) das empfindliche Übel von Erheblichkeit ist b) der Täter auf das Eintreten des Übels Einfluss hat und c) die Verbindung von eingesetztem Mittel zum erreichten Ziel nach § 240 Abs. 2 StGB verwerflich erscheint.BGH NJW 1983, 756 (766 f.)
Legt man diese Maßstäbe zu Grunde, so ließe sich auch im hiesigen Beispiel die Annahme einer Drohung (mit einem Unterlassen) bejahen. Denn da P nach freiem Ermessen über die Aufnahme in den Studiengang in einem sehr kompetitiven Umfeld und auch darüber entscheiden konnte, ob er tatsächlich vier Studierende oder weniger zuließ, bestand trotz durch P attestierter künstlerischer Eignung von S keine Rechtspflicht zu ihrer Aufnahme in den Studiengang. Dennoch liegt in der (potenziellen) Versagung des Studienplatzes aus Sicht von S ein Übel. Dieses lässt sich auch als „empfindlich“ qualifizieren, weil Studienplätze in dem Bereich eine extrem knappe, staatliche Ressource sind und das „Angebot“ von P vor diesem Hintergrund als „sozialwidriges“ Druckmittel angesehen werden kann.Wessels/Hettinger/Engländer, BT 1, 47. Aufl. (2023), § 8 Rn. 372. Dagegen ließe sich mit den sog. „Pflichtentheorien“S. hierzu Hillenkamp/Cornelius, 40 Probleme aus dem Strafrecht – BT, 13. Aufl. (2020), 8. Problem, S. 45 f.: „sog. Garantenpflichttheorie: eine Nötigung durch Drohung mit einem Unterlassen kann nur dann vorliegen, wenn der Täter als Garant verpflichtet ist, die Handlung vorzunehmen, mit deren Unterlassung er droht“ – und „sog. allgemeine Pflichtentheorie: eine Nötigung durch Drohung mit einem Unterlassen kann nur dann gegeben sein, wenn den Täter eine (nicht notwendig aus einer Garantenstellung erwachsende) Rechtspflicht zum Handeln trifft“. argumentieren, dass P zum Angebot eines Studienplatzes an S nicht verpflichtet war und, da eine Karriere im künstlerischen Bereich ohnehin neben Talent von Glück, Zufall und persönlichen Beziehungen abhängt, das „Angebot“ von P zu einer Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten von S führt (denn vor diesem Angebot hatte sie keinen Studienplatz).Roxin, JR 1983, 333 (335); Schroeder, JZ 1983, 284 (286); Amelung, GA 1999, 182 (201 f.); differenzierend Hoven, ZStW 128 (2016), 173 (191 ff.). Im vorliegenden Fall von einer „Freiheitserweiterung“ zu sprechen, erscheint aus meiner Sicht angesichts der Ausnutzung der – zumindest von S so empfundenen – Zwangslage in einem asymmetrischen Machtverhältnis allerdings zynisch.Es ließe sich freilich auch die strafrechtlich relevante Beeinträchtigung der Freiheit von S verneinen, ohne zugleich von einer „Freiheitserweiterung zu sprechen“, etwa mit dem Argument, das Machtverhältnis sei hier noch nicht verfestigt und das Vertrauen der S daher nicht schutzwürdig, s. das Argument bei Wessels/Hettinger/Engländer, BT 1, 47. Aufl. (2023), § 8 Rn. 373, oder aber mit dem Hinweis darauf, eine strenge Gleichbehandlung (auch vor dem Hintergrund von Art. 3 Abs. 2 GG) sei zwar rechtspolitisch wünschenswert, aber deren Herstellung nicht (strafrechtliche) Aufgabe von § 240 StGB, s. hierzu Grosse-Wilde, MedR 2012, 187 (190).
Sofern man die Empfindlichkeit des Übels mit dem BGH bejaht, sind unproblematisch die restlichen Tatbestandsmerkmale von § 240 StGB erfüllt. Auch könnte die Drohung nach § 240 Abs. 2 StGB als verwerflich angesehen werden, da die Verknüpfung von Zweck – kostenfreier Care-Arbeit – und Mittel – Drohung mit dem Unterlassen der (eigentlich an die künstlerische Eignung gekoppelten) Aufnahme in den Studiengang – sozialethisch missbilligt ist, insbesondere vor dem Hintergrund der besonderen Verantwortung eines Lehrenden an einer Universität und im Hinblick auf Art. 3 GG sowie die Grundrechte von S aus Art. 5 Abs. 3, Art. 12 Abs. 1 GG (aA vertretbar).
Ernstlichkeit der Drohung
Unerheblich ist, ob der Täter tatsächlich willens und in der Lage ist, das in Aussicht gestellte Übel auch zu realisieren. Maßgeblich ist allein, ob das Opfer die Drohung ernst nehmen soll und ernst nimmt.Rengier, BT II, 25. Aufl. (2024), § 23 Rn. 39. Dabei muss das in Aussicht gestellte Übel zumindest geeignet sein, bei dem Adressaten Zweifel hervorzurufen, ob es verwirklicht wird oder nicht.BGHSt 26, 309.
Nötigungserfolg
Nötigungserfolg ist das Ausführen des vom Täter angestrebten Verhaltens, d. h. des Tuns, Duldens oder Unterlassens durch das Opfer.
Kausalität, kein Einverständnis, objektive Zurechnung
Das Opfer muss zur Begehung dieser Handlung gerade „durch“ den Einsatz des Nötigungsmittels bewogen worden sein. Erforderlich ist also Kausalität im Sinne der conditio-sine-qua-non-Formel (anders als bei § 249 StGB, s. → BT II § 5 Rn. 23 ff.).
Nötigen bedeutet, einem Menschen ein von diesem unerwünschtes Verhalten (Handeln, Dulden oder Unterlassen) aufzuzwingen. Dieses Tatbestandsmerkmal hat in der Klausurbearbeitung keine eigenständige Relevanz. Daraus folgt jedoch, dass das Einverständnis des Betroffenen mit dem verlangten Verhalten den Tatbestand ausschließt.Heger, in: Lackner/Kühl/Heger, 30. Aufl. (2023), § 240 Rn. 4.
Ferner können auch die allgemeinen Fallgruppen der objektiven Zurechnung (atypischer Kausalverlauf, eigenverantwortliches Dazwischentreten Dritter, eigenverantwortliche Selbstgefährdung) den objektiven Tatbestand von § 240 Abs. 1 StGB ausschließen.
Subjektiver Tatbestand
In subjektiver Hinsicht reicht hinsichtlich des Einsatzes des Nötigungsmittels nach den allgemeinen Grundsätzen bedingter Vorsatz aus. Hinsichtlich des Nötigungserfolges ist die Vorsatzform umstritten. Nach wohl hM reicht auch diesbezüglich bedingter Vorsatz aus.BGHSt 5, 245 f.); Valerius, in: BeckOK StGB, 61. Ed. (Stand: 01.05.2024), § 240 Rn. 42; Fischer, StGB, 71. Aufl. (2024), § 240 Rn. 53.
Die Gegenansicht fordert hinsichtlich des Nötigungserfolges (jedenfalls bei Gewalt gegen Sachen) Absicht und verweist dafür auf den Wortlaut von § 240 Abs. 2 StGB, der von „angestrebtem Zweck“ spricht.BayObLG NJW 1963, 1261 (1262); Altvater/Coen, in: LK-StGB, Bd. 12, 13. Aufl. (2023), § 240 Rn. 107; Wessels/Hettinger/Engländer, BT 1, 47. Aufl. (2023), § 8 Rn. 376.
Klausurtipp: In der Klausur wird dies selten ein Problem sein. Insbesondere ist es bereits ein Definitionsmerkmal der Gewalt, dass diese in ihrer Zielrichtung dazu geeignet und bestimmt ist, die Freiheit der Willensentschließung oder Willensbetätigung eines anderen zu beeinträchtigen. In den allermeisten Fällen wird der Täter daher auch absichtlich handeln.
