§ 5 Demokratieprinzip
Autor:innen: Valentina Chiofalo, David Hug Louisa Linke, Hagen Lohmann, Lasse Ramson, Julian Seidl, Patrick Vrielmann, Jan-Louis Wiedmann
Als zweites Staatsstrukturprinzip soll im Folgenden das Demokratieprinzip näher behandelt werden. Das Demokratieprinzip ist gemeinsam mit dem Rechtsstaatsprinzip sicher das klausurrelevanteste der Prinzipien und sollte von allen Studierenden sicher beherrscht werden. Dass Deutschland ein demokratischer Staat ist, wird unmittelbar in Art. 20 I GG festgelegt. In der Verfassung gibt es zusätzlich unterschiedliche Konkretisierungen, die das demokratische Prinzip näher ausgestalten. Besondere Relevanz haben dabei Art. 20 II, Art. 21 und Art. 38 I GG.
Davon ausgehend, beginnt dieses Lehrbuch mit den ersten prägnanten Konkretisierungen des Demokratieprinzips durch Art. 20 II GG:
dem Prinzip der Volkssouveränität, wonach alle Staatsgewalt gem. Art. 20 II 1 GG vom Volk ausgeht und
der Spezifizierung über Art. 20 II 2. Demnach wird die Staatsgewalt im Zuge von Wahlen von den demokratisch legitimierten Organen der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt (Exekutive) und der Rechtsprechung (Judikative) ausgeübt (repräsentative und mittelbare Demokratie). Die Anforderungen an den Wahlvorgang als solchen sind überwiegend in Art. 38 I 1 GG verankert.
Gleichzeitig werden gem. Art. 20 II 2 GG Abstimmungen als direkt demokratisches Element ermöglicht. Dabei wird bei Wahlen über Personalentscheidungen, bei Abstimmungen hingegen über Sachfragen entschieden.
Nachdem demokratische Vertreter:innen im Sinne der im Grundgesetz festgesetzten Grundsätze gewählt wurden, steht die Volksvertretung im Spannungsverhältnis zwischen dem Mehrheitsprinzip (Art. 42 II GG) und parlamentarischem Minderheitenschutz. Um die Funktionsfähig des Bundestags zu gewährleisten, sind Mehrheitsentscheidungen im demokratischen Willensbildungsprozess notwendig. Gleichzeitig muss über den parlamentarischen Minderheitenschutz die Minderheit (Opposition) grundsätzlich die Möglichkeit haben, selbst die irgendwann die Mehrheit zu stellen. Nach der Wesentlichkeitstheorie beziehungsweise nach dem Parlamentsvorbehalt müssen alle „wesentlichen“ Entscheidungen im Parlament entschieden werden und können nicht an die Exekutive ausgelagert werden.
Innerhalb des demokratischen Willensbildungsprozesses stellen politische Parteien ein verfassungsrechtlich notwendiges Instrument dar. Das Grundgesetz erkannt ihnen den Rang einer verfassungsrechtlichen Institution zu, allerdings stellen sie kein Verfassungsorgan dar. Sie bilden vielmehr Gruppen, die in die institutionalisierte Staatlichkeit hineinwirken. Rechtlicher Anknüpfungspunkt der politischen Parteien ist Art. 21 GG, der deutlich macht, dass die Demokratie des Grundgesetzes als Parteiendemokratie zu begreifen ist.
Um die Ausübung von Mandatsbefugnissen zu erleichtern, schließen sich die Abgeordneten zu Fraktionen zusammen. Zahlreiche Rechtspositionen in der GOBT knüpfen an den Fraktionsstatus an. Dabei leiten die Fraktionen ihre Rechtsstellung aus den Rechten der einzelnen Abgeordneten (Art. 38 I 2 GG) her, von den politischen Parteien sind sie rechtlich unabhängig.
Zum Schluss wendet sich das Kapitel dem sogenannten Recht auf Demokratie zu, welches vom BVerfG aus Art. 38 I 1 GG abgeleitet wird.
§ 5.1 Prinzip der Volkssouveränität
Notwendiges Vorwissen: Demokratieprinzip
Lernziel: Volkssouveränität als Ausgestaltung des Demokratieprinzips und die einschlägigen Problemschwerpunkte verstehen; zusätzlich Grundzüge der Beleihung im Kontext der Legitimationsketten kennenlernen
Das Prinzip der Volkssouveränität aus Art. 20 II 1 GG füllt das Staatsstrukturprinzip der Demokratie (Art. 20 I, II GG) mit Leben aus und legt fest, dass „alle Staatsgewalt vom Volk“ ausgeht. Demnach ist Anknüpfungspunkt aller staatlicher Gewalt immer das Volk, das mithin über sich selbst herrscht. Daraus kann allerdings nicht geschlussfolgert werden, dass die Verfassung sich vorliegend auf eine unmittelbare und direkte Demokratie festgelegt hat. Vielmehr muss von einer repräsentativen und mittelbaren Demokratie gesprochen werden: Art. 20 II 2 GG spezifiziert nämlich, dass die Volkssouveränität durch Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt (Exekutive) und der Rechtsprechung (Judikative) ausgeübt wird.
Weiterführendes Wissen zum Staatsvolk
Anknüpfungspunkt des Art. 20 II 1 GG ist das „Volk“, das sich nach überwiegender Auffassung auf Grundlage des Art. 116 GG bildet. „Volk“ iSd Art. 20 II GG sind somit alle Deutsche iSd Art. 116 GG. Als Begründung wird einmal der systematische Zusammenhang zwischen der Präambel und Art. 33, 56, 64 II, 116 und 146 GG angeführt, zum anderen die grundlegende Verknüpfung zwischen Rechten und Pflichten, die in einer Demokratie bestehen. Im Ergebnis sollen nur solche Bürger:innen an der demokratischen Legitimation beteiligt sein, die dauerhaft der Gewalt des Staates unterworfen sind - nach h.M. umfasse das nur Staatsbürger:innen. Diese Auslegung des Begriffs des „Volks“, das alle ausländischen Personen, die in Deutschland leben, grundsätzlich vom Bundeswahlrecht ausschließen, stößt mitunter auf Kritik.
Durch Wahlen werden auf Bundesebene die Repräsentant:innen(Abgeordnete) im Bundestag ausgewählt, die dann die Sachentscheidungen stellvertretend für die Bürger:innen treffen. Unter Abstimmungen sind direkt-demokratische Elemente zu verstehen. Die Staatsgewalt vom Volk wird immer nur mittelbar, das heißt durch die Organe der Gesetzgebung (Legislative), der Verwaltung (Exekutive) und der Rechtsprechung (Judikative) ausgeübt.
Weiterführendes Wissen zu paritätisch besetzten Wahllisten
Gleichzeitig ist unter dem Aspekt der paritätisch besetzten Wahllisten eine materiale Perspektive auf Demokratie und Repräsentation zu erwähnen. Strittig ist dabei, anhand welcher Anhaltspunkte die Repräsentation im Bundestag zu bestimmen ist. Das BVerfG folgt in Bezug auf die Wahlrechtsgrundsätze und die Repräsentation einem streng formalen Verständnis: „Der Grundsatz der Gleichheit der Wahl gebietet, dass alle Staatsbürger das aktive und passive Wahlrecht möglichst in formal gleicher Weise ausüben können. Er ist im Sinne einer strengen und formalen Gleichheit zu verstehen“. Nach einer streng formalen Auslegung der Gleichheit der Wahl sind Quotierungen von Wahllisten nicht möglich.
Diesem Verständnis wird teilweise entgegengebracht, dass eine formale Gleichheit als Maßstab für die Gleichberechtigung der Geschlechter unzureichend sei. Ganz grundsätzlich wird durch eine materiale Perspektive auf Gleichberechtigung ein Instrument geschaffen, dass nach strukturellen Ursachen für die anhaltende Ungleichheit sucht. Dabei nutzt das BVerfG in seinen Entscheidungen zur Gleichberechtigung der Geschlechter gemäß Art. 3 II und III GG regelmäßig eine materiale Gleichheitsperspektive.
Eine solche materiale Perspektive des Art. 3 II muss auch bei der Frage nach einer paritätischen Wahlrechtsreform mitgedacht werden. Ausgangspunkt ist die Volkssouveränität: Wenn alle Bürger:innen an der demokratischen Willensbildung mitwirken und die Teilhabe frei und gleichberechtigt gestaltet sein soll, dann bedarf es für die gleichberechtigte Teilhabe an der Herrschaftsausübung einer gleichberechtigten Präsenz von Frauen in den Parlamenten.
Bereits eingeführte Partitätsgesetze wurden allerdings von den jeweiligen Landesverfassungsgerichten (Thüringen und Brandenburg) für verfassungswidrig erklärt. In Bayern wurde eine Popularklage abgewiesen, die die Einführung eines Paritätsgesetzes in Bayern für Landtags- und Kommunalwahlen begehrte. Das BVerfG hat sich in materieller Hinsicht noch nicht mit Paritäts-Regelungen befasst, sondern nur festgestellt, dass eine Verpflichtung zum Erlass solcher Regelungen nicht besteht.
Um der Volkssouveränität als Rechtsprinzip mehr Konturen zu verleihen, kann die demokratischen Legitimation der Organe anhand von Legitimationsketten betrachtet oder die zeitliche Dimension unter dem Stichwort der Periodizität der Wahl untersucht werden.
Demokratische Legitimation der Organe
Teil der Volkssouveränität ist, dass alle staatliche Gewalt auf den Volkswillen zurückzuführen ist. Somit muss bei jedem staatlichen Akt ein demokratischer Legitimationszusammenhang zwischen Volk und staatlicher Gewalt bestehen: Nur, wenn in personeller und/oder sachlich- inhaltlicher Hinsicht die Legitimation auf das Volk zurückzuführen ist, kann von einem effektiven Einfluss des Volks auf die Staatsgewalt gesprochen werden (Legitimationsniveau). Die Entscheidung des Grundgesetzes hin zur repräsentativen Demokratie hat demnach nicht nur Auswirkungen für die Staatsform, sondern auch für die Regierungsform. Davon abzugrenzen ist die funktionelle (oder institutionelle) Legitimation.
Allgemeine Anforderungen
Personelle und sachlich- inhaltliche Legitimation
Laut BVerfG ist in „personeller Hinsicht eine hoheitliche Entscheidung legitimiert, wenn sich die Bestellung desjenigen, der sie trifft, durch eine ununterbrochene Legitimationskette auf das Staatsvolk zurückführen lässt.“ Demnach müssen alle Organe und Vertretungen, die Staatsgewalt ausüben, personell legitimiert sein. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Personenauswahl immer unmittelbar auf das Volk durch Wahlen zurückgeführt werden muss – unmittelbar demokratisch legitimiert ist alleine das Parlament. Vielmehr müssen die Personen, die staatliche Handlungen ausführen, über die personelle Legitimationskette nachvollzogen werden können. Dabei ist ebenso notwendig, dass im organisationsrechtlichem und funktionsrechtlichem Sinne die jeweilige Funktion (Aufgabe) klar bestimmt ist.
Beispiel: Die Ernennung eines:einer Beamt:in erfolgt durch die Übergabe einer Ernennungsurkunde (siehe § 8 II 1 BeamtStG, § 10 II 1 BBG)
Die Ernennung erfolgt durch eine:n Vorgesetze:n, der:die ebenso ernannt wurde;
die Ernennungs„kette“ kann bis zum:zur zuständigen Bundesminister:in zurückverfolgt werden;
der:die Bundesminister:in wurde selbst auf Vorschlag des:der Bundeskanzler:in eingesetzt (Art. 64 I GG);
der:die Bundeskanzler:in wurde gem. Art. 63 GG vom Bundestag gewählt;
der Bundestag wird nach der Wahl gem. Art. 38 I 1 GG gebildet und ist somit auf das Volk zurückzuführen.
→ Somit kann die personelle Legitimationskette nachvollzogen werden.
Die sachlich-inhaltliche Legitimation liegt vor, wenn das Volk auf den Inhalt der Ausübung der Staatsgewalt hinreichenden Einfluss hat. Dabei kann auf zwei Elemente abgestellt werden: Zum einen wird über eine Gesetzesbindung eine sachlich- inhaltliche Legitimation vermittelt, da Gesetze durch das vom Volk direkt gewählte Parlament einen ausreichenden Einfluss gewährleisten. Zum anderen kann die sachlich- inhaltliche Legitimation über die Bindung an Aufträge und Weisungender Regierung vermittelt werden.
Legitimationsniveau
Insgesamt soll über die sachlich-inhaltliche und die personelle Legitimation sichergestellt werden, dass dem Volk genug Einfluss auf die Ausgestaltung der Staatsgewalt zugesprochen wird. Die Effektivität der demokratischen Legitimation in Bezug auf das staatliche Handeln wird oft als Legitimationsniveau bezeichnet.
Dabei stehen die personelle und sachlich- inhaltliche Legitimation derart „in einem wechselbezüglichen Verhältnis, dass eine verminderte Legitimation über den einen Strang durch verstärkte Legitimation über den anderen ausgeglichen werden kann, sofern insgesamt ein bestimmtes Legitimationsniveau erreicht wird.“ Es muss allerdings beachtet werden, dass das vollumfassende Legitimationsniveau umso höher sein muss, je intensiver Grundrechte berührt werden.
Insgesamt kann eine schwächere sachlich-inhaltliche Legitimation durchaus durch eine starke personelle Legitimation ausgeglichen werden (und umgekehrt). Ob sich ein Legitimationsstrang durch den anderen auch vollkommen ersetzen lassen kann, ist allerdings strittig. Allgemein wird eine vollständige Ersetzung jedoch abgelehnt. Eine personell legitimierte hoheitliche Entscheidung ohne jegliche sachliche Eingrenzung widerspricht dem grundlegenden Verständnis der zweigliedrigen Legitimation. Selbst wenn man diese Möglichkeit allerdings grundsätzlich für möglich hält, wird bei der Ausführung öffentlicher Aufgaben ein Großteil derart verfassungsrechtlich determiniert sein, dass die Anforderungen an das Legitimationsniveau grundsätzlich so hoch sind, dass es nicht über einen einzigen Strang erreicht werden könnte.
Funktionelle (oder institutionelle) Legitimation
Häufig wird die funktionelle (oder auch institutionelle) Legitimation im Zusammenhang mit der personellen und sachlichen Legitimation erwähnt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Frage nach der funktionellen Legitimation auf einer anderen Ebene gestellt wird: Es geht nicht unmittelbar darum, die Ausübung von Staatsgewalt auf das Volk zurückzuführen, sondern das Verhältnis der einzelnen Gewalten untereinander zu beschreiben. Als einziges direkt demokratisch legitimiertes Organ hebt sich das Parlament (Legislative) durchaus von der Exekutive und Judikative ab – trotzdem üben aber eben auch die Exekutive und Judikative Hoheitsrechte im umfassenden Maße aus. Dabei legt die Verfassung genau fest, welche Aufgaben der Exekutive und Judikative zugewiesen werden, um die fehlende direkte personelle Legitimation auszugleichen. Die funktionelle Legitimation beschreibt mithin die Gewaltenteilung und die damit einhergehende Funktionsteilung der Organe.
