Die praktische Bedeutung von § 216 StGB ist sehr gering,
Rechtsgut und Deliktsstruktur
§ 216 StGB schützt das Leben, selbst wenn das Opfer in die eigene Tötung eingewilligt hat. Die Einwilligung hat hier nur strafmildernde und nicht wie üblich rechtfertigende und damit strafbefreiende Wirkung. § 216 StGB bringt damit zum Ausdruck, dass über das Rechtsgut Leben grundsätzlich nicht verfügt werden kann (sog. Einwilligungssperre). Dieser absolute Lebensschutz, der u. a. mit dem Schutz vor Missbrauch und vor Übereilung gerechtfertigt wird,
Wie bei § 211 StGB (→ § 2 Rn. 113 ff.) ist auch bei § 216 StGB zwischen der Literatur und der Rechtsprechung umstritten, ob der Tatbestand eine Privilegierung zu § 212 StGB darstellt oder ein eigenständiges Delikt. Man ist sich jedoch darüber einig, dass § 216 StGB eine Sperrwirkung gegenüber den §§ 211, 212 StGB entfaltet (→ Rn. 23).
Objektiver Tatbestand
Taterfolg
§ 216 StGB setzt, wie § 212 StGB, den kausal und objektiv zurechenbar verursachten Tod einer anderen Person voraus. Hier muss man unter Umständen zunächst abgrenzen, ob eine (grds. strafbare) Fremdtötung oder lediglich eine (straflose) Teilnahme an einem eigenverantwortlichen Suizid vorliegt (→ § 4 Rn. 20 ff.), bevor die weiteren Tatbestandsmerkmale geprüft werden.
Ausdrückliches und ernstliches Verlangen
Der Tatbestand fordert sodann ein „ausdrückliches und ernstliches Verlangen“ des Getöteten.
„Verlangen“ setzt voraus, dass der Getötete auf den Willen des Täters einwirkt und ist daher mehr als eine bloße Einwilligung.
Zum Zeitpunkt der Tötung muss das Verlangen noch bestehen und sich auf den Täter beziehen. Die von ihm gewählte Tötungsmethode darf nicht wesentlich vom Verlangen abweichen.
Das Verlangen ist „ausdrücklich“, wenn es eindeutig und unmissverständlich ist, und „ernstlich“, wenn es vom freiverantwortlichen Willen des Opfers getragen wird, das die Bedeutung seiner Entscheidung erkennt.
Wesentliche Willensmängel (auch infolge von Irrtümern oder Täuschungen) schließen die Ernstlichkeit aus. In der Klausurprüfung kann man sich an den Kriterien für die Wirksamkeit der Einwilligung orientieren.
Weiterführendes Wissen: In der Praxis entsteht ein Sterbewunsch häufig bei Patienten, die an schweren Krankheiten leiden. Krankheiten können dazu führen, dass die Freiverantwortlichkeit des Sterbewunsches (die „Ernstlichkeit“) ausgeschlossen ist. Das ist aber keineswegs pauschal der Fall, sondern muss stets im Einzelfall unter sorgfältiger Auswertung aller Angaben des Sachverhalts entschieden werden.
Beispiel: Akute Schmerzen schließen die Ernstlichkeit nicht pauschal aus. Äußert eine Patientin aber zwischen zwei epileptischen Anfällen unter dem Eindruck der Krankheit im Rahmen einer „depressiven Augenblicksstimmung“ erstmalig einen Todeswunsch, reicht dies für die Ernstlichkeit des Verlangens nicht aus.
Bestimmtsein
Der Täter muss vom Opfer zu seiner Tat „bestimmt“ worden sein.
„Bestimmt“ bedeutet, dass der Tötungswunsch des Opfers für den Täter handlungsleitend gewesen sein muss.
Der Tötungswunsch des Opfers darf also nicht lediglich ein untergeordnetes Motiv in einem Motivbündel sein. In der Klausurprüfung kann man sich an den Grundsätzen der Anstiftung (§ 26 StGB) orientieren.