Rechtswidrigkeit
Bei § 240 StGB ist zunächst, wie bei allen anderen Erfolgsdelikten, zu prüfen, ob Rechtfertigungsgründe vorliegen.
Klausurtipp: Prüfen Sie die Verwerflichkeit gem. § 240 Abs. 2 StGB erst, nachdem Sie das Vorliegen von Rechtfertigungsgründen geprüft (und verneint) haben. Denn wenn ein Verhalten bereits gerechtfertigt ist, d. h. von der Rechtsordnung gebilligt wird, kann es nicht verwerflich sein.S. auch Bergmann, JURA 1985, 457 (462).
Nötigungsspezifische Probleme bei den Rechtfertigungsgründen
§§ 32, 34 StGB
Als allgemeine Rechtfertigungsgründe kommen im Kontext von § 240 StGB neben § 127 StPO insbesondere die §§ 32, 34 StGB in Betracht.
Beispiel (angelehnt an den Fall „Gäfgen“)EGMR, Urt. v. 1. Juni 2010 – Rechtssache Gäfgen/ Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 22978/05 und das Urteil des LG Frankfurt gegen den ehemaligen Vizepräsidenten der Frankfurter Polizei Wolfgang Daschner, LG Frankfurt, Urteil v. 20. Dezember 2004 – 5/27 KLs 7570 Js 203814/03 (4/04) (Rn. zitiert nach juris).:
G lockt den elfjährigen Bankierssohn J, auf den er regelmäßig im Auftrag von dessen Eltern aufpasste, unter einem Vorwand in seine Wohnung in Frankfurt am Main. Er will dessen Eltern um Lösegeld erpressen. In dem Erpresserbrief versichert G, dass J nach Zahlung des Lösegeldes von einer Million Euro wohlauf nach Hause kommen werde. Tatsächlich erstickt G J aber und versenkt seine Leiche unter dem Steg eines Sees auf einem Privatgrundstück. Kurz darauf wird G festgenommen. In der polizeilichen Vernehmung verweigert G die Auskunft über den Aufenthaltsort von J. Für die Ermittler besteht die ernst zu nehmende Möglichkeit, dass J noch lebt und in akuter Lebensgefahr schwebt. Daher weist D, der Vizepräsident der Frankfurter Polizei, den Polizeibeamten E dazu an, G unter ärztlicher Aufsicht körperliche Schmerzen anzudrohen und nötigenfalls auch zuzufügen, um ihn zur Preisgabe des Aufenthaltsortes von J zu veranlassen. Die Maßnahmen sollen keine Verletzungen hinterlassen.LG Frankfurt, Urt. v. 20. Dezember 2004 – 5/27 KLs 7570 Js 203 14/03 (4/04) (Rn. 108 ff.). Nachdem E seine Zweifel vorgebracht hat, entscheidet er sich nach weiterer Beratung dazu, G unter anderem mit der Verabreichung eines Wahrheitsserums sowie damit zu drohen, dass ihm von einer speziell für diese Zwecke ausgebildeten Person „unerträgliche Schmerzen“ zugefügt würden, wenn er den Aufenthaltsort von J nicht preisgebe.EGMR, Urt. v. 1. Juni 2010 – Rechtssache Gäfgen/ Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 22978/05 (Rn. 94). G verrät schließlich den Aufenthaltsort von J.
Strafbarkeit von E nach § 240 StGB?
Lösungshinweise
E hat hier den Tatbestand von § 240 Abs. 1 StGB erfüllt: Die Androhung des Zufügens von körperlichen Schmerzen, auch wenn diese keine Verletzungen hinterlassen sollten, stellt ein empfindliches Übel dar. Dieses setzte E ein, um G dazu zu bringen, den Aufenthaltsort von J preiszugeben, also um einen Nötigungserfolg herbeizuführen. E handelte diesbezüglich auch absichtlich. Dass J zu diesem Zeitpunkt gar nicht mehr lebte, ist irrelevant, da dies ein unbeachtlicher Motivirrtum ist, aber keinen Irrtum über die Tatbestandsvoraussetzungen von § 240 Abs. 1 StGB darstellt.
Fraglich ist, ob die Tat gerechtfertigt sein kann. Zunächst kommt eine Rechtfertigung nach den polizeirechtlichen Vorschriften des HSOG in Betracht. Diese scheitert aber jedenfalls an § 12 Abs. 4 HSOG, der auf § 136a StPO und die dortigen – absolut (s. auch § 136a Abs. 3 S. 1 StPO) – verbotenen Vernehmungsmethoden verweist. Die Androhung von Schmerzen ist dort zwar nicht explizit aufgeführt, jedoch ist § 136a Abs. 1 StPO nicht als abschließend zu bewerten. Alle anderen, ähnlich belastenden Methoden sind ebenfalls verboten.Monka, in: BeckOK-StPO, 52. Ed. (Stand: 01.07.2024), § 136a Rn. 9. Dazu zählt auch das Androhen von Folter.Nacht Art. 1 Abs. 1 der von Deutschland ratifizierten Antifolterkonvention ist Folter „jede Handlung, durch die einer Person vorsätzlich große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, zum Beispiel um von ihr oder einem Dritten eine Aussage oder ein Geständnis zu erlangen […] oder um sie […] einzuschüchtern oder zu nötigen […] wenn diese Schmerzen oder Leiden von einem Angehörigen des öffentlichen Dienstes oder einer anderen in amtlicher Eigenschaft handelnden Person, auf deren Veranlassung oder mit deren ausdrücklichem oder stillschweigendem Einverständnis verursacht werden“. Auf nationaler Ebene konkretisiert Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG die aus Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG folgenden Grundsätze. Ferner ist das Folterverbot in Art. 3, 15 Abs. 2 EMRK und Art. 7 des für Deutschland verbindlichen Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte festgeschrieben (s. hierzu auch Rönnau, JuS 2024, 118 (118)). Das Androhen von Folter ist daher mit den in § 136a Abs. 1 S. 1 StPO normierten verbotenen Vernehmungsmethoden der Täuschung oder Ermüdung mindestens gleichzusetzen. Ferner ließe sich das Verhalten von E auch unter § 136 a Abs. 1 S. 3 StPO subsumieren. Auch auf eine Weisungsgebundenheit nach § 56 Abs. 1 S. 1 HSOG kann E sich nicht berufen, da diese nach § 56 Abs. 1 S. 2 HSOG nicht besteht, wenn die Anordnung die Menschenwürde verletzt.
Bzgl. weiterer Rechtfertigungsgründe ist zunächst die Frage zu stellen, ob die für Privatpersonen geltenden §§ 32, 34 StGB auch auf hoheitliches Handeln Anwendung finden.LG Frankfurt, Urt. v. 20. Dezember 2004 – 5/27 KLs 7570 Js 203814/03 (4/04) (Rn. 135). Bejaht man dies, so scheidet eine Rechtfertigung wegen Notwehr nach § 32 StGB gleichwohl mangels gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffs aus, da J zum Drohungszeitpunkt bereits tot war.LG Frankfurt, Urt. v. 20. Dezember 2004 – 5/27 KLs 7570 Js 203814/03 (4/04) (Rn. 136). In Betracht käme allein ein Erlaubnistatbestandsirrtum,Rönnau, JuS 2024, 118 (120). der aber zur Voraussetzung hätte, dass die weiteren Voraussetzungen von § 32 StGB zumindest in der Vorstellung von E vorlägen. Hieran fehlte es nach den Feststellungen des LG Frankfurt a. M., da (auch nach der Vorstellung von E) noch andere polizeiliche Maßnahmen möglich gewesen wären und damit das Androhen von Folter nicht erforderlich war.LG Frankfurt, Urt. v. 20. Dezember 2004 – 5/27 KLs 7570 Js 203814/03 (4/04) (Rn. 136). Auch § 34 StGB muss mangels gegenwärtiger Gefahr für das Leben von J ausscheiden. Ein Tatbestandsirrtum scheitert hier ebenfalls an der (vorgestellten) Erforderlichkeit. Darüber hinaus stellte das LG noch klar, dass es die Androhung von Folter weder nach § 32 StGB für geboten (da krasses Missverhältnis) noch nach § 34 StGB für verhältnismäßig hält.LG Frankfurt, Urt. v. 20. Dezember 2004 – 5/27 KLs 7570 Js 203814/03 (4/04) (Rn. 138).