Privatisierung und Beleihung
Allgemeine Ausführungen
Ein besonderes Problem innerhalb der Frage nach der ununterbrochenen Legitimation kann unter dem Stichwort der Privatisierungzusammengefasst werden. Es ist mithin grundsätzlich möglich, dass öffentliche Aufgaben durch private Akteur:innen erfüllt werden. Jedoch kann dadurch sowohl die personelle, wie auch die sachlich-inhaltliche Legitimation gefährdet sein.
Der Begriff der öffentlichen Aufgabe ist in Art. 30 GG verankert: Eine öffentliche Aufgabe ist eine solche, deren Erfüllung – durch den Staat oder Private – im öffentlichen Interesse liegt. Dabei hat der Staat kein Monopol auf die Förderung des öffentlichen Gemeinwohls. Prinzipiell steht es dem Gesetzgeber frei, zu entscheiden, wie die staatliche Aufgabenwahrnehmung durchgeführt wird. So sei es „Sache des gesetzgeberischem Ermessens, zu entscheiden, welche dieser Aufgaben der Staat nicht durch seine Behörden, sondern durch eigens gegründete öffentlich-rechtliche Anstalten oder Körperschaften erfüllt“. Damit wird grundsätzlich die Möglichkeit eröffnet, die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben an Private (juristische oder natürliche Personen) zu übertragen.
Allgemein kann die Privatisierung in drei unterschiedliche Formeneingeteilt werden: die materielle, die formelle und die funktionale Privatisierung.
Formen der Privatisierung:
Weiterführendes Wissen
Formelle Privatisierung: Ein Unternehmen wird gegründet, bleibt aber in staatlicher Hand; ein Verwaltungsträger übernimmt die öffentlich-rechtliche Aufgabe; Beispiel: die Autobahn.
Funktionale Privatisierung: Der Staat bedient sich Privater zur Aufgabenerfüllung – häufig in Form der Beleihung.
Materielle Privatisierung: Die weiteste Form der Privatisierung; die Aufgabe wird vollkommen aus der Hand gegeben; Beispiel: das Telefonnetz.
Grenzen der Privatisierung
Unstrittig ist, dass es einen gewissen Bereich hoheitlicher Aufgabengibt, dem sich der Staat nicht durch Privatisierung entledigen darf. Das ergibt sich bereits aus dem Gewaltmonopol des Staates.
Hoheitliche Aufgaben
Die privatrechtliche Ausführung von öffentlichen Aufgaben muss von der Erfüllung hoheitlicher Aufgaben abgegrenzt werden: Hoheitliche Aufgaben sind solche Tätigkeiten, die dem Staat kraft öffentlichem Recht zugeschrieben werden.
Beispiel: Laut dem OLG Frankfurt stellen beispielsweise sowohl die Organisation und Überwachung des ruhenden Verkehrs, wie auch die Ahndung und Durchsetzung von Regelverstößen durch Verwarn- und Bußgelder hoheitliche Aufgaben dar.
Weiterführendes Wissen
Die Regelung und Organisation des Verkehrs steht unter dem staatlichen Organisationsmonopol und die daran angeknüpfte Sanktionierbarkeit unter dem staatlichem Gewaltmonopol - beides ist mithin Teil der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und damit grundsätzlicher Kern der originären Staatsaufgaben. Laut OLG Frankfurt ist „die gesamte Verkehrsüberwachung und - ahndung, unabhängig davon, ob es sich um fließenden oder ruhenden Verkehr handelt, damit Ausfluss des staatlichen Gewaltmonopols, das seine verfassungsrechtliche Grundlage wiederum im Rechtsstaatsprinzip findet“.
Auch hoheitliche Aufgaben können privatisiert werden, dafür ist allerdings eine Ermächtigungsgrundlage nötig.
Beispiel zur fehlenden Ermächtigungsgrundlage: So beschloss das OLG Frankfurt a.M. 2020, dass die Überwachung des ruhenden Verkehrs durch „private Dienstleister“ gesetzeswidrig sei. In der Stadt Frankfurt wurden für die Kontrolle des ruhenden Verkehrs Leiharbeitskräfte eines privaten Dienstleisters eingesetzt. Laut der Argumentation der Stadt Frankfurt liege eine Ermächtigungsgrundlage über das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz vor. Das Gericht erkannte die Ermächtigungsgrundlagen nicht an: Generell sei die Überlassung privater Mitarbeiter nach dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) zur Durchführung hoheitlicher Aufgaben unzulässig. Es sei auch nicht möglich, private Personen nach § 99 HSOG zu Hilfspolizeibeamten zu bestellen. Im Ergebnis dürften die hoheitlichen Aufgaben mangels Ermächtigungsgrundlage nicht durch private Dienstleister durchgeführt werden.
Neben der Frage nach der Ermächtigungsgrundlage gibt das Grundgesetz an unterschiedlichen Stellen vor, wie die Aufgabenwahrnehmung organisiert sein kann:
Gem. Art. 90 II 2 GG kann der Staat zur Betreibung der Autobahn auf eine formelle Privatisierung zurückgreifen, könnte sich aber keiner materiellen Privatisierung bedienen.
Art. 143 b I GG legt fest, dass die Deutsche Bundespost formell privatisiert werden musste (Postbank).
Verfassungsrechtliche Zulässigkeit nach Art. 33 IV GG
Eine darüberhinausgehende Grenze der Privatisierung, die besonders examensrelevant ist, ist Art. 33 IV GG.
Art. 33 IV GG besagt, dass die Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse als ständige Aufgabe in der Regel Angehörigen des öffentlichen Dienstes zu übertragen ist, die in einem öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis stehen. Dadurch sollen die Bürger:innen, die durch die hoheitliche Aufgabenwahrnehmung in den eigenen Grundrechten beschränkt werden können (z.B. im Maßregelvollzug), geschützt werden. Es handelt sich mithin um einen Funktionsvorbehalt – hoheitliche Befugnisse sollen in der Regel durch Beamt:innen ausgeübt werden.
Fallbeispiel
Fall: X ist in einer Maßregelvollzugsklinik untergebracht, die formell privatisiert wurde. Demnach steht hinter der Klinik immer noch eine staatliche Trägerschaft (Landeswohlfahrtverband), die Aufgabe des Maßregelvollzuges wurde durch einen Beleihungsvertrag übertragen. Im Fall der Beleihung bleibt die Leitung der Einrichtungen, die Stellvertretung und die weiteren Ärzt:innen mit Leitungsfunktion Beschäftigte des Landeswohlfahrtverbandes. Ihnen sind die Entscheidungen vorbehalten, die in Grundrechte der Untergebrachten eingreifen. Der Beleihungsvertrag soll sicherstellen, dass in den Maßregelvollzugseinrichtungen jederzeit die zur ordnungsgemäßen Durchführung des Maßregelvollzugs erforderlichen personellen, sachlichen, baulichen und organisatorischen Voraussetzungen gegeben sind. Nach § 5 III HessMVollzG dürfen bei Gefahr im Verzug auch Bedienstete, die nicht Leiter der Einrichtung sind, besondere Sicherungsmaßnahmen vorläufig anordnen. Hiervon ist die Leitung der Einrichtung unverzüglich zu unterrichten. Am 27.4.2021 wurde X durch Pflegekräfte, die auf privatrechtlicher Grundlage beschäftigt sind, in Einschluss genommen. Grund dafür war, dass X einen aggressiven Ausbruch hatte. Die diensthabende Ärztin und der leitende diensthabende Arzt wurden nachträglich informiert. X ist der Meinung, dass die von den privatrechtlich angestellten Pflegekräften durchgeführten Maßnahmen nicht mit seinem Recht aus Art. 2 I GG vereinbar ist.
Kurzlösung: X könnte durch den Einschluss der Pflegekräfte am 27.4.2021 in seinem Recht aus Art. 2 I GG verletzt sein.
1. Schutzbereich Art 2 I GG: Der Schutzbereich des Art. 2 I GG ist eröffnet; der Schutzbereich umfasst jedes menschliche Tun oder Unterlassen
2. Eingriff: Durch die Einschließung wird in Art. 2 I GG eingegriffen
3. Rechtfertigung: Damit der Eingriff in Art. 2 I GG gerechtfertigt sein kann, muss eine (a) verfassungsmäßigen Grundlage für den Eingriff in Art. 2 I GG vorliegen, (b) es darf kein Verstoß gegen Verfassungsrecht vorliegen und (c) auch der konkrete Einzelfall muss einer Verhältnismäßigkeitsprüfung Stand halten
a) Verfassungsmäßigkeit des HessMVollzG: Es gibt keine Hinweise auf eine formelle Verfassungswidrigkeit des Gesetzes, daher ist nur fraglich, ob das HessMVollZG materiell verfassungskonform ist
aa) Vereinbarkeit mit Art. 33 IV GG?
(a) Anwendbarkeit des Art. 33 IV GG auf Privatisierung?Es ist strittig, ob Art. 33 IV GG überhaupt auf die Privatisierung anwendbar ist.
e.A.: Art. 33 IV GG ist nur und erst dann einschlägig, wenn die staatliche Aufgabe von „Angehörigen des öffentlichen Dienstes“ ausgeübt wird; bei materieller oder formeller Privatisierung wird jedoch gerade ein Privater tätig
Argument: Frage der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Privatisierung ergibt sich aus den besonderen Vorschriften des Grundgesetzes (wie z.B. Art. 90 II 2 oder Art. 143 b I GG); daher ist Art. 33 IV GG gerade nicht anwendbar
a.A. (h.M. und BVerfG): Wortlaut des Art. 33 IV GG gibt keinen Anlass, von einer Beschränkung auszugehen; auch Sinn und Zweck spricht dagegen: Regelungsintentionen würden verfehlt, wenn hoheitliche Aufgabenwahrnehmung dem Anwendungsbereich des Art. 33 IV GG dadurch entzogen werden könnte, dass sie Privaten anvertraut wird
→daher: Art. 33 IV GG ist unabhängig von der öffentlich-rechtlichen oder privatrechtlichen Organisation des Aufgabenträgers anzuwenden
(b) Ausübung hoheitlicher Befugnisse?
Wurden hoheitliche Befugnisse i.S.d. Art. 33 IV GG ausgeübt? Jedenfalls dann gegeben, wenn Befugnisse zum Grundrechtseingriff im engeren Sinne ausgeübt werden, die öffentliche Gewalt also durch Befehl oder Zwang unmittelbar beschränkend auf grundrechtlich geschützte Freiheiten einwirkt
→bei § 5 III HessMVollzG gegeben: Pflegekräfte dürfen unter bestimmten Voraussetzungen Grundrechtseingriffen vornehmen
(c) als ständige Aufgabe?
Str.: hoheitliche Befugnis der Pflegekräfte ist nur dann erlaubt, wenn Gefahr im Verzug besteht – somit keine ständige Aufgabe?
Eine solche Auslegung des Merkmals der „ständigen Aufgabe“ ist allerdings abzulehnen – es geht um die Dauerhaftigkeit der Aufgabenübertragung, und nicht um die Häufigkeit der Ausübung. Somit steht Art. 33 IV GG dem HessMVollZG grundsätzlich entgegen
(d) Regel- Ausnahme- Verhältnis des Art. 33 IV GG
Unter gewissen Anforderungen ist eine Ausnahme trotzdem zulässig.
(aa) Abstrakte Darstellung
Wortlaut von Art 33 IV GG: Übertragung der Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse auf Beamt:innen stellt die Regel dar; daraus folgt, dass Art. 33 IV GG Ausnahmen zulässt
Anforderungen an Ausgestaltung: sowohl in quantitativer, wie auch qualitativer Hinsicht muss es sich um eine Ausnahme handeln:
• quantitativ: vorgesehene Regelfall darf nicht zur faktischen Ausnahme werden (grundsätzlich muss Staat die Aufgabe ausführen)
• qualitativ: aber auch qualitative Gesichtspunkte müssen miteinbezogen werden; das heißt es muss betrachtet werden, inwiefern die Ausübung durch Beamt:innen im jeweiligen Fall besonders relevant ist
Außerdem muss ein sachlicher Grund gegeben und die Verhältnismäßigkeit gewahrt sein:
• sachlicher Grund: es muss ein sachlicher Ausnahmegrund angeführt werden; rein fiskalische Argumente reichen dabei nicht aus
• Verhältnismäßigkeit: hohe Anforderungen an die Angemessenheit, da der Vollzug strafrechtlich verhängter Freiheitsentziehungen zum Kernbereich hoheitlicher Tätigkeit gehört und damit genuin hoheitlichen Charakter hat
(bb) Übertragung auf das HessMVollzG
• quantitativ: § 5 III HessMVollzG regelt gerade die Ausnahme – nur dann Grundrechtseingriff möglich, wenn Gefahr im Verzug ist (+)
• qualitativ: Maßregelvollzug besonders grundrechtssensibler Bereich – aber es scheint nicht unbedingt nötig, dass nur Berufsbeamt:innen sich mit der Frage der Einschließung befassen; es ist unerheblich, ob ein:e Ärzt:in in leitender Funktion oder eine besonders ausgebildete Pflegeperson den faktisch alternativlosen Einschluss vornimmt; daher (+)
• sachlicher Grund: gewählte Privatisierung schafft Synergieeffekte und steigert Qualität; staatliche Organisation bleibt erhalten, aber es muss nicht nur auf Beamt:innen in der Aufgabenausführung zurückgegriffen werden (+)
• Verhältnismäßigkeit: die spezifische Ausgestaltung spricht vorliegend für eine Verhältnismäßigkeit; es liegt ein Beleihungsvertrag vor, der eine ordnungsgemäße Durchführung sicherstellt + durch formelle Privatisierung werden kein privatwirtschaftlicher Wettbewerb im Maßregelvollzug gefördert (+)
bb) Ergebnis: Vorschriften des HessMVollzG sind mit Art. 33 IV GG vereinbar
b) Verstoß gegen Art. 20 II 1?: § 5 III HessMVollzG könnte mit Art. 20 II GG unvereinbar sein
aa) Darstellung der Grundsätze der demokratischen Legitimation nach Art. 20 II GG
bb) Prüfung personelle und sachlich- inhaltliche Legitimation
• in personeller Hinsicht ist eine hoheitliche Entscheidung legitimiert, wenn sich die Bestellung desjenigen, der sie trifft, durch eine ununterbrochene Legitimationskette auf das Staatsvolk zurückführen lässt: Leitung blieb in staatlicher Hand, daher ist personelle Legitimation gegeben (+)
• sachlich-inhaltliche Legitimation wird durch Gesetzesbindung und Bindung an Aufträge und Weisungen vermittelt: staatliche Leitung hat Weisungsbefugnisse, daher auch hier (+)
cc) Ergebnis: Die Vorschriften des HessMVollzG verstoßen nicht gegen Art. 20 II GG und somit materiell verfassungskonform.