Klausurhinweis: An dieser Stelle kann sich entscheiden, ob eine Tötung unter § 211 StGB oder unter § 216 StGB fällt. Liegen beim Täter neben dem Motiv, dem Tötungswunsch des Opfers zu entsprechen, (möglicherweise) auch subjektive Mordmerkmale vor, muss sorgfältig geprüft werden, welches Motiv handlungsleitend ist. Praktisch relevant geworden ist diese Abgrenzung beispielsweise in Fällen von einverständlichem Kannibalismus.
Subjektiver Tatbestand
Vorsatz
Der Täter muss alle Merkmale des Tatbestandes – die Tötung sowie alle privilegierenden Umstände – in seinen Vorsatz aufgenommen haben. Irrt der Täter über privilegierende Merkmale, indem er zB nicht weiß, dass der Getötete seinen Tod ernsthaft verlangt hat, sind die §§ 212, 211 StGB zu prüfen. Bei dieser Prüfung ist dann zu beachten, dass die (mögliche) Einwilligung des Getöteten gerade nicht rechtfertigend wirken kann (s. unten → Rn. 15).
Sonderfall: § 16 Abs. 2 StGB
Stellt sich der Täter nur vor, dass der Getötete seinen Tod ernstlich verlangt hat, obwohl dies tatsächlich nicht der Fall ist, greift § 16 Abs. 2 StGB ein. Das bedeutet, dass der Täter bei einem entsprechenden Irrtum nur nach § 216 StGB und nicht nach den §§ 211, 212 StGB bestraft werden kann. Entscheidend ist dafür, wie auch bei § 16 Abs. 1 StGB, dass der Täter über tatsächliche Umstände irrt bzw. deren rechtlich-sozialen Bedeutungsgehalt (sog. „Parallelwertung in der Laiensphäre“) nicht richtig erfasst.
Beispiel: A tötet B, nachdem B sie mehrfach über einen längeren Zeitraum klar und deutlich dazu aufgefordert hat. A weiß aber nicht, dass B an einer Krankheit leidet, die die Freiverantwortlichkeit ihres Entschlusses ausschließt und denkt daher, dass ihr Entschluss auf einem freiverantwortlichen Willen beruht. § 16 Abs. 2 StGB greift zugunsten von A ein.
Klausurhinweis: In der Falllösung gibt es mehrere Möglichkeiten, diese selten anzutreffende Irrtumskonstellation aufzubauen. Eine davon ist es, §§ 212 Abs. 1, 216 Abs. 1 StGB direkt gemeinsam prüfen und im objektiven Tatbestand darzulegen, dass die Voraussetzungen von § 212 Abs. 1 StGB vorliegen, nicht aber die von § 216 Abs. 1 StGB. Sodann geht man im subjektiven Tatbestand erst allgemein auf den Tötungsvorsatz ein und zeigt dann auf, dass sich der Täter die Merkmale des § 216 Abs. 1 StGB vorgestellt hat, weshalb nach § 16 Abs. 2 StGB nur eine Bestrafung nach § 216 Abs. 1 StGB und nicht nach § 212 Abs. 1 StGB erfolgen kann.
Rechtswidrigkeit und Schuld
Die Einwilligung des Getöteten wird bereits in der stärkeren Form des „Verlangens“ auf Tatbestandsebene berücksichtigt und kann dementsprechend bei § 216 StGB und den Tötungsdelikten allgemein nicht „zusätzlich“ rechtfertigend wirken. § 216 StGB ist vielmehr eine „Einwilligungssperre“, die auch für andere Tatbestände (zB §§ 223 ff. StGB, → § 7 Rn. 56) die Grenzen der Möglichkeit zur Einwilligung markiert.
Besonderheiten ergeben sich allerdings bei der Sterbehilfe (→ § 4).
Täterschaft und Teilnahme
Das „Bestimmtsein“ ist nach hL ein besonderes persönliches Merkmal nach § 28 Abs. 2 StGB.
Achtung: Auch hier wird der Streit zwischen Rechtsprechung und Literatur über das Verhältnis der Tötungsdelikte untereinander (Qualifikation/Privilegierung oder eigenständige Tatbestände?) relevant, s. dazu → § 2 Rn. 113 ff.