Entschuldigungsgründe sind nicht ersichtlich, insbesondere scheidet ein Verbotsirrtum nach § 17 StGB aus, weil E bei der Begehung der Tat mit der Möglichkeit, Unrecht zu tun, rechnete und dies mindestens billigend in Kauf nahm.LG Frankfurt, Urt. v. 20. Dezember 2004 – 5/27 KLs 7570 Js 203814/03 (4/04) (Rn. 167).
Auf Strafzumessungsebene kommt ein besonders schwerer Fall nach § 240 Abs. 4 S. 2 Nr. 2 StGBZum Urteilszeitpunkt des LG Frankfurt: § 240 Abs. 4 S. 2 Nr. 3 StGB aF. in Betracht. Da E hier seine Befugnisse als Amtsträger (vgl. § 11 Abs. 1 Nr. 2 StGB) missbraucht, liegen die tatbestandsähnlichen Voraussetzungen des Regelbeispiels von § 240 Abs. 4 S. 2 Nr. 2 StGB vor. Allerdings ließe sich erwägen, ob hier die Vermutung des Regelbeispiels dadurch widerlegt werden kann, dass E zur Rettung des Lebens eines Kindes – und damit in einer „ehrenwerten, verantwortungsbewussten Gesinnung“LG Frankfurt, Urt. v. 20. Dezember 2004 – 5/27 KLs 7570 Js 203814/03 (4/04) (Rn. 185). – handelte. Dagegen ließe sich vorbringen, dass gerade seine Stellung als Amtsträger E dazu verpflichtete, die Grundrechte des Beschuldigten G, insbesondere sein Recht auf ein faires Verfahren nach Art. 6 EMRK, zu wahren und dass der Verstoß von E hiergegen aufgrund seiner außergewöhnlichen, staatlich legitimierten Machtposition gegenüber dem Beschuldigten besonders schwer wiegt, sodass der Zweck der in § 240 Abs. 4 S. 2 Nr. 2 StGB normierten Strafschärfung den vorliegenden Fall erfasst. Hier ist beides vertretbar. Je nach Argumentation hat sich E wegen einfacher Nötigung nach § 240 Abs. 1, Abs. 2 StGB oder wegen Nötigung in einem besonders schweren Fall nach § 240 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 4 StGB strafbar gemacht.
Nötigungsnotstand
Von einem sog. „Nötigungsnotstand“ S. hierzu und zu den vertretenen Ansichten: Zieschang, in: LK-StGB, Bd. 3, 13. Aufl (2019), § 34 Rn. 129 ff. mwN. spricht man, wenn eine Person unter dem Eindruck einer Nötigung zu einem bestimmten Verhalten gezwungen wird und dieses Verhalten eingedenk der Nötigung nach § 34 StGB gerechtfertigt ist. Ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen dies möglich ist, wird unterschiedlich beurteilt.
Beispiel: C hält E, dem Sohn des K, eine geladene Pistole an den Kopf und sagt, sie werde die Kinder des K umbringen, wenn K nicht für sie zu ihrer Partnerin H gehe, und dieser Schläge androhe, wenn diese nicht aus der Wohnung, die sie gemeinsam mit C bewohnt, ausziehe. Ebenso werde C E umbringen, sollte K zur Polizei gehen. Aus Angst um E tut K wie geheißen, und H zieht aus der Wohnung aus.
Strafbarkeit von C und K nach § 240 f. StGB?
Im Beispielfall erfüllt K den Tatbestand der Nötigung nach § 240 Abs. 1 StGB, da er H mit einem empfindlichen Übel (Schlägen) droht, sollte sie nicht aus der gemeinsamen Wohnung mit C ausziehen.
Fraglich ist, ob die Tat gerechtfertigt ist. Hier kommt zunächst § 32 StGB in Betracht, der allerdings daran scheitert, dass K nicht in die Rechtsgüter von C, sondern von H eingreift.
Daher kann K höchstens nach § 34 StGB gerechtfertigt sein. Eine Notstandslage liegt vor, da eine gegenwärtige Gefahr für das Leben seines Kindes droht. Indem K die Forderung von C erfüllt, nimmt er auch ein geeignetes und erforderliches Mittel war, die Gefahr abzuwenden. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeit stellt sich die Frage, ob K gerechtfertigt sein kann, obwohl er eine Straftat. Dies ist umstritten:
Nach einer Ansicht ist das „Tätigwerden auf der Seite des Unrechts“ niemals verhältnismäßig iSv § 34 StGB, da hierdurch das Vertrauen in die „Geltungskraft der Rechtsordnung“ massiv erschüttert werde.Perron, in: Schönke/Schröder, 30. Aufl. (2019), § 34 Rn. 41b mwN. In Betracht komme allein eine Entschuldigung nach § 35 StGB. Nach dieser Ansicht wäre K also, da es um das Leben von E und damit seines Sohnes, einem Angehörigen, geht, nach § 35 Abs. 1 StGB entschuldigt.
Nach der Gegenansicht ist eine Rechtfertigung auch in diesen Fällen möglich. Es kommt hier – wie auch sonst bei § 34 StGB – auf eine Verhältnismäßigkeitsprüfung an.Roxin/Greco, Strafrecht AT I, 5. Aufl. (2020), § 16 Rn. 68. Nach dieser Ansicht wäre im Beispielfall eine Abwägung zwischen dem durch C bedrohten Rechtsgut (Leben von E) und der begangenen Straftat (Nötigung von H zum Auszug, ggf. Hausfriedensbruch) vorzunehmen. Aufgrund der überragenden Bedeutung des Rechtsguts Lebens und den vergleichsweise geringen Konsequenzen für H wäre vorliegend wohl von einer Rechtfertigung auszugehen (aA vertretbar).
Je nach vertretener Ansicht wäre K im Beispielfall aus → Rn. 39 also nach § 34 StGB gerechtfertigt oder nach § 35 StGB entschuldigt.
C handelt in jedem Fall als mittelbare Täterin einer Nötigung nach §§ 240 Abs. 1, 2, 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB gegenüber H, da ihr Tatmittler K ein Strafbarkeitsdefizit (entweder auf Rechtswidrigkeits- oder auf Schuldebene) aufweist und C als „Zentralgestalt des Geschehens“ Tatherrschaft hat. Zudem hat sich C einer Nötigung gegenüber K nach § 240 StGB strafbar gemacht und darüber hinaus einer Bedrohung nach § 241 Abs. 2 StGB (Bedrohung mit einem Mord aus niedrigen Beweggründen = Verbrechen) sowohl gegenüber E als unmittelbar bedrohter Person als auch gegenüber K (E = ihm nahestehende Person) (zu den Voraussetzungen der Bedrohung im Einzelnen → § 16).
Die Bedrohung nach § 241 Abs. 2 StGB von K tritt nach hM hinter die vollendete Nötigung zurück. Ansonsten stehen die Tatbestandsverwirklichungen aufgrund der verschiedenen angegriffenen Rechtsgutsträger in Tateinheit nach § 52 StGB zueinander (s. hierzu auch → Rn. 70). In Betracht kommt schließlich noch der (hier nicht zu prüfende) § 239b StGB (dazu → § 14).
Klausurtipp: Umstritten ist die Anwendung der §§ 32 ff. StGB aktuell bei Autofahrerinnen, die klebende Klima-Aktivistinnen von der Straße zerren.S. Hoven/Rostalski/Weigend, Die ZEIT Nr. 50/2022, online abrufbar unter: https://t1p.de/bh0u5; dagegen unter Betonung des „Primats behördlicher Maßnahmen“ und grundlegender Kritik am Notwehrinstrument zur Auflösung von Grundrechtskollisionen Ernst, KriPoZ 2023, 448; zur Thematik auch Preuß, NVZ 2023, 60 (72 ff.). Diese Konstellation ließe sich gut in einer Klausur abprüfen, da sowohl auf Seite der Klima-Aktivistinnen als auch auf Seite der Autofahrerinnen § 240 StGB einschlägig ist und sich jeweils Rechtfertigungsfragen stellen.