c) Verfassungsmäßigkeit des Einzelfalls: konkrete Betrachtung des Einzelfalls - Gibt es genügend Anhaltspunkte, die die Befugnisergreifung aus § 5 III HessMVollzG nachvollziehbar machen? Da X aggressiv wurde, kann Gefahr im Verzug angenommen werden. Somit konnten auch Bedienstete, die nicht Leiter der Einrichtung sind, besondere Sicherungsmaßnahmen vorläufig anordnen. X konnte daher gem. § 5 III HessMVollzG eingeschlossen werden
d) Ergebnis: Eingriff ist gerechtfertigt
4. Ergebnis: X wurde durch den Einschluss der Pflegekräfte am 27.4.2021 nicht in seinem Recht aus Art. 2 I GG verletzt.
Periodizität der Wahl
Die oben erläuterte Legitimationskette muss dabei immer auf das Staatsvolk zurückzuführen sein. Das geschieht, indem durch regelmäßige Wahlen die Rückkopplung an die Bürger:innen sichergestellt wird. Dabei kann das Staatsvolk die Legitimation durch Wahlen immer nur für einen spezifischen Zeitraum („Herrschaft auf Zeit“) übertragen. Verfassungsrechtlich verankert ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine vierjährige Legislaturperiode, gem. Art. 39 I 1 GG. Parteiübergreifend wird eine Verlängerung der Legislaturperiode auf fünf Jahre gefordert. Grund sei u.a., dass die langwierige Koalitionsverhandlungen nach den Bundestagswahlen so viel Zeit beanspruche, dass die Funktionsfähigkeit des Parlaments gefährdet sei. Gleichzeitig ist durchaus fraglich, inwiefern eine Verlängerung der Legislaturperiode auf fünf Jahre verfassungsrechtlich möglich wäre.
Eine Verlängerung müsste inhaltlich Art. 79 III GG standhalten – da sie nur mit einer Änderung des Art. 39 I 1 GG umzusetzen wäre. Durch eine vierjährige Frequenz soll ein Ausgleich zwischen der Funktionsfähigkeit des Parlaments und der Legitimation durch das Volk geschaffen werden, wobei die periodische Wiederholung angemessen sein muss. Relevant ist dabei Art. 20 II 1 GG, da in einer repräsentativen Demokratie der Legitimationsakt der Wahl in ausreichend kurzen Abständen erfolgen muss. Ist dieser Abstand zu lange, geht der Legitimationszusammenhang zwischen Abgeordneten und Wähler:innen verloren.
Einigkeit besteht darin, dass die Verlängerung der laufendenLegislaturperiode nicht möglich ist. Das würde dem Grundsatz der „Herrschaft auf Zeit“ widersprechen und ist mit dem Demokratieprinzip gem. Art. 20 I, II GG unvereinbar. In der Klausur wäre eine solche Regelung bezüglich des amtierenden Bundestages somit als Verstoß gegen Art. 79 III GG materiell verfassungswidrig.
Ob eine Verlängerung zukünftiger Parlamente zulässig wäre, ist dagegen durchaus strittig. Zwar werden in 15 von 16 Bundesländern die Landesparlamente alle fünf Jahre gewählt, jedoch ist fraglich, inwiefern das auf die Bundesebene übertragen werden kann. 2008 bestätigte das Verfassungsgericht in Mecklenburg-Vorpommern die Verfassungsmäßigkeit auf Landesebene nach der Verlängerung der Legislaturperiode von vier auf fünf Jahren, es stellte aber gleichzeitig fest, dass zur Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit Quoren und plebiszitäre Elemente relevant sind. Die Verfassung des Landes gebe dem Volk genug Einwirkungsmöglichkeiten, wodurch im Spannungsfeld mit der Effektivität parlamentarischer Arbeit die Legislaturperiode von fünf Jahren jedenfalls durch die plebiszitäre Elemente von einigem Gewicht innerhalb der Verfassung einen vertretbaren Zeitraum darstellen. Es scheint daher durchaus fraglich, inwiefern eine Verlängerung auf Bundesebene, die deutlich weniger direktdemokratische Instrumente aufweist, verfassungskonform wäre. Mithin lässt sich auch argumentieren, dass durch eine Verlängerung die demokratische Legitimation des Bundestags nicht mehr gewährleistet und die Rückkopplung an das Volk nicht mehr gegeben wäre beziehungsweise weitere direktdemokratische Instrumente zum Ausgleich geschaffen werden müssen.
Klausurtaktik
Wenn eine Verlängerung auf über sechs Jahre geplant ist, kann auf keinen Fall mehr von einer Verfassungsmäßigkeit in Hinblick auf Art. 79 III GG gesprochen werden. Bei einer Verlängerung auf fünf Jahre sind alle Ansichten gleichermaßen vertretbar.
Weiterführende Studienliteratur
Maus, Über Volkssouveränität: Elemente einer Demokratietheorie, 2011.
Hofmann, Über Volkssouveränität. Eine begriffliche Sondierung, JZ 2014, 861.
Zusammenfassung: Die wichtigsten Punkte
Jeder Akt der staatlichen Gewalt muss demokratisch legitimiert sein. Nur, wenn in personeller und/oder sachlich- inhaltlicher Hinsicht die Legitimation auf das Volk zurückzuführen ist, kann von einem effektiven Einfluss des Volks auf die Staatsgewalt gesprochen werden (Legitimationsniveau).
In personeller Hinsicht ist eine hoheitliche Entscheidung legitimiert, wenn sich die Bestellung desjenigen, der sie trifft, durch eine ununterbrochene Legitimationskette auf das Staatsvolk zurückführen lässt. Die sachlich-inhaltliche Legitimation liegt vor, wenn das Volk auf den Inhalt der Ausübung der Staatsgewalt hinreichenden Einfluss hat (durch Aufträge/ Weisungen).
Eine schwächere sachlich-inhaltliche Legitimation kann durch eine starke personelle Legitimation ausgeglichen werden (und umgekehrt). Vollkommen ersetzen lässt sich ein Legitimationsstrang durch den anderen allerdings nicht (h.M.).
Fragen der Beleihung/ Privatisierung werden häufig im Rahmen des Legitimationszusammenhangs besprochen. Eine relevante verfassungsrechtliche Grenze ist dabei Art. 33 IV GG.
Die Legitimationskette, die auf das Staatsvolk zurückzuführen ist, muss regelmäßig durch Wahlen sichergestellt werden. Die Legitimation wird dabei immer nur für einen spezifischen Zeitraum übertragen („Herrschaft auf Zeit“). Daher kann die laufende Legislaturperiode niemals verlängert werden.
Ob eine Verlängerung zukünftiger Parlamente zulässig wäre, ist dagegen durchaus strittig. Dabei lassen sich alle Ansichten vertreten, solange die Legislaturperiode nicht auf über sechs Jahre verlängert werden soll.
§ 5.2 Wahlen und Abstimmungen auf Bundesebene
Art. 20 II 2 GG stellt klar, dass die Staatsgewalt im Zuge von Wahlen von den demokratisch legitimierten Organen der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt (Exekutive) und der Rechtsprechung (Judikative) ausgeübt wird (repräsentative Demokratie).
Daneben stehen Abstimmungen als direktdemokratisches Element. Dabei wird bei Wahlen über Personalentscheidungen, bei Abstimmungen hingegen über Sachfragen entschieden.
§ 5.2.1 Wahlen
Notwendiges Vorwissen: Volkssouveränität
Lernziel: Die Wahlrechtsgrundsätze des Art. 38 I 1 GG kennenlernen und einordnen können. Einen Überblick über die Wahlprüfungsbeschwerde gewinnen.
Wenn von „Wahlrecht“ die Rede ist, können damit verschiedene Dimensionen benannt sein: Einerseits ist das Wahlrecht eine subjektive Rechtsposition, also das Recht, zu wählen (aktives Wahlrecht) und gewählt zu werden (passives Wahlrecht). Diese subjektiv-rechtliche Verankerung findet unter dem Grundgesetz ihren Ausdruck in der Möglichkeit, das Wahlrecht aus Art. 38 I 1 GG im Wege der Verfassungsbeschwerde als grundrechtsgleiches Recht geltend zu machen (Art. 93 I Nr. 4a GG).
Daneben hat das Wahlrecht auch objektiv-rechtlichen Charakter. Aus dem Demokratieprinzip und dem Prinzip der Volkssouveränität (Art. 20 I, II GG) folgend konkretisiert Art. 38 I 1 GG für die Wahl des Bundestages die Anforderungen an einen ordnungsgemäßen Vorgang der Bestellung des Parlaments. Dabei bleiben auf verfassungsrechtlicher Ebene diverse Fragen offen, weshalb eine Gesetzgebungskompetenz des Bundes zur näheren Ausgestaltung des Wahlrechts besteht (Art. 38 III GG). Die auf Grundlage dieser Norm erlassenen Gesetze bilden gemeinsam mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben das Wahlrecht im umfassenden Sinne. Die einfach-rechtlichen Normen etablieren ein bestimmtes Wahlsystem, welches wiederum an den verfassungsrechtlichen Vorgaben zu messen ist.
Die objektiv-rechtliche Seite des Wahlrechts in seiner konkreten Anwendung bei der Wahl des Bundestages ist ebenfalls in einem Rechtsschutzverfahren abgebildet, dem Wahlprüfungsverfahren, welches in erster Linie dem Bundestag selbst überantwortet ist (Art. 41 I GG). Im Anschluss an dessen Prüfung kann allerdings in einem besonderen Verfahren, der Wahlprüfungsbeschwerde (Art. 41 II GG), vor das BVerfG gezogen werden.
Beide Dimensionen finden ihren Schwerpunkt in den Wahlrechtsgrundsätzen des Art. 38 I 1 GG, die für wahlrechtliche Fragen von höchster Bedeutung sind.
Zusammenhang von Wahlrecht, Demokratieprinzip und Volkssouveränität
Moderne (rechtsbezogene) Demokratiekonzepte stellen die Mitwirkung der Rechtsunterworfenen an der Setzung des sie betreffenden Rechts in den Mittelpunkt („Betroffenendemokratie“). Die Legitimation der Rechtsetzung ist der zentrale Anspruch solcher Konzepte. Auch das Grundgesetz verfolgt dieses Ziel, wenn es in Art. 20 I GG die demokratische Organisation der Bundesrepublik Deutschland postuliert.
Weiterführendes Wissen
Insofern ist es nur historisch verständlich, dass die außerparlamentarische politische Willensbildung teilweise nur Deutschen als grundrechtlich geschützte Position zugeordnet ist (Art. 8 I, 9 I GG) und in Deutschland lebende Ausländer:innen auf Art. 2 I GG als Auffanggrundrecht verwiesen werden.
Die Kernprozesse demokratischer Legitimation – vor allem die Wahl des Parlaments – sind gemäß Art. 20 II GG dem Volk zugeordnet, nach allgemeinem Verständnis der Gesamtheit der Staatsangehörigen („Bürgerdemokratie“), wobei diese Auslegung umstritten ist.
Weiterführendes Wissen
Damit besteht eine Spannung zwischen Demokratieprinzip und Volkssouveränität. Die Schnittstelle zwischen beiden Konzepten bildet das Staatsangehörigkeitsrecht, welches den praktischen Zugang zu demokratischer Repräsentation steuert. Die gesetzgebenden Institutionen sind daher aufgefordert, das Staatsangehörigkeitsrecht repräsentationsideal auszugestalten: Überbordend hohe Zugangshürden für die Einbürgerung selbst längere Zeit auf dem Staatsgebiet lebender Menschen sind dabei ebenso unzulässig wie ein Einbürgerungsrecht, welches nicht anspruchs-, sondern willkürbasiert ist.
Beispiel: Daraus folgt auch, dass die Einführung eines Ausländer:innenwahlrechts der Konstruktion des Art. 20 II GG widerspricht und daher zumindest im Bund unzulässig ist. Dem Ziel der angemessenen Beteiligung aller Rechtsunterworfenen am demokratischen Prozess ist vielmehr durch ein repräsentationsideales Einbürgerungsrecht Rechnung zu tragen. Die Gesetzgebung für beide Materien liegt beim Bund (Art. 38 III GG für das Wahlrecht, Art. 73 I Nr. 2 GG für das Staatsangehörigkeitsrecht).
Man kann angesichts exterritorialer Wirkungen des deutschen Rechts auch fragen, ob die Anknüpfung an den Aufenthalt im Inland ein sinnvolles Anknüpfungskriterium für die Erlangung der Staatsbürgerschaft ist. Angesichts des nur auf das eigene Territorium bezogenen, theoretisch universellen Geltungsanspruchs des staatlichen Rechts („Souveränität“) ist eine solche Anknüpfung jedenfalls nicht systemwidrig.
Geht es um die inneren Fragen des Wahlrechts, also seiner Ausgestaltung im Rahmen der durch Art. 20 II GG gezogenen Grenzen, spielt nur der Bezug auf das Volk eine Rolle. Der Art. 20 II GG erfordert also ein Wahlrecht, welches dem Volk einen möglichst wirksamen Zugriff auf die Besetzung der staatlichen Institutionen und ihr Wirken – vor allem Rechtssetzung und Rechtsanwendung – ermöglicht.
Da Art. 20 GG von der so genannten „Ewigkeitsklausel“ des Art. 79 III GG umfasst ist, kann die nähere Ausgestaltung des Wahlrechts durch Verfassungsrecht seinerseits verfassungswidrig sein („verfassungswidriges Verfassungsrecht“). Dies ist der Fall, wenn die Ausgestaltung des Wahlrechts den Kern der Volkssouveränität verletzt.
In den Fällen, wo die Ausgestaltung der Volkssouveränität durch weiteres Verfassungsrecht – vor allem Art. 38 GG – sich als mit Art. 20 II GG vereinbar darstellt, können Ausgestaltungen des Wahlrechts im einfachen Recht – das heißt vor allem im BWahlG – wiederum sowohl gegen Art. 38 GG als auch gegen Art. 20 II GG verstoßen. Dabei muss jeweils zwischen Anforderungen unterschieden werden, die unmittelbar aus Art. 20 II GG folgen, und solchen Anforderungen, die sich nur aus Art. 38 GG ergeben.