Versuch
Wird § 216 StGB nur versucht (strafbar nach § 216 Abs. 2 StGB), so kann es sein, dass durch den Versuch schon eine Körperverletzung (§ 223 StGB) vollendet wurde. Die Einwilligung in die Tötung beinhaltet dabei nach hM zwar die Einwilligung in die Körperverletzung, sie ist jedoch gem. § 228 StGB wegen des Tötungszwecks sittenwidrig und wirkt daher auch im Rahmen der §§ 223 ff. StGB nicht rechtfertigend.
Ein besonderes Problem liegt vor, wenn nicht nur § 223 StGB vollendet wurde, sondern sogar § 224 StGB und/oder § 226 StGB.
Beispiel: A verabreicht B auf deren ausdrückliches und ernstliches Verlangen hin ein Gift (§ 224 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 StGB). Wider Erwarten wirkt das Gift nicht tödlich (daher „nur“ § 216 Abs. 2 StGB), führt aber zu einer dauerhaften Lähmung von B (§ 226 Abs. 1 Nr. 3 StGB).
§ 224 StGB und § 226 StGB haben einen höheren Strafrahmen (Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zehn Jahren, bei § 226 Abs. 2 StGB nicht unter drei Jahren) als § 216 StGB (Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahre). Der Täter würde deshalb bei einer „missglückten“ Tötung auf Verlangen schwerer bestraft, als wenn das Opfer gestorben wäre, obwohl er grundsätzlich im Falle eines Versuchs nicht schlechter stehen sollte als bei der Vollendung.
Konkurrenzen
Wird § 216 StGB vollendet, verdrängt das die gleichzeitig mitverwirklichten Körperverletzungsdelikte. Zum Verhältnis von § 216 Abs. 2 StGB (Versuch) zu den §§ 223 ff. StGB s. bereits oben → Rn. 19 ff.
Wie bei § 211 StGB ist auch bei § 216 StGB zwischen der Literatur und der Rechtsprechung umstritten, ob der Tatbestand eine Privilegierung zu § 212 StGB (Lit.) darstellt oder ein eigenständiges Delikt (Rspr.). Nach beiden Ansichten schließt aber die Verwirklichung von § 216 StGB eine Strafbarkeit nach den §§ 211, 212 StGB aus. Liegen die Voraussetzungen des § 216 StGB vor, sperrt die Privilegierung also auch eine Verurteilung wegen Mordes, selbst wenn tatbezogene Mordmerkmale vorliegen. Gleiches gilt, wenn sich der Täter entsprechend § 16 Abs. 2 StGB nur vorstellt, § 216 StGB zu verwirklichen (s. → Rn. 13). Liegen subjektive Mordmerkmale vor, kommt es darauf an, welches Motiv handlungsleitend war (s. dazu bereits oben → Rn. 9 f.).
Aufbauschema
Ob § 212 StGB zunächst separat geprüft oder die Prüfung direkt mit § 216 StGB verknüpft wird, ist abhängig von der Fallgestaltung und den eigenen Präferenzen. Gleiches gilt für die Frage, ob zuerst im Rahmen von § 211 StGB auf mögliche Mordmerkmale eingegangen oder dies nach der Prüfung von § 216 StGB mit Verweis auf dessen Sperrwirkung knapp verneint wird.
Im Übrigen ergibt sich folgendes Aufbauschema:
Tatbestand
Objektiver Tatbestand
Tötung eines anderen Menschen (ggf. Abgrenzung Fremd- und Selbsttötung)
Ernstliches & ausdrückliches Verlangen
Bestimmtsein
Subjektiver Tatbestand
Vorsatz
ggf. § 16 Abs. 2 StGB
Rechtswidrigkeit & Schuld
Prozessuales / Wissen für die Zweite Juristische Prüfung
Bemerkenswert ist, dass in den wenigen veröffentlichten Verurteilungen oft ganz auf eine Strafe verzichtet wird,
Studienliteratur und Übungsfälle
Studienliteratur
Bechtel, Selbsttötung, Fremdtötung, Tötung auf Verlangen. Eine Abgrenzungsfrage von herausragender Bedeutung, JuS 2016, 882
Übungsfälle
Höffler/Kaspar, Examinatorium im Schwerpunkt Strafrecht, 2. Aufl. (2021), Fall 11, S. 233
Kühl/Kneba, Zwei Ungleiche Söhne, JA 2011, 426
Lorenz/Heidemann, Düstere Zukunft, JA 2020, 836