Verwerflichkeitsklausel (§ 240 Abs. 2 StGB)
Sollten keine allgemeinen Rechtfertigungsgründe vorliegen, muss die Rechtswidrigkeit des nötigenden Verhaltens positiv festgestellt werden. Dabei kann es im Einzelfall schwierig sein, sozialadäquate von sozialinadäquaten, d. h. strafbaren Nötigungshandlungen abzugrenzen.Fischer, StGB, 71. Aufl. (2024), § 240 Rn. 38 mwN. Vom Tatbestand des § 240 Abs. 1 StGB in seiner heutigen Fassung können zunächst auch Verhaltensweisen erfasst werden, die zwar nötigenden Charakter besitzen (etwa die Drohung mit einer Abmahnung für fehlerhaftes Verhalten im beruflichen Kontext oder die Drohung, eine langjährige Freundschaft zu kündigen, wenn die andere Person ihr Verhalten nicht ändert), die aber bei näherer Betrachtung sozialethisch nicht als Unrecht erscheinen.Wessels/Hettinger/Engländer, BT 1, 47. Aufl. (2023), § 8 Rn. 354. Ausweislich von § 240 Abs. 2 StGB ist eine Nötigungshandlung daher nur dann als rechtswidrig anzusehen, „wenn die Anwendung der Gewalt oder die Androhung des Übels zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist“.
Wann dies der Fall ist, wird nach der sog. Zweck-Mittel-Relation bestimmt. Hierbei ist die Verknüpfung zwischen Nötigungsmittel und Nötigungszweck in einer Gesamtwürdigung zu betrachtenFischer, StGB, 71. Aufl. (2024), § 240 Rn. 40 mwN. Dabei dient die Bestimmung der „Verwerflichkeit“ der Nötigungshandlung als eine Art sozialethisches Korrektiv des weit (nach Ansicht einiger: „zu weit“)Wessels/Hettinger/Engländer, BT 1, 47. Aufl. (2023), § 8 Rn. 354. gefassten Tatbestandes von § 240 Abs. 1 StGB.Eisele, in: Schönke/Schröder, 30. Aufl. (2019), § 240 Rn. 15. Das Bedürfnis, über § 240 Abs. 2 StGB ein Korrektiv einzuführen, ist historisch betrachtet mit der zunehmenden Ausweitung des Nötigungstatbestandes entstanden und wird aufgrund seiner Unbestimmtheit – trotz Bestätigung der Verfassungskonformität durch das BVerfG – kritisiert.S. hierzu bereits → Rn. 5; spezifisch in Bezug auf § 240 Abs. 2 StGB kritisch etwa Wessels/Hettinger/Engländer, BT 1, 47. Aufl. (2023), § 8 Rn. 354; s. ferner den Überblick bei Altvater/Coen, in: LK-StGB, Bd. 12, 13. Aufl. (2023), § 240 Rn. 113 ff. mwN.
Vertiefung zur Historie der Verwerflichkeitsklausel iSv § 240 Abs. 2 StGB
Die Ursprünge des Nötigungstatbestandes liegen in § 1077 II 20 PrALR von 1794.Sinn, Die Nötigung im System des heutigen Strafrechts, 2000, S. 44. Dieser lautete: „Wer [...] einen Menschen [...] mit Gewalt festhält, einsperret, oder wider seinen Willen zu etwas nöthiget, [...]“Zitiert nach Hruschka, JZ 1995, 737 (742). Auf der Grundlage des § 212 Preußisches StGB wurde § 240 RStGB von 1871 (als Antragsdelikt)Wolters, in: SK-StGB, Bd. 4, 10. Aufl. (2024), § 240 Rn. 1. folgendermaßen gefasst: „Wer einen anderen widerrechtlich durch Gewalt oder Bedrohung mit einem Verbrechen oder Vergehen zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt […]“.Sinn, Die Nötigung im System des heutigen Strafrechts, 2000, S. 45. Diese Fassung stellte also in der Tatbestandsvariante der Drohung allein die Bedrohung mit einer Straftat unter Strafe. Dies wurde als zu eng angesehen, da eine Drohung mit einer straflosen Handlung ebenso wirksam sein könne wie die Drohung mit einer strafbaren Handlung.Sinn, Die Nötigung im System des heutigen Strafrechts, 2000, S. 45. Nach vielen Diskussionen über verschiedene EntwürfeSinn, Die Nötigung im System des heutigen Strafrechts, 2000, S. 45 f. wurde § 240 RStGB schließlich durch die Strafrechtsangleichungsverordnung von 1943 neu gefasst.Sinn, Die Nötigung im System des heutigen Strafrechts, 2000, S. 47. § 240 Abs. 1 StGB in der Fassung von 1943 erweiterte die Strafbarkeit auf die Tatbestandsvariante der „Drohung mit einem empfindlichen Übel“, wodurch auch die Drohung mit nicht strafrechtlich erfassten Verhaltensweisen den Tatbestand der Nötigung erfüllen konnte. Um die Ausweitung des Tatbestandes in Abs. 1 StGB zu kompensieren, wurde ein Abs. 2 eingefügt, der in der Fassung von 1943 lautete: „Rechtswidrig ist die Tat, wenn die Anwendung der Gewalt oder die Zufügung des angedrohten Übels zu dem angestrebten Zweck dem gesunden Volksempfinden widerspricht.“ Durch das Dritte Strafrechtsänderungsgesetz von 1953 wurde Abs. 2 „entnazifiziert“Welp in: Vormbaum u.a. (Hrsg.), Das Strafgesetzbuch, Supplementband 1, 2004, S. 139, 166; Heger, in: Geisler u.a. (Hrsg.), FS Geppert, 2011, S. 155. und insbesondere der Begriff „gesundes Volksempfinden“ durch „verwerflich“ ersetzt.
Die von § 240 Abs. 2 StGB vorgegebene Prüfung hat drei gedankliche Schritte:
Angestrebter Zweck bereits verwerflich
Ist bereits der angestrebte Zweck rechtswidrig, so wird die Verwerflichkeit regelmäßig zu bejahen sein, beispielsweise wenn eine Person eine andere zur Begehung einer Straftat nötigt (s. das Beispiel in → Rn. 39).
Eingesetztes Mittel bereits verwerflich
Ebenso ist die Verwerflichkeit in der Regel zu bejahen, wenn das eingesetzte Mittel per se verwerflich ist (was oft, aber nicht immer,S. hierzu Altvater/Coen, in: LK-StGB, Bd. 12, 13. Aufl. (2023), § 240 Rn. 119 mwN. bei Einsatz von körperlicher Gewalt der Fall sein wird, etwa wenn eine Person die andere schlägt, um sie zu einer Entschuldigung zu zwingen, vgl. das Beispiel in → Rn. 58).
Zweck-Mittel-Relation
Sind weder das eingesetzte Mittel noch das angestrebte Ziel per se als verwerflich einzustufen, kann die Tat trotzdem verwerflich sein, wenn das eingesetzte Mittel in Relation zum angestrebten Ziel als verwerflich anzusehen ist (sog. „Zweck-Mittel-Relation“). Hier sind im Rahmen einer „Gesamtwürdigung“ Umfang und Intensität der Zwangswirkung sowie die betroffenen Rechte, Güter und Interessen von Täter, Opfer und der AllgemeinheitSofern man die Nötigung mit der wohl herrschenden Meinung als in Kontinuität zum crimen vis stehend betrachtet, s. hierzu → Rn. 5. zu betrachten.Zimmermann, in: AnwK-StGB, 3. Aufl. (2020), § 240 Rn. 25; Altvater/Coen, in: LK-StGB, Bd. 12, 13. Aufl. (2023), § 240 Rn. 118; Fischer, StGB, 71. Aufl. (2024), § 240 Rn. 40. mwN.