Internationale Bezüge
Examenswissen: Das Wahlrecht ist leicht dem inneren Organisationsbereich des Staates zuzuordnen, in dem internationale Vorgaben meist nur eine geringe Rolle spielen. Das heißt aber nicht, dass das Internationale Recht keine Vorgaben für die Durchführung der Wahlen im Inland machen würde. Deutschland hat verschiedene internationale Verträge menschenrechtlichen Charakters ratifiziert, die verpflichtende Bestimmungen für die Ausgestaltung des Wahlrechts enthalten.
So verpflichtet etwa Art. 3 des (ersten) Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention Deutschland „to hold free elections at reasonable intervals by secret ballot, under conditions which will ensure the free expression of the opinion of the people in the choice of the legislature.“ Aus dieser Vorschrift scheinen zunächst weniger strenge Anforderungen zu folgen als aus Art. 38 I 1 GG, allerdings gibt es eine umfangreiche Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, welche die Anforderungen der Bestimmung näher ausgestaltet und in Deutschland auch bei der Auslegung und Anwendung des Verfassungsrechts beachtlich ist.
Ähnlich bestimmt Art. 25 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte: „Every citizen shall have the right and the opportunity, without any of the distinctions mentioned in article 2 and without unreasonable restrictions: (a) To take part in the conduct of public affairs, directly or through freely chosen representatives; (b) To vote and to be elected at genuine periodic elections which shall be by universal and equal suffrage and shall be held by secret ballot, guaranteeing the free expression of the will of the electors; […].“ Damit gibt es auch außerhalb des regionalen Regimes der EMRK verbindliches Völkerrecht, welches sich zu innerstaatlichen Wahlen verhält und bei der Ausgestaltung des Wahlrechts zu beachten ist. Die Bedeutung beider Vorschriften ist aufgrund der weitergehenden verfassungsrechtlichen Anforderungen in Deutschland bisher gering geblieben.
Wahlsystem
Zwischen den verschiedenen Wahlsystemtypen (I.) wurde sich in Deutschland für ein Verhältniswahlsystem mit Personenwahlelementen entschieden (II.).
Wahlsysteme
Wahlsysteme sind im Einzelnen so vielfältig wie zu wählende Gremien (selbst die deutschen Landtagswahlsysteme unterscheiden sich zum Teil erheblich), lassen sich aber – trotz der damit verbundenen Ungenauigkeiten – grob in zwei große Gruppen unterteilen: Verhältniswahlsysteme (Proporzsysteme) und Mehrheitswahlsysteme(Majorzsysteme).
Ihnen werden im Allgemeinen verschiedene Vor- und Nachteilezugeschrieben: So begünstigen Mehrheitswahlsysteme in Einerwahlkreisen tendenziell die Herausbildung eines Zwei-Parteien-Systems, welches aufgrund seiner stabilen Mehrheiten nur selten träge Kompromisse nötig macht. Als demokratisch nachteilig wird hingegen wahrgenommen, dass durch das „Winner-Takes-It-All-Prinzip“ ein beträchtlicher Teil der Stimmen „verfällt“ und somit keinen Einfluss auf die Zusammensetzung des Parlaments hat. Dadurch ist auch die angemessene Vertretung gesellschaftlicher Minderheiten nur schwierig möglich. Verhältniswahlsysteme begünstigten die Herausbildung von Mehrparteiensystemen mit einer differenzierten Interessenvertretung im Parlament. Dadurch werden Minderheiten tendenziell besser repräsentiert und im Allgemeinen die politische Pluralität der Bevölkerung besser abgebildet als in Mehrheitswahlsystemen. Nachteilig kann sich auswirken, dass solche Systeme in der Regel die Bildung von mehr oder weniger stabilen Koalitionen aus mehreren Parteien erfordern, deren Arbeitsweise aufgrund der notwendigen Kompromissfindung schwerfälliger ist. Zudem kann es zu Situationen kommen, in denen bestimmte Partikularinteressengruppen Entscheidungen blockieren können.
„Reinformen“ dieser verschiedenen Wahlsystemtypen gibt es praktisch nirgends, und diese Grobkategorisierung verschleiert, dass sich selbst Systeme der gleichen Gruppe im Detail ganz erheblich unterscheiden können. Das Verhältnis des zu wählenden Parlaments zu anderen Staatsorganen (gibt es eine:n direkt gewählte:n Präsidenten:in? Gibt es eine zweite Parlamentskammer? Wie verteilen sich die Kompetenzen?), der Staatsaufbau (föderalistisch/unitarisch?) und weitere bedeutsame Faktoren (Wie werden verschiedene Sprachgruppen oder nationale Minderheiten repräsentiert? Welche Rolle sollte politischen Parteien zukommen?) beeinflussen die konkrete Ausgestaltung des einzelnen Wahlsystems.
Das deutsche Wahlsystem
Die wichtigste Erkenntnis bezüglich des Grundgesetzes lautet, dass weder Art. 20 I, II GG noch Art. 38 I 1 GG ein bestimmtes Wahlsystem vorgeben. Die plurale Demokratie strebt nur nach Repräsentationsidealität – konkrete Anforderungen für das Wahlsystem lassen sich daraus selbst (oder angesichts der Vielfalt gerade) im Systemvergleich mit anderen Demokratien kaum ableiten. Das BVerfG fordert allerdings, dass das Wahlrecht systematisch folgerichtig ausgestaltet sein muss. Das bedeutet, dass die Entscheidung für ein Wahlsystem sich konsequent in den einzelnen Regelungen niederschlagen muss. Dadurch kann tendenziell ein strengerer Maßstab folgen, als er unmittelbar aus den verfassungsrechtlichen Bestimmungen folgen würde.
Beispiel: Die Gleichheit der Wahl verdichtet sich durch die Entscheidung für die Verhältniswahl in der Unterscheidung von Zählwert- und Erfolgswertgleichheit (s.u.). So kommt die Dominanz der Zweitstimme bei der Bundestagswahl zustande: Das Verhältnis der Zweitstimmen muss selbst dann die verhältnismäßige Zusammensetzung des Bundestags vorbestimmen, wenn einer Partei nach gewonnen Wahlkreisen mehr Sitze zuständen, als ihr Zweitstimmenanteil rechtfertigen würde („Überhangmandate“). Die Lösung besteht darin, den anderen Parteien so lange weitere Mandate zuzuteilen, bis das Verhältnis im Ergebnis wieder stimmt („Ausgleichsmandate“).
In Deutschland ist für die Wahl zum Bundestag – durch einfaches Recht, vor allem das Bundeswahlgesetz (BWahlG) und die Bundeswahlordnung (BWO) – im Grunde ein Verhältniswahlrecht etabliert (§ 1 I BWahlG). Das heißt, dass das Verhältnis der für die Parteien abgegebenen Stimmen (Zweitstimmen) grundsätzlich das Verhältnis der Fraktionsstärken im Bundestag festlegt. Daneben hat das Bundestagswahlsystem aber auch ein personales Element: Zusätzlich zur parteibezogenen Zweitstimme können die Wählenden auch eine:n Abgeordnete:n in ihrem jeweiligen Bundestagswahlkreis per (einfacher) Mehrheitswahl bestimmen (Erststimme).
Eine Besonderheit des deutschen Wahlsystems stellt dabei die enge Verknüpfung zwischen Erst- und Zweitstimme und die daraus resultierende Komplexität des Systems dar. In einem Wahlsystem, das vorsieht, dass Abgeordnete sowohl proportional über Listen als auch per Mehrheitswahl in Wahlkreisen gewählt werden können, wäre es denkbar, völlig getrennt voneinander einen bestimmten Anteil der Sitze im Parlament über den einen, den anderen Anteil über den anderen Wahlmodus zu bestimmen (sog. Grabenwahlrecht). Stattdessen hat man sich in Deutschland dazu entschieden, eine Verknüpfung beider Stimmen bei einer Dominanz der Verhältnisstimme vorzunehmen. Deshalb spricht man auch von einer personalisierten Verhältniswahl. Diese Verknüpfung äußert sich darin, dass der Zweitstimmenanteil den Sitzanteil im Bundestag endgültig vorschreibt und von diesem Kontingent zunächst die durch Erstimmenmehrheiten in Wahlkreisen gewonnenen Mandate besetzt werden. Bezüglich der Wahlkreise regelt § 5 BWahlG noch simpel, dass der:die Bewerber:in mit einfacher Stimmenmehrheit das Mandat erlangt. Die Regelung des § 6 BWahlG, der die Sitzverteilung nach der Verhältnisstimme vorschreibt, ist hingegen ob seiner Komplexität inklusive zahlreicher interner und externer Verweise für seine Regelungstechnik berüchtigt. Das liegt auch daran, dass durch das Landeslistensystem eine weitere, föderale Komplexitätsebene eingezogen ist.
Wahlrechtsgrundsätze
Die Anforderungen des Art. 20 II GG werden durch die Wahlrechtsgrundsätze des Art. 38 I 1 GG verdichtet: „Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt.“
Die Wahlrechtsgrundsätze betreffen ihrer Formulierung nach in erster Linie das aktive Wahlrecht. Für das passive Wahlrecht spielen sie allerdings in zum Teil modifizierter Form ebenfalls eine Rolle. Dabei ist zu bedenken, dass im Bereich des passiven Wahlrechts die politischen Parteien durch ihr Monopol auf die Kandidierendenauswahl für die Listenaufstellung eine gewichtigere Rolle haben. In diesem Wahlvorschlagsverfahren gelten die Wahlrechtsgrundsätze nur abgeschwächt und sind zudem mit der Parteienfreiheit des Art. 21 I GG in Einklang zu bringen. Insofern ergeben sich dort häufig andere und in der Tendenz weniger strenge Anforderungen, als das bei der Primärfunktion der Wahlrechtsgrundsätze für das aktive Wahlrecht der Fall ist.
Die Wahlrechtsgrundsätze erscheinen in Art. 38 I GG gleichgewichtig. Es ist allerdings zu bedenken, dass einige der Wahlrechtsgrundsätze schon in Art. 20 II GG notwendig verankert sind, während das bei anderen nicht oder nicht in vollem Umfang der Fall ist und/oder sie der Gewährleistung der so verankerten Grundsätze dienen („dienende Grundsätze“). Dadurch ergibt sich in der Ausgestaltung des einfachen Wahlrechts, die häufig in der Balance gegenläufiger Wahlrechtsgrundsätze besteht, eine Tendenz des höheren Gewichts derjenigen Wahlrechtsgrundsätze, die näher an Art. 20 II GG liegen.
Allgemeinheit
Ein solcher Wahlrechtsgrundsatz ist die Allgemeinheit der Wahl. Dieser Grundsatz gebietet, dass alle Bürger:innen das aktive Wahlrecht innehaben. Das ergibt sich schon aus Art. 20 II GG: Wenn alle Staatsgewalt vom Volke ausgehen soll, kann damit in der modernen Massendemokratie nur das gesamte Volk, also die Gesamtheit der Staatsbürger:innen, gemeint sein. Daraus lassen sich mehrere Schlüsse ziehen: Wahlrechtsausschlüsse sind selbst dann nicht unbedingt zulässig, wenn sie im Verfassungsrecht geregelt sind.
Beispiel: Art. 38 II Var. 1 GG begrenzt das aktive Wahlrecht auf Über-18-Jährige. Das ist kein Eingriffin, sondern eine Ausnahme von Art. 38 I 1 GG auf gleicher rechtlicher Rangebene. Deshalb kommt bezüglich Art. 38 II Var. 1 GG nur ein Verstoß gegen das Prinzip der Volkssouveränität des Art. 20 II GG selbst in Betracht. Die untere Begrenzung der Wahlberechtigung wird in der Rechtsprechung des BVerfG mit knapper Begründung durchgängig als zulässig angesehen.
Weiterführendes Wissen
Das ist nicht überzeugend. Das BVerfG verweist immer wieder auf die Maßstabsformulierung, dass Einschränkungen der Wahlallgemeinheit nur durch zwingende Gründe gerechtfertigt werden können. Ein solcher Grund sei dann gegeben, „wenn bei einer bestimmten Personengruppe davon auszugehen ist, dass die Möglichkeit der Teilnahme am Kommunikationsprozess zwischen Volk und Staatsorganen nicht in hinreichendem Maße besteht.“ Ob sich dieser Schluss bei den Unter-18-Jährigen pauschal aufrechterhalten lässt, ist höchst fragwürdig.
Pauschale Wahlrechtsausschlüsse bestimmter Gruppen im einfachen Recht sind tendenziell unzulässig. Sie können nur durch zwingende Gründe gerechtfertigt werden.
Beispiel: So war es unzulässig, dass das BWahlG bis 2019 die Personengruppen der Betreuten und der wegen Schuldunfähigkeit im Maßregelvollzug befindlichen Personen pauschal vom Wahlrecht ausschloss. Es fehlt hier an einem zwingenden Grund, der gleichermaßen auf alle Angehörigen der betroffenen Gruppe zuträfe.
Die einzige Gruppe, die demnach noch pauschal einfachgesetzlich das aktive Wahlrecht zum deutschen Bundestag nicht besitzt, bilden gemäß § 12 II BWahlG die im Ausland geborenen oder lange Zeit dort lebenden Deutschen (Auslandsdeutschen), die auch keine sonstige enge Verbindung zum Inland haben. Diese Regelung wird unter dem Gesichtspunkt der Teilnahme am öffentlichen Willensbildungsprozess für verfassungsgemäß gehalten. Ob das angesichts der Bedeutung der Staatsbürgerschaft für die Teilnahme an Rechtssystemen überhaupt und den modernen Kommunikationsmöglichkeiten zutrifft, erscheint fraglich.
Ermächtigungen zu individuellen Wahlrechtsausschlüssen können ebenfalls nur durch Gründe erheblichen verfassungsrechtlichen Gewichts gerechtfertigt werden; sie sind im Lichte des Demokratieprinzips restriktiv auszulegen.
Beispiel: Gemäß § 45 V StGB kann, wenn besondere Strafnormen das zulassen, Verurteilten für die Dauer von zwei bis fünf Jahren das aktive Wahlrecht aberkannt werden. Diese besonderen Strafnormen sind vor allem die des staatsschützenden Strafrechts wie etwa Hochverrat und Amtsdelikte. Für das passive Wahlrecht besteht in § 45 II StGB eine ähnliche Regelung. Hier gibt es aber zusätzlich die Besonderheit, dass bei der Verurteilung wegen eines Verbrechens (§ 12 I StGB) zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr gemäß § 45 I StGB kraft Gesetzes für fünf Jahre der Verlust des passiven Wahlrechts eintritt.