Umstritten ist in diesem Zusammenhang, ob bei der Verwerflichkeitsprüfung auch sog. „Fernziele“ zu berücksichtigen sind, etwa bei einer Straßenblockade das eigentliche Anliegen des Protests (zB Klimaschutz). Nach hM sind diese „Fernziele“ nicht in die umfassende Gesamtabwägung einzustellen, sondern allein auf Strafzumessungsebene zu berücksichtigen.BGH NStZ 1988, 362. Allerdings ist es nicht immer einfach, zu bestimmen, was genau unter „Fernziel“ im Kontext der Nötigung zu verstehen ist,Vgl. auch Altvater/Coen, in: LK-StGB, Bd. 12, 13. Aufl. (2023), § 240 Rn. 121. gerade vor dem Hintergrund, dass das BVerfG im Zusammenhang mit der Zweite-Reihe-Rechtsprechung gefordert hat, den „Kommunikationszweck“ von durch Art. 8 GG geschützten Versammlungen im Rahmen der Verwerflichkeitsprüfung einzubeziehen.BVerfGE 104, 92 (108); BVerfG, Beschl. v. 7. März 2011 – 1 BvR 388/05 (Rn. 41). (s. → Rn. 20)
Beispiel (nach AG Berlin-Tiergarten NStZ 2023, 242): N blockiert zusammen mit sechs weiteren Aktivistinnen eine Zufahrt der Stadtautobahn in Berlin-Wedding, um auf den Klimawandel aufmerksam zu machen. Die sieben Aktivistinnen legen sich quer zur Fahrtrichtung über alle drei Fahrstreifen sowie den Standstreifen. Vier von ihnen (darunter N) kleben jeweils eine Hand mittels Sekundenkleber auf der Fahrbahn fest. Drei von ihnen kleben sich nach dem gemeinsam geplanten Aktionskonzept nicht fest, damit im Notfall die Durchfahrt von Krankenwagen möglich ist. Durch die Aktion kommt es, wie von N beabsichtigt, für ca. zehn Minuten zu einem vollkommenen Stillstand der Autos, bevor die Polizei eingreift und der Verkehr langsam abfließen kann.
Strafbarkeit von N?
Lösungshinweise:
Nach der Zweite-Reihe-Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (→ Rn. 19) hat N hier durch das bewusste Blockieren der Autobahn gemeinsam mit den anderen Aktivistinnen eine gemeinschaftliche Nötigung in mittelbarer Täterschaft nach §§ 240 Abs. 1, Abs. 2, 25 Abs. 1 Alt. 2, Abs. 2 StGB begangen, durch die die Autofahrerinnen spätestens ab der 2. Reihe zum Anhalten genötigt wurden. Darauf kam es N auch gerade an.
Eine Rechtfertigung unmittelbar aus GrundrechtenS. hierzu Schmidt, ZJS 2023, 875 (886 f.) mwN. scheidet nach hM ebenso aus wie eine Rechtfertigung wegen Klimanotstandes, da entweder schon das Klima nicht als notstandsfähiges (Allgemein-)Rechtsgut angesehen wird,Engländer, in: Matt/Renzikowski-StGB, 2. Aufl (2020), § 34 Rn. 19; Neumann, in: NK-StGB, 6. Aufl. (2023), § 34 Rn. 22 der Angriff auf das Klima nicht gegenwärtig istAnders AG Flensburg, Urt. v. 7. November 2022 - 440 Cs 107 Js 7252/22 und OLG Schleswig, Urt. v. 9. August 2023 – 1 ORs 4 Ss 7/23 (juris Rn. 35). oder zumindest die Straßenblockade kein (unmittelbar) geeignetes Mittel ist, den Klimawandel zu stoppen.So OLG Schleswig, Urt. v. 9. August 2023 – 1 ORs 4 Ss 7/23 (juris Rn. 49). Anders das AG Flensburg, Urt. v. 7. November 2022 – 440 Cs 107 Js 7252/22, das allerdings in der 2. Instanz durch das OLG Schleswig aufgehoben worden ist; zum Klimanotstand grundlegend s. Bönte, HRRS 2021, 164 ff. Fraglich ist daher, ob die Nötigung verwerflich ist, d. h. ob das eingesetzte Mittel (Straßenblockade) im Hinblick auf das angestrebte Ziel (Aufmerksamkeit auf den Klimawandel lenken) als verwerflich eingestuft werden muss. Hierbei sind auf der Seite der Autofahrerinnen die allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG, aufseiten von N ihr Recht auf Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG sowie die Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG, der Kommunikationszweck der Protestaktion sowie ggf. auch die sich aus dem Klimabeschluss des BVerfGBVerfGE 157, 30. ergebende zunehmende Bedeutung von Art. 20a GG (das allerdings bislang noch kein subjektives Freiheitsrecht darstellt, sondern nur eine objektivrechtliche Schutzpflicht des Staates auch für zukünftige Generationen erfasst)BVerfGE 157, 30 (Leitsatz 1, 2a). in die Abwägung einzustellen.S. hierzu auch Bayer, verfassungsblog v. 6. Oktober 2022.
In der Argumentation sollten folgende Punkte erörtert werden:S. zu den Kriterien auch BVerfG, Beschl. v. 7. März 2011 – 1 BvR 388/05 (Rn. 39); hierunter subsumierend (und eine Strafbarkeit in einem ähnlichen Fall verneinend) AG Tiergarten, Urt. v. 5. Oktober 2022 – 303 Cs 202/22, zitiert nach juris (Rn. 13); das Urteil wurde in der nächsten Instanz vom LG Berlin aufgehoben (LG Berlin, Beschl. v. 21. November 2022 – 534 Qs 80/22) und zur erneuten Entscheidung an einen anderen Spruchkörper zurückverwiesen, allerdings nicht wegen der vom AG Tiergarten ausgeführten Kriterien sondern wegen der vom AG Tiergarten hierunter vorgenommenen Subsumtion.
die Dauer und Intensität der Aktion;
deren vorherige Ankündigung;
ob die Durchfahrt von strukturwichtigen Fahrzeugen wie Krankenwagen möglich war;
ob ein sachlicher Bezug zwischen Protestmittel (Straßenblockaden gegen Autofahrende) und Protestgegenstand (Klimawandel) bestandBVerfGE 104, 92 (112). – in diesem Zusammenhang stellt sich vorliegend die Frage, wie es bspw. zu bewerten wäre, wenn vornehmlich klimaneutrale Elektroautos durch die Blockade zum Stillstand gekommen wären);Dieses Argument verdanke ich einem Kommentar zu Bayer, verfassungsblog v. 6. Oktober 2022.
der Kommunikationszweck der Protestaktion, ohne dass den Strafgerichten hierbei die Bewertung der Effektivität oder Nützlichkeit des Protests zukommt.Zum Vorschlag einer nicht-strafrechtlichen Bewertung der Aktionen nach dem Kriterium des „Gelingens“ s. auch Bayer, in: Joerden u.a. (Hrsg.), Jahrbuch Recht und Ethik, 2023, S. 123 ff.
Hier ist mit guter Argumentation beides vertretbar, wobei das AG Tiergarten im zugrunde liegenden Fall die Verwerflichkeit und damit die Strafbarkeit von N bejaht,AG Berlin-Tiergarten, Urt. v. 30. August 2022 − (422 Cs) 231 Js 1831/22 (11/22) Jug. in einem ähnlich gelagerten Fall aber verneint hat.AG Berlin-Tiergarten, Beschl.v. 20. Oktober 2022 – (298 Cs) 237 Js 2481/22 (167/22).
Irrtum über die Verwerflichkeit
Irrt der Täter über die Verwerflichkeit begründenden Umstände, handelt er im Rahmen eines Erlaubnistatbestandsirrtums, der je nach Auffassung analog oder nach den Rechtsfolgen von § 16 Abs. 1 StGB zur Straffreiheit führt oder nach § 17 StGB als Verbotsirrtum einzuordnen ist, wobei teilweise die Anforderungen an die Vermeidbarkeit nach § 17 S. 1 StGB gesenkt werden.S. hierzu ausführlich Murmann, Grundkurs Strafrecht, 7. Aufl. (2022), § 25 Rn. 11 ff. mwN.