Die passive Seite der Allgemeinheit der Wahl unterliegt in mehrerlei Hinsicht weitergehenden Beschränkungen: So erlaubt Art. 137 I GG, die Angehörigen des öffentlichen Dienstes vom passiven Wahlrecht auszuschließen und Art. 38 II Var. 2 GG überlässt die Festlegung des passiven Wahlalters dem einfachen Gesetzgeber, indem die Norm an die Volljährigkeit anknüpft. Auch im Bereich der Teilnahme von Parteien sind bestimmte Beschränkungen, etwa Unterschriftenquoren, möglich und zulässig.
Unmittelbarkeit
Die Unmittelbarkeit der Wahl, die es erfordert, dass ohne Zwischenschritte aus dem Wahlakt die Zusammensetzung des gewählten Gremiums folgt, zählt nicht zu den aus Art. 20 II GG unmittelbar folgenden Wahlrechtsgrundsätzen. Zwar setzt das Erfordernis der Rückbindung der Staatsgewalt an das Volk auch hier Grenzen, ein mehrstufiges Wahlsystem widerspricht aber nicht zwangsläufig dem Demokratieprinzip. Ohne eine Änderung des Art. 38 I GG bleibt natürlich ein mittelbares Wahlrecht für den Bundestag ausgeschlossen.
Beispiel: Eine Listenaufstellung durch Parteien, wie sie das Bundestagswahlsystem vorsieht, ist nur deshalb mit Art. 38 I GG vereinbar, da im Zeitpunkt der Wahl die Listenzusammensetzung unabänderlich feststeht und die Parteien im Nachhinein nicht mehr eingreifen können.
Freiheit
Die Freiheit der Wahl ist schlechthin konstitutiv für eine demokratische Wahl. Schon begrifflich handelt es sich nicht um eine Wahl, wenn der Wahlakt nicht frei erfolgt. Die Freiheit der Wahl wird verstanden als die Notwendigkeit, die Wahlentscheidung frei von äußerem – vor allem staatlichen – Zwang treffen zu können. Offensichtliche Verstöße sind Bestrafungen oder Ächtungen bestimmter Wahlentscheidungen durch staatliche Stellen. Es gibt aber auch Grenzfälle.
Beispiel: Nach verbreiteter Auffassung wäre eine Wahlpflicht als nicht zu rechtfertigender Eingriff in die Freiheit der Wahl (verstanden als negative Freiheit, nicht zu wählen) verfassungswidrig. Andere argumentieren hingegen, die Freiheit der Wahl umfasse schon kein Recht, nicht bewusst eine Wahl treffen zu müssen, weswegen eine Wahlpflicht nur an anderen Positionen wie der Meinungsfreiheit zu messen sei.
Unter bestimmten Umständen ergibt sich aus der Freiheit der Wahl eine Pflicht des Staates, äußeren Zwang durch Dritte abzuwenden.
Beispiel: Der Versuch der Beeinflussung der Wahl durch Drohungen privater Arbeitgeber gegenüber ihren Angestellten ist ein Verstoß gegen die Freiheit der Wahl und staatlich zu sanktionieren.
Aus der Freiheit der Wahl folgt auch, dass es tatsächliche Auswahlmöglichkeiten geben muss, sodass etwa ein Einparteiensystem nicht zulässig wäre. Es ist schlüssig, insoweit weitgehende Pflichten der staatlichen Stellen zur Förderung einer pluralen Öffentlichkeit anzunehmen, um Vereinheitlichungstendenzen vorzubeugen.
Gleichheit
Die Wahlrechtsgleichheit ist der komplizierteste und umstrittenste Wahlrechtsgrundsatz. Das liegt auch daran, dass unklar ist, wie streng die Anforderungen sind, die Art. 20 II GG an die Gleichheit der Wahl stellt. Sicher ist, dass die Gleichheit der Bürger:innen eines der Fundamente moderner rechtsstaatlicher Demokratien ist. Daraus folgt nach Ansicht des BVerfG das Gebot streng formaler Stimmgleichheit: Jeder wahlberechtigte Person hat das gleiche zahlenmäßige Stimmrecht zuzustehen („One person, one vote“ – Zählwertgleichheit). Im Verhältniswahlsystem muss außerdem jede Stimme den gleichen Einfluss auf die Zusammensetzung des Bundestages haben (Erfolgswertgleichheit). Aufgrund der strengen Formalität des wahlrechtlichen Gleichheitssatzes sind Einschränkungen nur aus zwingenden Gründen zulässig.
Beispiel: Den gravierendsten gegenwärtigen Eingriff in die Gleichheit der Wahl stellt die 5%-Hürde des § 6 III 1 Var. 1 BWahlG dar. Durch diese Regelung bleiben bei der Zusammensetzung des Bundestages alle Stimmen für Parteien unberücksichtigt, die nicht mindestens 5% der Zweitstimmen errungen haben. Ein Eingriff in die Zählwertgleichheit ist damit nicht gegeben. Der Eingriff betrifft die Erfolgswertgleichheit, da alle so nicht berücksichtigten Stimmen keinen Einfluss mehr auf die Zusammensetzung des Bundestages und damit keinen Erfolgswert mehr haben. Das BVerfG hält 5%-Hürden bei der Wahl des Bundestages und der Landesparlamente – anders als eine 7,5%-Hürde– für gerechtfertigt. Der für die Rechtfertigung einer Beschränkung notwendige „zwingende Grund“ ergibt sich nach dem BVerfG aus der Sicherung der Funktionsfähigkeit des Parlaments.Hier ist allerdings schon fraglich, ob dazu die 5%-Hürde überhaupt ein geeignetes Mittel darstellt. Das BVerfG stellt in seiner Entscheidung auf ältere Urteile ab, die die 5%-Hürde unter dem Gesichtspunkt der Verhinderung der Zersplitterung der Parteienlandschaft für zulässig gehalten hatten. Der Begriff der Zersplitterung beziehungsweise der Splitterpartei ist in der Rechtsprechung nie vernünftig konturiert wurden und wurde in Folge auch aufgegeben. An seine Stelle ist die „Funktionsfähigkeit“ des zu wählenden Organs getreten. Allerdings bildet auch dieser Begriff keinen hinreichend präzisen Maßstab für eine Vorhersehbarkeit der Rechtsprechung im Bereich der Gleichheit der Wahl. Das zeigt sich auch an den Entscheidungen bezüglich anderer Organe als des Bundestages: Für die Wahlen der deutschen Abgeordneten im Europäischen Parlament hielt das BVerfG zunächst eine 5%-, dann eine 3%-Hürde für verfassungswidrig (dazu auch unten), ebenso wie es bei Kommunalwahlen eine 5%-Hürde ablehnte.
Beispiel: Als Alternative zur 5%-Hürde hat die Grundmandatsklausel des § 6 III 1 Var. 2 BWahlG ebenfalls die Aufmerksamkeit des BVerfG erfordert. Sie regelt, dass solche Parteien, die mindestens drei Direktmandate erringen, ebenfalls an der proportionalen Sitzverteilung nach Zweitstimmen teilnehmen (und damit in der Regel wesentlich mehr Mandate als die drei gewonnenen Direktmandate erhalten). Auch diese Regelung behandelt unterschiedliche Parteien ungleich und stellt damit einen Eingriff in die Wahlrechtsgleichheit dar. Nach Ansicht des BVerfG ist diese Ungleichbehandlung aber gerechtfertigt, da eine Partei mit drei errungenen Direktmandaten ausreichendes politisches Gewicht besitze und die Sicherung der Funktionsfähigkeit des Parlaments als gegenläufige Verfassungsposition auch nicht beeinträchtige. Die Vorschrift hat immer wieder praktische Bedeutung: Bei der Bundestagswahl 2021 erreichte etwa die Partei Die Linke nur 4,9% der Zweitstimmen, gewann aber zwei Berliner und einen Leipziger Wahlkreis, sodass sie wegen der Grundmandatsklausel an der proportionalen Sitzzuteilung teilnahm und so insgesamt 39 Sitze im Bundestag erhielt.
Geheimheit
Die Geheimheit der Wahl ist durch Art. 20 II GG nicht zwingend vorgeschrieben. Vielmehr hat sie dienende Funktion: Die Geheimheit der Wahl dient dazu, die Freiheit der Wahl nach außen hin abzusichern. Indem es die Geheimheit der Wahl verbietet, einen Wahlvorgang zu schaffen, der es den Wählenden ermöglicht, ihre Stimmabgabe Dritten gegenüber zu beweisen, sichert sie die Zwangsfreiheit der Wahl.
Beispiel: Als Problem hat sich bei den letzten Wahlen die ständige Verfügbarkeit von Kameras durch Smartphones gezeigt. Dadurch werden Wählende in die Lage versetzt, ihre Stimmabgabe nach außen zu beweisen. Durch verschiedene Verbote (vgl. § 56 II 2 BWO) und Appelle wird versucht, dem Problem zu begegnen. Hier kann sich nicht darauf zurückgezogen werden, dass die Wählenden ihren Stimmzettel freiwillig zur Schau stellen: Die Geheimheit zielt zum Schutz der Wahlintegrität insgesamt gerade darauf ab, allen Wählenden den Beweis ihrer eigenen Stimmabgabe von vornherein unmöglich zu machen.
Öffentlichkeit
Der Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl ist nicht in Art. 38 I 1 GG enthalten, sondern wurde durch das BVerfG entwickelt und insbesondere in dessen Rechtsprechung zu Wahlgeräten näher ausgestaltet. Diesem Urteil zu Folge gebietet der Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl, dass alle Wählenden „die zentralen Schritte der Wahl ohne besondere technische Vorkenntnisse zuverlässig nachvollziehen und verstehenkönnen“ müssen. Damit hat das Gericht für das Wahlverfahren das Erfordernis einer Ende-zu-Ende-Laienkontrolle statuiert.
Beispiel: Im Nachgang der Entscheidung wurde von den meisten Kommentierenden die Einführung einer Wahlmöglichkeit über das Internet für unvereinbar mit dem Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl im Verständnis der Wahlgeräteentscheidung gehalten.
Wahlrechtsgrundsätze im Verhältnis
Wahlrechtsgrundsätze können untereinander zum Ausgleich zu bringen sein. Besonders anspruchsvolle Fragestellungen ergeben sich aber daraus, wenn sie mit dem Demokratieprinzip selbst (1.) oder mit anderen verfassungsrechtlichen Vorgaben (2.) in Konflikt geraten.
Innerhalb des Demokratieprinzips
Da Wahlen bestimmte demokratische Funktionen haben, können sich aus der Förderung dieser Funktionen – und damit aus dem Demokratieprinzip – Möglichkeiten ergeben, die Wahlrechtsgrundsätze einzuschränken.
Beispiel: Die Förderung der Wahlbeteiligungstärkt die Legitimationswirkung von Wahlen und dient damit dem Demokratieprinzip. Die Ausweitung der Möglichkeit zur Briefwahl kann daher, sofern sie die Wahlbeteiligung zu steigern in der Lage ist, gerechtfertigt sein, obwohl diese Wahlmethode die Öffentlichkeit der Wahl nicht gleichermaßen gewährleistet wie die herkömmliche Urnenwahl – die Wählenden können den ordnungsgemäßen Gang ihrer Stimme ja nicht durchgängig nachvollziehen. Das BVerfG geht in diesen Fällen davon aus, dass durch die Steigerung der Wahlbeteiligung die Allgemeinheit der Wahl gefördert würde.
Weiterführendes Wissen
Das ist zumindest widerprüchlich, da sich die Allgemeinheit der Wahl nach herkömmlicher Lesart auch des Gerichts selbst auf das Innehaben der Wahlberechtigung im Verhältnis zur Gesamtheit der Staatsbürger:innen bezieht (s.o.) und nicht auf die Teilnahme der Wahlberechtigten an der Wahl.
Außerhalb des Demokratieprinzips
Auch andere Verfassungspositionen können mit den Wahlrechtsgrundsätzen in Konflikt geraten, sodass die Gesetzgebung aufgerufen ist, die Positionen zu einem Ausgleich zu bringen.
Beispiel: Art. 3 II 2 GG verlangt nicht nur, Frauen und Männer rechtlich gleich zu behandeln (das regelt Art. 3 II 1 GG). Die Norm verpflichtet die staatlichen Organe auch dazu, trotz rechtlicher Gleichstellung weiterhin bestehende tatsächliche Nachteile, die Frauen gegenüber Männern haben, durch angemessene Maßnahmen zu bekämpfen. Ein solcher Gleichstellungsnachteil lässt sich im nach wie vor gleichbleibend geringen Frauenanteil unter den Bundestagsabgeordneten erblicken. Eine von verschiedenen Bundesländern erprobte Maßnahme zur Bekämpfung dieses Problems sind Paritäts-Regelungen. Diese Regelungen in den Wahlgesetzen verpflichten Parteien im Wahlvorschlagsverfahren, jeden zweiten Listenplatz einer Frau vorzubehalten. Darin ist u.a. ein Eingriff in die passive Wahlrechtsgleichheit jener Wahlbewerber zu erblicken, die sich wegen der Regelung nicht mehr auf diese Listenplätze bewerben können.
Diese Konstellationen werfen verschiedenen bedeutsame und umstrittene Probleme auf, u.a. die Reichweite der Parteienfreiheit des Art. 21 I GG im Wahlvorschlagsverfahren,die Bindungswirkung der Wahlrechtsgrundsätze im Wahlvorschlagsverfahren, die ja durch nicht-staatliche Organe (die Parteien) durchgeführt werden sowie der Inhalt der passiven Wahlrechtsgrundsätze. Aus diesen Fällen lassen sich daher leicht anspruchsvolle Klausursachverhalte erstellen. Die Urteile der Landesverfassungsgerichte werden dieser Komplexität nicht immer gerecht.
Von den gegen diese Regelungen angerufenen Landesverfassungsgerichten in Brandenburg und Thüringen wurden die jeweiligen Paritäts-Regelungen jeweils mit unterschiedlicher Argumentation für verfassungswidrig erklärt, wobei das VfGBbg einen Verstoß gegen „Parteienfreiheit, Wahlvorschlagsfreiheit und Chancengleichheit der politischen Parteien“ und der ThVerfGH daneben einen Verstoß gegen die Grundsätze der Freiheit und Gleichheit der Wahl annahm. Um die Entscheidungen gab es eine lebendige wissenschaftliche Diskussion und im Falle der Entscheidung in Thüringen wurden sogar zwei Sondervoten dreier Richter:innen gegen die Entscheidungsmehrheit abgegeben. Das BVerfG hat sich in materieller Hinsicht noch nicht mit Paritäts-Regelungen befasst, sondern nur festgestellt, dass eine Verpflichtung zum Erlass solcher Regelungen nicht besteht.
EU-Wahlrecht, Landeswahlrecht, Kommunalwahlrecht
Neben der Bundestagswahl gibt es noch andere Wahlen, für die grundgesetzliche Vorgaben bedeutsam sind. Dabei ist festzuhalten, dass sich die Anforderungen des Art. 38 I 1 GG nicht eins zu eins auf andere Wahlen übertragen lassen, da sie sich nur auf die Bundestagswahlbeziehen. Für die Wahlen auf den anderen Ebenen sind vielmehr jeweils eigene Vorgaben und Homogenitätsklauseln zu bedenken.
Wahlrecht zum Europäischen Parlament
Gemäß Art. 10 I EUV ist die Europäische Union als repräsentative Demokratie organisiert, was sich vor allem darin äußert, dass die Unionsbürger:innen durch die Wahl des Europäischen Parlaments unmittelbar an dessen Willensbildung teilhaben (Art. 10 II 1 EUV).
Examenswissen: Art. 14 II, III EUV enthalten die konkreten primärrechtlichen Vorgaben für die Wahl des Europäischen Parlaments: Demnach setzt sich das Parlament aus maximal 750 Abgeordneten zusammen. Diese werden gemäß Art. 14 II UAbs. 1 S. 2, 3 EUV nach dem Prinzip der degressiven Proportionalität auf die Mitgliedstaaten verteilt: Jeder Mitgliedsstaat erhält mindestens sechs und maximal 96 Sitze. Das führt dazu, dass die kleinsten Mitgliedstaaten in Hinblick auf ihre Einwohner:innenzahl über-, die größten unterrepräsentiert sind. Eine vergleichbare Regelung gibt es in Art. 51 II GG für die Zusammensetzung des Bundesrats. Die Regelung im EUV hat den Zweck, die angemessene Repräsentation auch der kleinsten Mitgliedstaaten zu gewährleisten.
Die Wahlberechtigung für die Wahl zum Europäischen Parlament knüpft an das Innehaben der Unionsbürgerschaft an (Art. 14 II UAbs. 1 S. 1 EUV), die wiederum an die Staatsbürgerschaft eines Mitgliedsstaates anknüpft (Art. 9 S. 3 EUV/Art. 20 I 2 AEUV). Unionsbürger:innen können dabei ihr Wahlrecht auch in ihrem Wohnsitzstaat ausüben (Art. 20 II Bst. b AEUV/Art. 39 I GRCh).
Art. 14 III EUV legt die Wahlperiode fest (fünf Jahre) und enthält einen dem Art. 38 I 1 GG vergleichbaren Katalog an Wahlrechtsgrundsätzen, wobei der Grundsatz der Gleichheit der Wahl fehlt (wortgleich: Art. 39 II GRCh). Das liegt an der bereits erwähnten Zusammensetzung des Parlaments nach dem Grundsatz der degressiven Proportionalität, wodurch die Gleichheit der Wahl zumindest im Sinne der Erfolgswertgleichheit der Stimmen (s.o.) nicht gewährleistet werden kann.
Konkretisiert werden die Vorgaben des Primärrechts durch den Direktwahlakt (DWA), der insbesondere die Verhältniswahl festschreibt (Art. 1 I DWA). Die weitere Ausgestaltung überlässt Art. 8 DWA ausdrücklich den Mitgliedstaaten für ihr jeweils zu wählendes Abgeordnetenkontingent. Das Recht der Wahl zum Europäischen Parlament ist daher zu einem beträchtlichen Teil nationales Recht, welches sich zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten zum Teil erheblich unterscheidet. Deutschland hat dafür verschiedene Vorschriften erlassen, von denen das Europawahlgesetz (EuWG) die wichtigsten Regelungen enthält. In Deutschland werden die EU-Abgeordneten nach dem System der geschlossenen Listenwahl gewählt (§ 1 EuWG). Die Wählenden haben also nur eine Stimme. Eine wichtige Besonderheit des deutschen EU-Wahlrechts ist, dass anders als bei der Bundestagswahl das Wahlalter nur einfachgesetzlich festgelegt ist (§ 6 I Nr. 1, III Nr. 1 EuWG). Ansonsten ähnelt das Wahlverfahren und die einzelnen Bestimmungen dem BWahlG, auf welches in vielen Vorschriften des EuWG ohnehin verwiesen wird.
Das BVerfG hat eine 3- bzw. 5%-Hürde bei den Wahlen zum Europäischen Parlament für nicht mit dem Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit vereinbar gehalten. Daran änderte auch die Klausel des Art. 3 DWA, welche eine solche Hürde erlaubt, nichts, da sie strengeren nationalen Maßstäben für die Rechtfertigung einer solchen Maßnahme wegen der Öffnungsklausel des Art. 8 DWA nicht entgegensteht. Dabei ist zu bedenken, dass im Europawahlrecht der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit nicht aus Art. 38 I 1 GG folgt. Das Gericht griff deswegen auf den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 I GG zurück. Da die neuere Rechtsprechung des BVerfG zumindest im Bereich der Verfassungsbeschwerde auch die GRCh-Rechte zum Prüfungsmaßstab des Gerichts erhoben hat, würde es in zukünftigen Entscheidungen womöglich unmittelbar auf Art. 39 II GRCh zurückgreifen.
Landes- und Kommunalwahlrecht; Homogenitätsklausel
Die Länder sind in der Ausgestaltung des kommunalen Wahlrechts und des Wahlrechts zu den Landtagen nicht völlig frei. Vielmehr sind ihnen durch die Homogenitätsklausel des Art. 28 I GG verschiedene Vorgaben gemacht.
Examenswissen: Art. 28 I 1 GG enthält dabei die grundsätzliche Vorgabe demokratischer Organisation, überträgt also das Demokratieprinzip des Art. 20 I GG auf die Länder. Art. 28 I 2 GG überträgt die Wahlrechtsgrundsätze auf die Landtags- und Kommunalwahlen. Schließlich ist noch Art. 28 I 3 GG bedeutsam, der in Umsetzung von Art. 20 II lit. b AEUV/Art. 40 GRCh anordnet, dass bei Kommunalwahlen EU-Ausländer:innen das Wahlrecht zu gewähren ist.
Diese Regelungen scheinen zunächst die Anforderungen an die Wahlrechtsgesetzgebung des Bundes und der Länder weitgehend zu harmonisieren. Im Einzelfall können sie dennoch die Frage aufwerfen, wie weit diese Harmonisierungsanforderungen reichen. Als besonders umstritten haben sich dabei Versuche erwiesen, das Landes- oder Kommunalwahlrecht auf Nicht-Deutsche auszuweiten.
Beispiel: Die Gesetzgebung Bremens versuchte, auch Menschen aus dem EU-Ausland das Bürgerschaftswahlrecht zu gewähren, und scheiterte damit vor dem Staatsgerichtshof, der sich auf die Homogenitätsklausel des Art. 28 I 1, 2 GG stützte. Einzelne Bundesländer haben in der Vergangenheit versucht, auch Menschen aus dem Nicht-EU-Ausland das Wählen in den Kommunen zu ermöglichen. Die zuständigen Verfassungsgerichte haben diese Versuche jeweils in Hinblick auf die Homogenitätsklausel des Art. 28 I 1, 2 GG für unzulässig gehalten.
Der Kern der Frage, ob solche Erweiterungen der Wahlberechtigung über die herkömmlichen Beschränkungen hinaus zulässig sind, lässt sich letztlich auf die Auslegung des Begriffs des Volkes in Art. 28 I 2 GG zurückführen. Kann dieser Begriff in Art. 28 I 2 GG anders verstanden werden als in Art. 20 II 1, 2 GG? Das BVerfG geht unter Betonung der historischen Auslegung davon aus, dass der Begriff des Volkes in den modernen deutschen Verfassungen stets nur deutsche Staatsangehörige gemeint habe. Auch sei Art. 28 I 2 GG nicht als Mindestgewährleistung zu verstehen, die es den Ländern ermöglichen würde, darüber hinaus weiteren Personengruppen das Wahlrecht zu gewähren. Damit sei dann eine Ausdehnung des Kommunalwahl- bzw. Landeswahlrechts auf Nicht-Deutsche unzulässig.
Weiterführendes Wissen
Das ist aus mehreren Gründen kritikwürdig. Zunächst ist festzuhalten, dass diese Rechtsprechung zu einem Gleichlauf des Volksbegriffs in Art. 20 II GG und Art. 28 I 2 GG führt, obwohl beide Normen völlig unterschiedliche Zielrichtungen haben: Während die eine in der Verfassung des Bundes Regeln für die demokratische Legitimation der Bundesverfassungsorgane aufstellt, ist die andere nach außen auf die in ihrer Eigenstaatlichkeit zu respektierenden Länder gerichtet. Zwar strebt der Bundesstaat in gewissem Maße nach Gleichförmigkeit. Unbestimmte Rechtsbegriffe sollten im Bundestaat allerdings föderalismusfreundlich ausgelegt werden, um Raum für Unterschiedlichkeit zwischen den Ländern zu lassen. Eine Auslegung, die es den Ländern erlaubte, auch Nicht-Deutschen das Wahlrecht zu gewähren, lässt sich auch damit begründen, dass das Spannungsfeld zwischen Demokratieprinzip und Volkssouveränität (i.S.d. Art. 20 II GG) auf Bundesebene durch das Staatsangehörigkeitsrecht aufgelöst werden kann (s.o.). Eine solche Möglichkeit haben die Länder nicht. Sie können, selbst wenn ein beträchtlicher Teil der vom Landesrecht Betroffenen nicht die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, deshalb nicht wahlberechtigt ist und damit ein Demokratiedefizit besteht, dieses Defizit nicht durch erleichterte Erlangung der Staatsbürgerschaft ausgleichen, da die Kompetenz dazu beim Bund konzentriert ist. Ihnen bleibt nur, durch unmittelbare Verleihung des Wahlrechts zu reagieren. Ihnen diese Möglichkeit zu nehmen, läuft daher dem Demokratieprinzip des Art. 28 I 1 GG zuwieder. Bisweilen wird auch argumentiert, schon das Verständnis des Volkes aus Art. 20 II GG erfordere es, den Volksbegriff in Art. 28 I 2 GG gleich zu verstehen. Denn Art. 20 GG ist von der Ewigkeitsklausel des Art. 79 GG erfasst; eine dem Art. 20 II GG widersprechende Auslegung des Art. 28 I 2 GG unterlaufe daher den unabänderlichen Kern der Verfassung. Dieses Argument überzeugt schon wegen der Existenz des Art. 28 I 3 GG nicht: Würde es sich bei der Anknüpfung der Wahlberechtigung an das Volk tatsächlich um eine Voraussetzung handeln, die unmittelbar aus Art. 20 II GG in die Homogenitätsklausel hineinstrahlen würde, wäre das Kommunalwahlrecht für EU-Ausländer (Art. 23 I 3 GG) verfassungswidriges Verfassungsrecht.
Verfahrensfragen
Rund um das Wahlrecht gibt es zwei besondere Verfahrensarten: Die Nichtanerkennungsbeschwerde (Art. 93 I Nr. 4c GG), welche Vereinigungen offensteht, die im Wahlvorbereitungsverfahren nicht als Partei anerkannt wurden sowie die Wahlprüfungsbeschwerde (Art. 41 II GG), welche sich gegen Entscheidungen des Bundestages im Wahlprüfungsverfahren im Nachgang der Wahl richtet. Letztere ist deutlich prüfungsrelevanter und wird daher hier ausführlich behandelt. Ebenfalls ausgeklammert bleibt die Mandatsprüfungsbeschwerde(Art. 41 II GG in Bezug auf Art. 41 I 2 GG) als seltener Sonderfall der Wahlprüfungsbeschwerde.
Klausurtaktik
Diverse dem BVerfG zur Entscheidung zugewiesene Verfahren finden sich nicht direkt im Katalog des Art. 93 GG, sondern sind nur indirekt angesprochen (Art. 93 I Nr. 5 GG: „in den übrigen in diesem Grundgesetze vorgesehenen Fällen“/Art. 93 III GG: „Das Bundesverfassungsgericht wird ferner in den ihm sonst durch Bundesgesetz zugewiesenen Fällen tätig.“). Deswegen ist es hilfreich, den ausführlicheren Katalog des § 13 BVerfGG heranzuziehen, um die einschlägige Verfahrensart herauszufinden. Auch der bezieht zwar nur die Verfahrensarten des Grundgesetzes und nicht einfachgesetzliche Zuweisungen (vgl. § 13 Nr. 15 BVerfGG) ein, die wichtigen Verfahrensarten finden sich dort aber alle. Das gilt auch für die Wahlprüfungsbeschwerde: Sie ist in Art. 41 II GG dem BVerfG zur Entscheidung zugewiesen und findet sich in § 13 Nr. 3 BVerfGG wieder.
Exklusivität des Wahlprüfungsverfahrens
Selbstverständlich können wahlrechtliche Fragen auch Gegenstand anderer Verfahren vor dem BVerfG oder vor anderen Gerichten werden. Es ist etwa denkbar, dass wahlrechtliche Regelungen Gegenstand eines Verfassungsbeschwerde- oder Normenkontrollverfahrens werden. So kann etwa eine Wahlrechtsänderung, die eine bestimmte Personengruppe von der Wahl ausschließt, Gegenstand einer prozessual eingekleideten Klausur werden. Allerdings gilt gemäß § 49 BWahlG in Bezug auf „Entscheidungen und Maßnahmen, die sich unmittelbar auf das Wahlverfahren beziehen“ die Ausschließlichkeit des Wahlprüfungsverfahrens. Soweit es also um die konkrete Anwendung der wahlrechtlichen Bestimmungen durch Wahlorgane in einem konkreten Wahlverfahren geht, sind andere verfassungsrechtliche Verfahrensarten ebenso unzulässig wie der Rechtsweg zu anderen Gerichtszweigen verschlossen ist. Von dieser Ausschließlichkeit sind alle Maßnahmen umfasst, die bezüglich einer Wahl in ihrer Vorbereitung, während ihrer Durchführung oder in ihrer Nachbereitung (z.B. bei der Auszählung) getroffen werden. Sofern also ein konkreter (fiktiver oder realer) Wahlvorgang Gegenstand einer prozessual konstruierten Klausur werden soll, kommt nur eine Wahlprüfungsbeschwerde in Frage.
Zulässigkeit der Wahlprüfungsbeschwerde
Die Zulässigkeitsvoraussetzungen ergeben sich aus Art. 41 II GG und § 48 BVerfGG.
Weiterführendes Wissen
Zwar gibt es mit dem Wahlprüfungsgesetz (WahlPrG) ein auf Grundlage des Art. 41 III GG erlassenes Spezialgesetz für die Wahlprüfung. § 18 WahlPrG verweist aber für die Beschwerde gegen den Wahlprüfungsbeschluss des Bundestages gemäß Art. 41 II GG wieder in das BVerfGG zurück.