Beispiel (starke AbwandlungDas Beispiel ist konstruiert, und es ist nicht zu erwarten, dass eine solche Konstellation in der Klausur vorkommt. Es ist sehr schwierig, für diese Fallkonstellation ein Beispiel zu finden, in der kein Verbotsirrtum, sondern tatsächlich ein Irrtum über die die Verwerflichkeit begründenden Umstände vorliegt. Da diese Fallgruppe aber in der Literatur diskutiert wird, ist es hilfreich, sich anhand des Falls darüber Gedanken zu machen (und zugleich den Erlaubnistatbestandsirrtum zu wiederholen). von BayObLG NJW 1995, 2646):
L fährt gemeinsam mit M im Auto in die Innenstadt Hamburgs. L ist querschnittsgelähmt und gilt als „schwerbehindert“, was sie durch einen amtlichen Ausweis nachweisen kann. L entdeckt eine Parklücke, die für schwerbehinderte Personen reserviert ist (was durch ein entsprechendes Schild gekennzeichnet ist) und bleibt davor stehen. Leider steht in dieser schon der betagte U, um den Platz für den 92-jährigen S (der ebenfalls einen Schwerbehindertenausweis besitzt) freizuhalten. S – ebenfalls im Auto – ist sehr langsam am Einparken ist. Weil alle anderen Parkplätze zu dieser Zeit in der Stadt belegt sind, und L zu einem wichtigen Arzttermin muss, steigt M, der den einparkenden S nicht sieht, aus und bittet U mehrmals, zur Seite zu gehen. Weil der schwerhörige U nicht reagiert, schubst M U leicht zur Seite. Sodann parkt L in den Parkplatz ein. M weiß nicht, dass S einen Schwerbehindertenausweis besitzt und ebenfalls zwecks dringendem Arzttermin in die Stadt gefahren ist.
Strafbarkeit von M nach § 240 StGB?
Lösungshinweise:
Dass M den U schubst, stellt Gewalt, nämlich eine Kraftausübung des Täters, um erwarteten Widerstand zu überwinden und eine körperliche Zwangseinwirkung auf das Opfer vorzunehmen, dar.Im Übrigen würde es nach der Rechtsprechung auch Gewalt darstellen, wenn L langsam mit dem Auto auf U zufahren würde, um ihn aus der Parklücke zu drängen, s. BayOblG NJW 1963, 824 (825). Der Nötigungserfolg liegt im Zwingen zum Ausweichen und Freigeben des Parkplatzes durch U (und mittelbar S).
Auf Rechtwidrigkeitsebene sind zunächst die allgemeinen Rechtfertigungsgründe zu prüfen.
Zunächst ließe sich überlegen, ob die Handlung aus Notwehr gerechtfertigt ist, da das Reservieren des Parkplatzes durch U selbst einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff auf das (vermeintliche) Anrecht von L auf den Parkplatz darstellen könnte. Das BayOblG sieht grundsätzlich das unberechtigte Reservieren einer Parklücke als „Gewalt“ und damit rechtswidrigen Angriff auf das Vorrecht des zuerst ankommenden Fahrzeugs (vgl. § 1 Abs. 2 StVO) an.BayOblG NJW 1963, 824 (825); aA etwa OLG Düsseldorf NJW 1961, 1783 (1784); Fischer, StGB, 71. Aufl (2024), § 240 Rn. 49. Gleiches könnte hier für eine schwerbehinderte Person im Vergleich zu einer nicht schwerbehinderten Person gelten, da der Parkplatz für schwerbehinderte Personen reserviert und diese daher gegenüber nicht schwerbehinderten Personen bevorrechtigt wären. Allerdings war S hier ebenfalls schwerbehindert, und L auch nicht vor S an der Parklücke, da S nur sehr langsam einparkte. Ferner ließe sich bei solchen bagatellhaften Beeinträchtigungen des – höchst volatilen – „Anrechts auf eine Parklücke“ die Gebotenheit des Wegschubsens verneinen,Insbesondere dann, wenn nicht M U geschubst hätte, sondern L U angefahren hätte, s. BayOblG NJW 1995, 2646. sodass auch ein Erlaubnistatbestandsirrtum ausscheiden würde.
Ebenso scheitert § 34 StGB an dem Vorliegen einer gegenwärtigen Gefahr. Das bloße Verpassen des Arzttermins mangels Parkplatzes stellt (jedenfalls nicht ohne weitere Sachverhaltsschilderungen) kein notstandsfähiges Rechtsgut dar.
Fraglich ist daher, ob das Schubsen nach § 240 Abs. 2 StGB im hiesigen Fall verwerflich ist. Hier ließe sich kurz überlegen, ob das Wegschubsen von U, um L das Einparken zu ermöglichen, als bloßes „Fernziel“ zu werten ist, da unmittelbar der Nötigungserfolg nur darin liegt, dass U sich von der Stelle bewegt. Nimmt man aber an, dass die Motivation, L das Einparken zu ermöglichen, in die Verwerflichkeitsprüfung einzustellen ist, so könnte man vor dem Hintergrund, dass M U nur leicht schubst, der Parkplatz für Personen mit schweren Beeinträchtigungen reserviert ist und L den Parkplatz dringend benötigt, grundsätzlich davon ausgehen, dass das Handeln von M nicht verwerflich ist. Allerdings wäre S ebenfalls zum Parken auf dem Parkplatz berechtigt (und da er zuerst da war: sogar bevorrechtigt), und benötigt den Parkplatz ebenfalls dringend, sodass vor diesem Hintergrund das Erzwingen des (vermeintlichen) Vorrechts von L verwerflich erscheinen könnte.
Nach einer Ansicht ist das Erzwingen eines Vorrechts im Straßenverkehr ohnehin verwerflich, da im Straßenverkehr das Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme (das aus § 1 Abs. 1 StVO folgt) gilt, selbst im Hinblick auf das (vermeintlich) verkehrswidrige Verhalten anderer. Dann kommt aufgrund der irrigen Annahme des Erlaubt-Seins der Handlung nur ein Verbotsirrtum nach § 17 StGB in Betracht.S. hierzu auch Wessels/Hettinger/Engländer, BT 1, 47. Aufl. (2023), § 8 Rn. 387. Hiernach wäre das Handeln also – unabhängig von Ms Irrtum über das Vorrecht der L – verwerflich bzw. als bloßer vermeidbarer Verbotsirrtum nach § 17 S. 2 StGB zu behandeln.
Nach anderer Ansicht ist dagegen das Erzwingen des Vorrechts im Straßenverkehr nicht per se verwerflich, sondern im konkreten Einzelfall zu ermitteln.So wohl BayOblG NJW 1963, 824 (825). Hier würde sich dann die Frage stellen, wie der Umstand zu bewerten ist, dass M nicht weiß, dass S ebenfalls zum Parken auf dem Parkplatz berechtigt ist. Der Irrtum über die die Verwerflichkeit begründenden Umstände stellt einen Erlaubnistatbestandsirrtum dar. Dessen Behandlung ist streitig.S. Murmann, Grundkurs Strafrecht, 7. Aufl. (2022), § 25 Rn. 11 ff. mwN. Nach einer Ansicht ist hier § 16 Abs. 1 StGB direkt (Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen) oder analog anzuwenden bzw. wird nur auf die Rechtsfolgen von § 16 Abs. 1 StGB verwiesen. Nach anderer Ansicht ist der Erlaubnistatbestandsirrtum als Verbotsirrtum nach § 17 StGB zu bewerten, wobei niedrigere Anforderungen als gewöhnlich an die Vermeidbarkeit nach § 17 S. 1 StGB gestellt werden.
Nach allen Ansichten dürfte hier im Ergebnis eine Strafbarkeit zu verneinen sein, da M nicht weiß, dass S ebenfalls schwerbehindert ist und daher auf den Parkplatz angewiesen ist.
Schuld
Auf Wertungsebene der Schuld ergeben sich keine nötigungsspezifischen Probleme.
Ggf. kommt ein Verbotsirrtum nach § 17 StGB in Betracht, der aber in aller Regel nach § 17 S. 2 StGB vermeidbar sein wird.
Versuch
Der Versuch der Nötigung ist nach § 240 Abs. 3 StGB (iVm §§ 22, 23 Abs. 1 Alt. 2, 12 Abs. 2 StGB) strafbar.
Klausurtipp: Die versuchte Nötigung wird in Klausuren gerne übersehen.
Beispiel: A und B spielen zusammen Fußball. Bei einem wichtigen Spiel verschießt A einen Elfmeter, woraufhin B vor dem gesamten Team sagt, A „könne nichts und sei zu nichts zu gebrauchen“. Beim nächsten Training geht A mit erhobener Faust auf B zu und sagt: „Entschuldige dich oder ich schlage dich.“ B zeigt sich hiervon unbeeindruckt und rennt einfach weg. A setzt mit weiterhin erhobener Faust zur Verfolgung an, und ist bereit, B zu schlagen und ihr erhebliche körperliche Schmerzen zuzufügen, um sie zur Entschuldigung zu bewegen. Schon nach kurzer Zeit bricht sie die Verfolgung aber ab, weil B schon längst außer Reichweite geraten ist.
Strafbarkeit von A?
Lösungshinweise:
Neben der Prüfung einer versuchten Körperverletzung nach §§ 223 Abs. 1, Abs. 2, 22, 23 Abs. 1 Alt. 2 StGB (Problem: Unmittelbares Ansetzen) und der Bedrohung nach § 241 Abs. 1 StGB sollte auch daran gedacht werden, §§ 240 Abs. 1, Abs. 3, 22, 23 Abs. 1 Alt. 2 StGB zu prüfen.
Mangels Eintritts des Nötigungserfolges (Entschuldigung) ist die Nötigung nicht vollendet. Das Zugehen mit erhobener Faust und den Worten („Entschuldige dich oder ich schlage dich.“) stellt eine Drohung mit einem empfindlichen Übel, nämlich einer erheblichen Beeinträchtigung der körperlichen Integrität der B, dar, auf das A Einfluss zu haben vorgibt. Hierdurch möchte A B zu einem Tun, nämlich dem Aussprechen einer Entschuldigung, bewegen. Durch das Aussprechen der Drohung und das Zugehen mit erhobener Faust hat A hierzu nach ihrer Vorstellung von der Tat auch unmittelbar angesetzt.
Da die – ggf. beleidigende – Äußerung von B bereits einen Tag zurückliegt, wäre der Angriff auf das umstrittene Rechtsgut „Ehre“ jedenfalls nicht mehr gegenwärtig, sodass § 34 StGB ausscheidet. Auch ist das Verprügeln einer anderen Person, um sie zu einer Entschuldigung zu zwingen, aufgrund des Einsatzes „roher Gewalt“ zur Interessendurchsetzung, nach § 24 Abs. 2 StGB als verwerflich anzusehen. Weil der Versuch nach der Gesamtbetrachtungslehre fehlgeschlagen ist (B ist außer Reichweite geraten), kommt auch ein strafbefreiender Rücktritt nach § 24 Abs. 1 S. 1 StGB nicht in Betracht.
Zum Konkurrenzverhältnis von § 240 StGB und § 241 StGB s. → Rn. 28 und → § 16 Rn. 29)
Strafzumessung
§ 240 Abs. 1 StGB sieht einen Regelstrafrahmen von Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe vor.
Besonders schwere Fälle sind in § 240 Abs. 4 StGB normiert und sehen einen erhöhten Strafrahmen von sechs Monaten bis zu fünf Jahren vor. In der Regel wird dies in der Klausur keine Rolle spielen.
§ 240 Abs. 4 S. 2 Nr. 1 StGB (Nötigung zum Schwangerschaftsabbruch) kann insbes. durch Drohungen des leiblichen Vaters des Ungeborenen, sich seiner Unterhaltspflicht rechtswidrig zu entziehen oder auch durch die Drohung des Arbeitgebers mit dem Verlust des Arbeitsplatzes verwirklicht werden.Fischer, StGB, 71. Aufl. (2024), § 240 Rn. 60.
§ 240 Abs. 4 S. 2 Nr. 2 StGB stellt schließlich den Missbrauch von Befugnissen eines Amtsträgers bzw. von dessen Amtsstellung unter Strafe. Die Amtsträgereigenschaft ist in § 11 Abs. 1 Nr. 2 StGB legaldefiniert und stellt ein besonderes persönliches Merkmal iSd § 28 Abs. 2 StGB dar.Valerius, in: BeckOK StGB, 61. Ed. (Stand 01.05.2024), § 240 Rn. 70 f.
Über die benannten Regelbeispiele hinaus kommt ein besonders schwerer Fall iSe „unbenannten schweren Falls“ in Betracht, wenn der Täter ein äußerst intensives Nötigungsmittels einsetztBGH NStZ-RR 1997, 196. oder wenn das erzwungene Verhalten für das Opfer besonders erniedrigend oder gefährlich ist.Fischer, StGB, 71. Aufl. (2024), § 240 Rn. 62.
Vertiefung zur Diskussion um die Einführung weiterer Strafschärfungen in § 240 Abs. 4 StGB
Immer wieder werden kriminalpolitisch weitere Strafverschärfungen von § 240 StGB diskutiert, insbesondere in den Fallgruppen „Nötigung im Straßenverkehr“Kropp, ZRP 2004, 4 (4 f.); dagegen König, NZV 2005, 27 (30). und im Zusammenhang von Protestaktionen von Klima-Aktivistinnen.S. etwa den Antrag der Fraktion CDU/CSU vom 8. November 2022, BT-Drucks. 20/4310; dagegen die Expertenmehrheit in der Anhörung vom 18. November 2023, hib 34/2023, online abrufbar unter: https://t1p.de/8ttvd; der Bundestag hat den Antrag am 27. April 2023 mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen nach der Beschlussempfehlung vom 20. April 2023, BT-Drucks. 30/6481, zurückgewiesen. Die CSU hat auf ihrer Klausurtagung vom 6. – 8. Januar 2024 erneut die Forderung nach Strafschärfungen für Klimaaktivistinnen aufgestellt, s. https://t1p.de/c4qab (S. 15). Beide Überlegungen beruhen auf unterschiedlichen Ansätzen und Verständnissen der Nötigung: Während die Nötigung im Straßenverkehr tatsächlich die Rechtsgüter von Individuen stark gefährdet, kann eine Strafschärfung gegen Klimaaktivistinnen nur dann plausibel dargelegt werden, wenn mit der sog. „Kontinuitätsthese“ (→ Rn. 5) davon ausgegangen wird, dass die Nötigung ein Auffangdelikt zur Sicherung der öffentlichen Ordnung ist. Jedoch ist hier auf die Rechtsprechung des BVerfG hinzuweisen, das im Rahmen der Sitzblockaden-II-Entscheidung noch einmal explizit auf den in Art. 2 Abs. 1 GG verankerten Grundsatz schuldangemessenen Strafens hingewiesen hat.BVerfGE 104, 92, 108. Eine vertypte Strafschärfung allein aus der Erwägung heraus, bestimmte Verhaltensweisen, die nicht stark in die Grundrechte anderer eingreifen, vornehmen zu wollen, dürfte vor diesem Hintergrund verfassungswidrig sein. Die Entwicklung der rechtspolitischen Diskussion ist hier aufmerksam zu beobachten.
Dagegen sind andere vormals in Abs. 4 vertypte Fallgruppen und das durch sie geschützte Rechtsgut mittlerweile als so gewichtig gewertet worden, dass sie durch das 50. Strafrechtsänderungsgesetz aus Abs. 4 herausgenommen und in einem eigenen Tatbestand normiert worden sind (etwa: die sexuelle Nötigung in § 177 StGB und die Zwangsheirat in § 237 StGB.).