Zuständigkeit
Das BVerfG ist gemäß Art. 41 II GG, 93 I Nr. 5 GG, § 13 Nr. 3 BVerfGG für Wahlprüfungsbeschwerden zuständig.
Weiterführendes Wissen
Gemäß Art. 93 Abs. 3 GG, § 13 Nr. 15 BVerfGG, § 36 III 1 EuWG gilt das auch für Wahlprüfungsbeschwerden gegen den Wahlprüfungsbeschluss des Bundestages nach Europawahlen (§ 36 I EuWG). Hierbei handelt es sich um eine der oben erwähnten einfachgesetzlichen Zuweisungen einer Verfahrensart zum BVerfG.
Beschwerdeberechtigung
Es gibt zwei verschiedene Arten von Beschwerdeberechtigten: Wahlberechtigte (nicht privilegierte Beschwerdeberechtigte) und Fraktionen bzw. eine Bundestagsminderheit von einem Zehntel (privilegierte Beschwerdeberechtigte). Nicht privilegiert Beschwerdeberechtigte müssen im verfassungsrechtlichen Sinne wahlberechtigt sein, also Deutsche i.S.d. Art. 116 I GG und das Alterserfordernis des Art. 38 II Var. 1 GG (18 Jahre) erfüllen. Auf einfachgesetzliche Wahlrechtsausschlüsse kommt es im Rahmen der Beschwerdeberechtigung nicht an, da die Überprüfung solcher Eingriffe in das Wahlrecht gerade Sinn des Wahlprüfungsverfahrens ist und sonst gegebenenfalls eine Rechtsschutzlücke entstehen könnte. Daneben müssen sie erfolglos das Wahlprüfungsverfahren vor dem Bundestag durchlaufen haben. Privilegiert Beschwerdeberechtigte müssen das Wahlprüfungsverfahren vor dem Bundestag nicht durchlaufen. Privilegiert beschwerdeberechtigt sind Fraktionen i.S.d. § 10 GOBT oder ein Zehntel der gesetzlichen Mitgliederzahl des Bundestages.
Beschwerdegegenstand
Die Wahlprüfungsbeschwerde bezieht sich auf den Wahlprüfungsbeschluss des Bundestages. Beschwerdegegenstand ist daher die Wahldurchführung in der Form der Feststellungen im Wahlprüfungsbeschluss. Einwände, die nicht privilegiert Beschwerdeberechtigte nicht schon im Wahlprüfungsverfahren vor dem Bundestag vorgebracht haben, sind vor dem BVerfG unbeachtlich. Insofern herrscht materielle Präklusion. Einzig die Verfassungswidrigkeit wahlrechtlicher Vorschriften muss nicht bereits vor dem Bundestag behauptet werden, da dieser insofern ohnehin keine Prüf- oder Verwerfungskompetenz besitzt.
Beschwerdebefugnis
Die Wahlprüfungsbeschwerde ist ein objektives Beanstandungsverfahren, sodass es auf eine subjektive Betroffenheit gerade nicht ankommt.
Form und Frist
Gemäß § 23 I BVerfGG ist die Wahlprüfungsbeschwerde schriftlich und begründet und gemäß § 48 I BVerfGG binnen zweier Monate ab Beschlussfassung des Bundestags im Wahlprüfungsverfahren zu erheben.
Begründetheit der Wahlprüfungsbeschwerde
Die Wahlprüfungsbeschwerde ist begründet, soweit der Wahlprüfungsbeschluss des Bundestages fehlerhaft war, also formell fehlerhaft zustande gekommen ist und/oder entgegen seiner Ansicht ein mandatsrelevanter Wahlfehler gegeben war, oder das materielle Wahlrecht verfassungswidrig ist.
Klausurtaktik
Es handelt sich dabei um drei verschiedene Prüfungspunkte, die getrennt geprüft werden sollten. Es empfiehlt sich, wie folgt zu gliedern:
1. Ist der Wahlprüfungsbeschluss formell fehlerhaft?
Hier geht es darum, mögliche Verstöße gegen die Verfahrensvorschriften des WahlPrüfG zu prüfen.
2. Ist der Wahlprüfungsbeschluss materiell fehlerhaft?
a) Liegt ein Wahlfehler vor?
Ein Wahlfehler ist jeder Verstoß gegen das Wahlrecht, d.h. gegen die Vorschriften des Grundgesetzes oder der einfachen Wahlgesetze (bei der Bundestagswahl: BWahlG und BWO, aber auch die wahlrechtlichen Vorschriften des PartG).
b) Ist dieser mandatsrelevant?
Mandatsrelevanz ist gegeben, wenn hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht, dass ohne den Wahlfehler das zu bestellende Gremium anders zusammengesetzt gewesen wäre.
3. Ist das Wahlrecht verfassungswidrig?
Hier ist separat zu prüfen, ob das einfachgesetzliche Wahlrecht verfassungswidrig war.
In seiner Entscheidung hat das BVerfG, sofern der Fehler auf die Mandatsverteilung Einfluss hatte, verschiedene Möglichkeiten: Es kann das Wahlergebnis korrigieren, sofern die Art des Fehlers das zulässt. Es kann auch die Wahl insgesamt für ungültig erklären, was bisher niemals passiert ist. Dabei hat das BVerfG immer das mildeste Mittel zu wählen. Es gilt der Grundsatz des Fortbestands der Volksvertretung. Wurden subjektive Rechte der Beschwerdeführenden verletzt, ohne dass der daraus resultierende Wahlfehler mandatsrelevant gewesen wäre, ist das BVerfG nach § 48 III BVerfGG verpflichtet, diese Rechtsverletzung im Entscheidungstenor festzustellen.
Weiterführende Studienliteratur
Nohlen, Wahlrecht und Parteiensystem, 7. Aufl. 2014
Schönberger, Die personalisierte Verhältniswahl – Eine Dekonstruktion, JöR 67 (2019), 1.
Zusammenfassung: Die wichtigsten Punkte
Auf verfassungsrechtlicher Ebene sind Wahlrechtsfragen fast immer durch Auslegung und Gewichtung der Wahlrechtsgrundsätze des Art. 38 I 1 GG untereinander und mit anderen Verfassungsgrundsätzen zu lösen. Sie können durch „zwingende Gründe“ eingeschränkt werden.
Der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl gebietet, dass alle Bürger:innen das Wahlrecht innehaben.
Der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl schreibt vor, dass ohne Zwischenakt aus dem Wahlakt selbst die Zusammensetzung des gewählten Gremiums folgen muss.
Der Grundsatz der Freiheit der Wahl bedeutet die Sicherstellung der Möglichkeit, die Wahlentscheidung frei von äußerem Zwang treffen zu können.
Der Grundsatz der Gleichheit der Wahl gebietet die gleiche Stimmzahl aller Bürger:innen (Zählwertgleichheit) bei gleichem Einfluss auf das Wahlergebnis bei der Verhältniswahl (Erfolgswertgleichheit).
Der Grundsatz der Geheimheit der Wahl erfordert ein Wahlverfahren, in dem es den Wählenden unmöglich ist, ihre Stimmabgabe nach außen zu beweisen.
Der ungeschriebene Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl erfordert es, dass die Wählenden „die zentralen Schritte der Wahl ohne besondere technische Vorkenntnisse zuverlässig nachvollziehen und verstehen können“ (BVerfG, s.o.).
Die Wahlprüfungsbeschwerde als besondere wahlrechtliche Verfahrensart bringt einige Besonderheiten gegenüber anderen Verfahrensarten mit sich.
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§ 5.2.2 Abstimmungen
Notwendiges Vorwissen: Demokratieprinzip
Lernziel: die verschiedenen Arten der Abstimmungen sowie die Problematik von Abstimmungen auf Bundesebene kennenlernen
Die Staatsgewalt des Volkes wird gem. Art. 20 II 2 GG in Wahlen und Abstimmungen ausgeübt. Die durch Abstimmungen ausgeübte direkte Demokratie steht folglich gleichrangig neben der mittels Wahlen ausgeübten repräsentativen Demokratie. Dabei wird bei Wahlen über Personalentscheidungen, bei Abstimmungen hingegen über Sachfragenentschieden. Innerhalb des Grundgesetzes und den Landesverfassungen (beziehungsweise den landesrechtlichen einfach-gesetzlichen Regelungen) wird differenziert zwischen der Volksbefragung, dem Volksbegehren und dem Volksentscheid.
Arten der Abstimmungen
Volksbefragung
Bei der Volksbefragung wird dem Volk seitens des Staates eine konkret formulierte Frage vorgelegt, über die es befinden soll. Die Entscheidung ist dabei für die Staatsorgane nicht bindend. Den Staatsorganen ist es auf diesem Wege möglich, die Meinung des Volkes einzuholen. Gegenstand der Volksbefragung ist eine Frage von allgemeinem Interesse.
Volksbegehren
Anders als bei der Volksbefragung geht das Volksbegehren direkt vom Volk aus. Welches Ziel konkret Gegenstand eines Volksbegehrens werden kann, ist abhängig von der jeweiligen gesetzlichen Ausgestaltung. Diese können auch Voraussetzungen wie etwa die Durchführung einer Volksinitiative bestimmen.
Ziel des Volksbegehrens kann es beispielsweise sein, eine Gesetzesvorlage in das Parlament einzubringen, die auch eine Verfassungsänderung begehren kann. Das Volksbegehren kann die vorzeitige Beendigung der Wahlperiode des Parlamentes zum Gegenstand haben. Außerdem kann die Möglichkeit bestehen, ein Volksbegehren zu Aspekten der politischen Willensbildung durchzuführen, wodurch die Beschlussfassung über sonstige Beschlüsse des Landtages begehrt wird. Dabei können bestimmte Themen auch als Gegenstand eines Volksbegehrens ausgeschlossen sein, so sieht etwa Art. 73 der bayerischen Verfassung und Art. 62 II 1 Bayerisches Landeswahlgesetz vor, dass ein Volksentscheid und damit auch ein ihm vorausgehendes Volksbegehren über den Staatshaushalt nicht zulässig ist. Das Ergebnis des Volksbegehrens ist rechtlich nicht bindend. Das Volksbegehren ist Voraussetzung eines Volksentscheides.
Beispiel: In 2021 fand (erfolglos) ein Volksbegehren in Bayern statt, dass die Abberufung des Landtages zum Gegenstand hatte.
Volksentscheid
Bei einem Volksentscheid entscheidet das Volk z.B. über (den Erlass, die Novellierung oder die Aufhebung) eines Gesetzes. Das Ergebnis ist rechtlich verbindlich. Der Volksentscheid kann aber auch, je nach gesetzlicher Ausgestaltung sonstige Beschlüsse des Parlamentes zum Gegenstand haben.
Beispiel: 2010 gab es einen erfolgreichen Volksentscheid in Bayern, der die Rückkehr zu einem strengen Nichtraucherschutz in Gaststätten zum Gegenstand hatte. Es wurde erfolgreich über einen Gesetzentwurf abgestimmt, der infolgedessen zu verkünden war. Im September 2021 fand ein erfolgreicher Volksentscheid zum Thema „Deutsche Wohnen & Co. enteignen – Spekulation bekämpfen“ in Berlin statt. Der Volksentscheid zielte auf die Vergesellschaftung der Berliner Bestände großer Immobilienkonzerne ab, die mehr als 3.000 Wohnungen vermieten. Er enthielt jedoch nicht die Abstimmung über einen Gesetzentwurf, sondern der Senat sollte lediglich aufgefordert werden, alle Maßnahmen einzuleiten, die zur Überführung von Immobilien in Gemeineigentum erforderlich sind.
Abstimmungen auf Bundesebene
Das Grundgesetz sieht solche Abstimmungen nur in Art. 29 GG beziehungsweise Art. 118 f. GG vor. So enthält Art. 29 II GG die Vorgabe, dass Maßnahmen zur Neugliederung des Bundesgebietes durch Bundesgesetz ergehen, das der Bestätigung durch Volksentscheidbedarf. Wird gem. Abs. 4 in einem zusammenhängenden, abgegrenzten Siedlungs- und Wirtschaftsraum, von einem Zehntel der in ihm zum Bundestag Wahlberechtigten durch Volksbegehren gefordert, daß für diesen Raum eine einheitliche Landeszugehörigkeit herbeigeführt werde, so ist durch Bundesgesetz innerhalb von zwei Jahren entweder zu bestimmen, ob die Landeszugehörigkeit gem. Abs. 2 geändert wird, oder daß in den betroffenen Ländern eine Volksbefragung stattfindet. Es entscheidet dabei nicht das Bundesvolk, sondern nur ein Teil der Staatsbürger:innen.
Ein Klassiker stellt daher die Frage dar, ob Abstimmungen auf Bundesebene über die genannten Artikel des Grundgesetzes hinaus zulässig sind. Dabei ist nach dem Charakter der Entscheidung zu differenzieren. Die überwiegende Ansicht verneint die Zulässigkeit von Abstimmungen auf Bundesebene ohne eine Verfassungsänderung, sofern der Entscheidung ein rechtlich verbindlicher Charakter zukommt. Hierbei wird mit einem Widerspruch zu den Regelungen des Grundgesetzes in Bezug auf das Gesetzgebungsverfahren argumentiert.
Aber auch bei einer Verfassungsänderung ist die Einführung direkt-demokratischer Elemente nicht unbegrenzt möglich. Sie ist zulässig, da Art. 20 II 2 GG Abstimmungen zwar direkt vorsieht, Restriktionen beim Umfang ergeben sich aber aus Art. 79 III GG, insbesondere aus dem grundsätzlich repräsentativ geprägten Grundgesetz.
Rechtlich nicht bindende Abstimmungen sind jedoch auf Bundesebene auch ohne eine Verfassungsänderung möglich. Der sich lediglich daraus ergebende politische Druck hat keinen Einfluss auf die verfassungsrechtliche Beurteilung, dass die Staatsorgane selbst entscheiden können, wie sie mit der Entscheidung des Volkes umgehen. Ein Parlamentsgesetz kann demgemäß etwa die Möglichkeit einer Volksbefragung vorsehen.
Abstimmungen auf Landesebene
In den Landesverfassungen wird oftmals die Möglichkeit von Abstimmungen vorgesehen. Was Gegenstand von Volksbefragungen und Volksentscheiden werden kann, ist dabei der jeweiligen Landesverfassung beziehungsweise den einfachen Landesgesetzen zu entnehmen. Dass Landesverfassungen entsprechende Abstimmungen vorsehen, steht im Einklang mit dem Homogenitätsprinzip des Art. 28 I GG. Schließlich sieht das Grundgesetz in Art. 20 II GG die Möglichkeit der direkten Demokratie vor, ebenso beispielsweise wie Art. 29 GG.