Konkurrenzen
Mehrere Erfolge
Werden durch dieselbe Nötigungshandlung verschiedene Verhaltensweisen (desselben Opfers) erzwungen, liegt nur eine Tat vor.Fischer, StGB, 71. Aufl. (2024), § 240 Rn. 63.
Gegenüber § 240 StGB spezieller Delikte
Die Nötigung tritt hinter spezielleren Delikten, die den Tatbestand der Nötigung enthalten, zurück. Klausurrelevant sind hier etwa §§ 113, 114, 239, 239a, 239b und in der Regel (s. dazu sogleich) auch § 253 StGB.Fischer, StGB, 71. Aufl. (2024), § 240 Rn. 64. Dies gilt auch für §§ 249, 250, 255 StGB, wenn der nötigende Zwang zur Erlangung der Tatbeute oder nach Vollendung zur Sicherung der Tatbeute eingesetzt wird.
Klausurtipp: Wenn Sie § 249 StGB oder §§ 253, 255 StGB in einer Klausur prüfen, denken Sie immer auch an die mitverwirklichte Nötigung. Diese wird zwar meistens im Wege der Konkurrenz zurücktreten und nicht den Schwerpunkt der Klausur ausmachen. Sie kann aber wieder an Bedeutung gewinnen, wenn § 249 StGB etwa an der finalen Verknüpfung zwischen Wegnahme und qualifiziertem Nötigungsmittel scheitert (dann bleibt eine Strafbarkeit nach §§ 240 – 52 – 242 StGB) oder § 253 StGB an der Bereicherungsabsicht aufgrund der irrtümlichen Annahme eines fälligen, einredefreien Anspruchs (dann bleibt ggf. § 240 StGB bestehen, wenn der Einsatz des Nötigungsmittels trotzdem zur Erreichung des angestrebten Zwecks – eigenmächtige Durchsetzung eines geldwerten Anspruchs – als verwerflich anzusehen ist).
Verhältnis zu § 241 StGB
Dagegen verdrängt nach (noch) hM sowohl die vollendete als auch die versuchte Nötigung die Bedrohung nach § 241 StGB (→ § 16 Rn. 29).
Sperrwirkung durch § 113 StGB
Grundsätzlich sperrt § 113 StGB bei Nötigungshandlungen ggü. Vollstreckungsbeamten die Anwendung von § 240 StGB (→ § 17 Rn. 38 ff.). Umstritten ist jedoch, ob diese Sperrwirkung auch dann gilt, wenn § 113 StGB mangels Gewalt gegen einen Vollstreckungsbeamten nicht greift (zB wenn eine Demonstrantin mit ihrer Selbstverbrennung droht, sollten die Polizeibeamten die Demonstration räumen).S. OLG Hamm, NStZ 1995, 547. Hintergrund dieser Überlegung ist, dass § 113 StGB aF einen milderen Strafrahmen als § 240 StGB vorsah, weil der Betroffene, der oft durch den unerwarteten Vollstreckungsakt überrascht wird, sich häufig im Affekt zur Wehr setzt.Hilgendorf in: Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf, Strafrecht BT, 4. Aufl. (2021), § 45 Rn. 6. Die gesetzgeberische Entscheidung, diese Fälle milder zu behandeln, als „normale“ Nötigungen, würde ausgehebelt, wenn neben § 113 StGB auch § 240 StGB anwendbar wäre. Mittlerweile wurde der Strafrahmen von § 113 StGB durch das 44. Strafrechtsänderungsgesetz von 2011BGBl. I 2011 S. 2130. an den Strafrahmen von § 240 StGB angepasst, sodass streng genommen § 113 StGB keine Privilegierung mehr darstellt und dieses Argument für eine Sperrwirkung von § 113 StGB gegenüber § 240 StGB weggefallen ist. Jedoch enthalten § 113 Abs. 3 und Abs. 4 StGB weiterhin besondere Strafausschluss- bzw. Strafmilderungsgründe, die § 240 StGB nicht kennt. Nach einer Ansicht soll daher § 240 StGB zwar zu bejahen, § 113 Abs. 3, Abs. 4 StGB jedoch analog anzuwenden sein.Heger, in: Lackner/Kühl/Heger, § 113 Rn. 26; Rengier, Strafrecht BT II, 25. Aufl. (2024), § 53 Rn. 41; Barton, in: Hilgendorf u.a. (Hrsg.), Handbuch des Strafrechts, Bd. IV, 2019, § 20 Rn. 38. Nach anderer Ansicht sperrt § 113 StGB den Rückgriff auf § 240 StGB auch in diesen Fällen.Dietmeier, in: Matt/Renzikowski-StGB, 2. Aufl. (2020), § 113 Rn. 31; Singelnstein/Puschke, NJW 2011, 3473 (3475).
Tateinheit
Richtet sich dieselbe Drohung gegen mehrere Opfer, liegt Tateinheit nach § 52 StGB vor.
In Bezug auf mehrere Nötigungsmittel, die im Rahmen eines einheitlichen Tatgeschehens eingesetzt werden, kann ebenfalls Tateinheit bestehen.BGH, Beschl. v. 16. April 2024 – 3 StR 1/24.
AufbauschemaNach Rengier, BT II, 25. Aufl. (2024), § 23 Rn. 1a.
Tatbestand
Objektiver Tatbestand
Einfaches Nötigungsmittel
Gewalt oder
Drohung mit einem empfindlichen Übel
Nötigungserfolg: Handlung, Duldung oder Unterlassung
wenn der Sachverhalt dies aufwirft: Kausalität und objektive Zurechnung des Nötigungserfolgs
wenn der Sachverhalt dies aufwirft: kein tatbestandsausschließendes Einverständnis
Subjektiver Tatbestand
Rechtswidrigkeit
Fehlen allgemeiner Rechtfertigungsgründe (insb. §§ 32, 34 StGB)
Verwerflichkeitsprüfung nach Abs. 2 (= positive Feststellung der Rechtswidrigkeit)
Schuld
Strafzumessung: Besonders schwerer Fall nach § 240 Abs. 4 StGB
Prozessuales / Wissen für die Zweite Juristische Prüfung
Die Nötigung ist ein Offizialdelikt, d. h. sie wird von Amts wegen verfolgt. Für das zweite Staatsexamen ist insbesondere die Konstellation der „Nötigung im Straßenverkehr“ relevant (→ Rn. 21).
Nach § 154c Abs. 1 StPO kann die Staatsanwaltschaft bei einer Nötigung durch die Drohung, eine Straftat zu offenbaren, von der Verfolgung des Opfers in Bezug auf die Tat, deren Offenbarung angedroht ist, absehen, wenn nicht wegen der Schwere der Tat die Verfolgung unerlässlich ist. Gleiches gilt nach Abs. 2, wenn das Opfer einer Nötigung die Nötigung anzeigt und wenn hierdurch ein vom Opfer begangenes Vergehen bekannt wird.
Studienliteratur und Übungsfälle
Studienliteratur
Geppert, Die Nötigung (§ 240 StGB), Jura 2006, 31
Herzberg, Noch einmal – zum Gewaltbegriff in § 240 StGB und zu seiner subjektiv-historischen Auslegung, JuS 1997, 1067
Jakobs, Unorthodoxe Bemerkungen zum objektiven Tatbestand der Nötigung, JuS 2017, 92
Rönnau, Grundwissen – Strafrecht: Klimaaktivismus und ziviler Ungehorsam, JuS 2023, 112
Swoboda, Grundwissen – Strafrecht: Der Gewaltbegriff, JuS 2008, 862
Übungsfälle
Esser/Rochner, Zwischenprüfungsklausur Strafrecht: „Handy und Bier“, ZJS 2023, 87
Pschorr/Blaschke, Fortgeschrittenenhausarbeit: Die Blockierer von der A81, ZJS 2023, 320
Rönnau/Saathof, Referendarexamensklausur – Strafrecht: Grenzen von Klimaprotesten, JuS 2023, 4395