Klausurtaktik
Ein Klausursachverhalt zu dieser Thematik ist im Rahmen von staatsorganisationsrechtlichen Klausuren nicht zu erwarten. Vielmehr kommt dies erst im Rahmen des Verwaltungsrechts in Betracht, wenn die Zulässigkeit von Abstimmungen auf Kommunalebene zu prüfen sein könnte.
Abstimmungen auf EU-Ebene
Gemäß Art. 11 IV EUV können Unionsbürger:innen die Initiative ergreifen und die Europäische Kommission auffordern, im Rahmen ihrer Befugnisse geeignete Vorschläge zu Themen zu unterbreiten, zu denen es nach Ansicht jener Bürger:innen eines Rechtsakts der Union bedarf, um die Verträge umzusetzen (Europäische Bürgerinitiative). Dabei muss die Anzahl der Unionsbürger:innen mindestens eine Million betragen, außerdem muss es sich um Staatsangehörige aus mindestens einem Viertel aller Mitgliedstaaten handeln. In der Verordnung (EU) Nr. 211/2011 v. 16.2.2011 sind dabei die Voraussetzungen und das Verfahren näher geregelt. Die europäische Bürgerinitiative ähnelt einem Volksbegehren. Der Entscheid ist nicht bindend für die Europäische Kommission (str.).
Beispiel: Die Europäische Bürgerinititaive „Stop Vivisection“ war in der Hinsicht erfolgreich, dass sich die Europäische Kommission mit deren Vorschlag beschäftigen musste. Grundlage der Bürgerinitiative war ein Vorschlag für ein entsprechendes Gesetz, das den Ausstieg aus der tierexperimentellen Forschung zum Gegenstand hatte. Auch wenn die Kommission der Überzeugung zustimmt, dass Tierversuche unterbleiben sollten, entschied sie, dass dies auf anderem Weg erreicht werden sollte.
Weiterführende Studienliteratur
von Arnim/Kriele, Volksbegehren und Volksentscheid, ZRP 2002, 492.
Elicker, Verbietet das Grundgesetz ein Referendum über die EU-Verfassung?, ZRP 2004, 225; siehe auch die Erwiderung von Herbst, Volksabstimmung ohne Grundgesetz?, Erwiderung zu Elicker, ZRP 2004, 225, ZRP 2005, 29.
Engelken, „In Wahlen und Abstimmungen“, – zur Bedeutung und Herkunft dieser Worte in Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG –, DÖV 2013, 301.
Guckelberger, Die Europäische Bürgerinitiative, DÖV 2010, 745.
Tiedemann, Die sekundärrechtliche Ausgestaltung der europäischen Bürgerinitiative durch die Verordnung (EU) Nr. 211/2011, NVwZ 2012, 80.
Zusammenfassung: Die wichtigsten Punkte
Abstimmungen beinhalten Sachfragen.
Differenziert wird zwischen der Volksbefragung, dem Volksbegehren und dem Volksentscheid.
Rechtlich unverbindliche Abstimmungen können ohne Verfassungsänderung auf Bundesebene durchgeführt werden. Dem hingegen sind rechtlich verbindliche Abstimmungen, über die bereits im Grundgesetz enthaltenen hinaus, derzeit unzulässig.
Auf Landesebene ist die Durchführung von Abstimmungen oftmals möglich, hierfür ist die jeweilige Landesverfassung näher zu betrachten. Auf europäischer Ebene besteht die Möglichkeit der Europäischen Bügerinitiative.
§ 5.3 Mehrheitsprinzip
Notwendiges Vorwissen: Bundestag, Bundesrat, Bundesversammlung
Lernziel: Notwendige Mehrheiten erkennen können
Das Mehrheitsprinzip zählt zu den „fundamentalen Prinzipien der Demokratie“ und ist deshalb – nicht ausdrücklich, aber implizit – bereits in Art. 20 I, II GG verankert. Es ist Ausfluss der demokratischen Gleichheit und Freiheit der Bürger. Im Idealzustand würden freie und gleiche Bürger:innen immer einstimmig über sich selbst herrschen. Rein praktisch würde das Einstimmigkeitserfordernis aber zu einer Blockade der Demokratie führen. Außerdem hätte die Minderheit durch ihre Vetoposition eine größere Macht als die Mehrheit, weil stets nur ihr Minimalkonsens umgesetzt würde. Folglich ist das Mehrheitsprinzip nicht nur Vorbedingung für die Praktikabilität der Demokratie, sondern auch für die Freiheit und Gleichheit der Entscheidungen in ihr.
Systematik der Mehrheiten
Das Mehrheitsprinzip ist in Klausuren meistens ganz praktisch relevant bei Abstimmungen oder Wahlen, um festzustellen, ob z.B. ein Gesetz im Bundestag wirksam beschlossen wurde.
Examenswissen: Das Mehrheitsprinzip ist natürlich nicht auf das Staatsrecht begrenzt, sondern gilt für alle Gremienentscheidungen, sodass die folgenden Ausführungen insbesondere auf Examensniveau auch für das Privatrecht und das sonstige öffentliche Recht sehr hilfreich sind. Anwendungsbeispiele sind hier §§ 32 I 3, 33 I 1, 709 II BGB, § 119 II HGB, § 47 I GmbHG, §§ 133 I AktG, §§ 23 III 2, 25 I WEG.
Bezugsgröße
In einem ersten Schritt ist stets die Bezugsgröße der Mehrheit festzustellen, also die Gesamtzahl „derjenigen, die zur Entscheidung ein und derselben Frage aufgerufen sind.“ So wird differenziert zwischen der Abstimmungsmehrheit, Anwesendenmehrheit und Mitgliedermehrheit.
Bei der Abstimmungsmehrheit werden nur die tatsächlich abgegebenen Stimmen zugrunde gelegt. Es werden weder die ungültigen Stimmennoch die Enthaltungen zu den abgegebenen Stimmen gezählt. Zur Begründung wird häufig neben der Entstehungsgeschichte durchaus zutreffend vorgebracht, dass derjenige, der sich der Stimme enthalte, gerade nicht abstimmen, also auch nicht mit Nein stimmen wolle. Zudem schreibt § 46 S. 1 GOBT für Abstimmungsfragen im Bundestag vor, dass sie vom Bundestagspräsidenten oder von der Bundestagspräsidentin so gestellt werden müssen, dass sie sich mit „Ja“ oder „Nein“ beantworten lassen. Enthaltungen sind also als abgegebene Stimmen auch in der GOBT nicht vorgesehen. Die Stimmenthaltung wirkt demnach bei der Abstimmungsmehrheit wie das Fernbleiben von der Abstimmung.
Bei der Anwesendenmehrheit oder auch Anwesenheitsmehrheit muss die Anzahl der Ja-Stimmen größer sein als die Hälfte der Gesamtzahl der Anwesenden bei der Abstimmung.
Bei der Mitgliedermehrheit kommt es allein auf die Anzahl aller Abstimmungsberechtigten an, unabhängig davon, ob sie anwesend sind oder nicht. Beim Bundesrat sind es 69 ordentliche Mitglieder. Beim Bundestag ist die Bestimmung der stimmberechtigten Abgeordneten dagegen etwas schwieriger, deshalb wird die Anzahl der Bundestagsabgeordneten meistens in den Sachverhalten mitgeteilt. Gem. Art. 121 GG ist auf die „gesetzliche Mitgliederzahl“ abzustellen. Was das heißt, ist rechtlich umstritten. Zunächst einmal ist damit die Mitgliederzahl des § 1 I 1 BWahlG gemeint: 598 Abgeordnete. Hinzu kommen die Überhang- und Ausgleichsmandate (§ 6 IV-VI BWahlG). Im Laufe der Wahlperiode können aber auch Bundestagsmandate dauerhaft entfallen, was dann zu einer Reduktion der gesetzlichen Mitgliederzahl führt. Nach h.M. ist hierbei auf die Zahl der zum Zeitpunkt der Wahl oder Abstimmung sitz- und stimmberechtigten Abgeordneten abzustellen.
Beispiel: Es entfallen in der laufenden Wahlperiode u.a. Sitze,
wenn ein:e Abgeordnete:r ausscheidet und die Landesliste, anhand der ein:e Nachfolger:in bestimmt werden soll, erschöpft ist (§ 48 I 5 BWahlG), oder
bei einem Parteiverbot (§ 46 I 1 Nr. 5, IV BWahlG).
Klausurtaktik
Wenn keine Angabe im Sachverhalt über die Abgeordnetenanzahl im Bundestag erfolgt, sind für die Klausur zwei Mitgliederzahlen möglich:
Sollten keine weiteren Hinweise gegeben sein, ist von 598 Abgeordneten auszugehen (§ 1 I 1 BWahlG). Falls die Zahl der Ausgleichs- und Überhangmandate genannt wird, sind sie hinzuzurechnen.
Enthält der Sachverhalt dagegen Angaben wie „im 20. Deutschen Bundestag“ oder Jahresangaben, die einen eindeutigen Schluss auf den aktuellen Bundestag zulassen, dann ist von der Mitgliederzahl des amtierenden Bundestages zum Zeitpunkt der konstituierenden Sitzung auszugehen. (Im 20. Bundestag ab 2021 sind das 736 Mandate.) Wenn im Laufe der Legislaturperiode einzelne Mandate entfallen sind, so kann von den Studierenden für die Klausur nicht erwartet werden, dass sie dies tagesaktuell nachhalten. Das Wissen über die Abgeordnetenzahl des aktuellen Bundestages bei seiner Konstituierung wird allerdings regelmäßig vorausgesetzt.
Typische Klausurfehler
Häufig wird bei Abstimmungen in Klausursachverhalten auch die Anzahl der Enthaltungen mitgeteilt, um die Studierenden auf eine falsche Fährte zu locken. Bei im Bundestag grundsätzlich erforderlichen einfachen Stimmenmehrheiten (Art. 42 II 1 GG) ist die Anzahl der Enthaltungen für die Mehrheit irrelevant. Da dieser Umstand nicht vollkommen unumstritten ist, ist dies wie oben kurz zu begründen. Die Zahl der Enthaltungen kann dann allenfalls bei der Beschlussfähigkeit des Gremiums von Bedeutung sein.
Wenn es allerdings auf die Zustimmung der Anwesenden- oder der Mitgliedermehrheit ankommt, wirken Enthaltungen de facto wie Nein-Stimmen, so z.B. der Grundsatz im Bundesrat (Art. 52 III 1 GG).
Insofern ist gerade bei Enthaltungen zwischen den Bezugsgrößen der Mehrheit zu differenzieren!
Stimmenquote
In einem zweiten Schritt ist der Anteil der Stimmen festzustellen, der für den Beschluss oder die Wahl nötig ist.
Grundsatz: Einfache Mehrheit
Auf den eingangs genannten Überlegungen basiert der Grundsatz für demokratische Abstimmungen: Eine einfache Mehrheit genügt für die Wahl einer Person oder das Zustandekommen eines Beschlusses, wenn nichts anderes bestimmt ist. Eine solche liegt dann vor, wenn die Anzahl der Ja-Stimmen größer ist als die der Nein-Stimmen. Stimmengleichheit reicht nicht aus. So ist auch für einen Beschluss des Bundestages grundsätzlich die Mehrheit der abgegebenen Stimmen erforderlich (Art. 42 II 1 Hs. 1 GG). Ausnahmen von diesem Grundsatz bedürfen für Bundestagsbeschlüsse der expliziten Anordnung des Grundgesetzes (Art. 42 II 1 Hs. 2 GG).
Beispiel zur einfachen Mehrheit: 10 Stimmen für Ja, 5 Stimmen für Nein. Einfache Mehrheit ist erreicht.
Nur wenn lediglich zwei Alternativen zur Auswahl stehen, kann von einer einfachen Mehrheit gesprochen werden. Erst ab drei Optionen kann sinnvoll differenziert werden zwischen relativer und absoluter Mehrheit. Die relative Mehrheit erlangt die Option, die die meisten Stimmen auf sich vereinigen kann. Es reicht bereits aus, dass diese Option eine Stimme mehr erhält als jede der anderen Optionen. Die absolute Mehrheit ist erreicht, wenn eine Option mehr Stimmen auf sich vereinigen kann als die anderen Optionen zusammengenommen, wenn sie also mehr als die Hälfte aller abgegebenen Stimmen erhält.
Klausurtaktik
Die Begriffe werden sehr uneinheitlich und zum Teil sogar falsch verwendet. Der Begriff der „absoluten Mehrheit“ wird sowohl umgangssprachlich als auch von Teilen der Wissenschaft ohne Benennung der Bezugsgröße für die einfache Mitgliedermehrheit verwendet. Das ist aus oben genannten Gründen verwirrend und führt zu Unklarheiten. Dieser uneinheitlichen Verwendungsweise sollte man sich bewusst sein. Sie ist allerdings für die Klausurbearbeitung unproblematisch, da diese Begriffe fast nie vom Gesetz verwendet werden. Für die eigene Vorgehensweise gilt: Solange man die Bezugsgröße nennt, können Missverständnisse leicht vermieden werden.
Beispiel 1 zur relativen und absoluten Mehrheit:10 Stimmen für Person A, 7 Stimmen für Person B, 5 Stimmen für Person C. Person A hat die relative Mehrheit der Stimmen (da 10 > 7 > 5). Person A hat aber nicht die absolute Mehrheit, dafür müssten bei 22 abgegebenen Stimmen 12 Stimmen erreicht werden.
Beispiel 2 zur relativen und absoluten Mehrheit:20 Stimmen für Person A, 10 Stimmen für Person B, 5 Stimmen für Person C. Person A hat die relative Mehrheit der Stimmen (da 20 > 10 > 5). Person A hat ebenfalls die absolute Mehrheit erreicht, da bei 35 abgegebenen Stimmen 18 Stimmen hierfür ausreichen.
Eine Differenzierung zwischen einfachen, relativen und absoluten Mehrheiten auf Basis der zur Auswahl stehenden Optionen ergibt nur bei Zugrundelegung der abgegebenen Stimmen Sinn. Sofern nur eine relative Mehrheit erreicht werden muss, wird allein auf die Stimmen abgestellt, die jede der Optionen erhalten hat, sodass es auf die Gesamtheit der Stimmen nicht ankommt. Andersherum ist die einfache Mehrheit identisch mit der absoluten Mehrheit, wenn die Gesamtzahl der Stimmen feststeht und insofern relevant ist, als die Anzahl der Gegenstimmen – gleich wie viele Möglichkeiten zur Auswahl stehen – ohne Bedeutung ist. Bei der Anwesendenmehrheit und bei der Mitgliedermehrheit sind also einfache und absolute Mehrheit identisch, weil es immer nur darauf ankommt, ob über 50 Prozent der Stimmen einer Bezugsgröße sich auf eine Option vereinigen. Wenn dagegen bei der Abstimmungsmehrheit nur zwei Handlungsalternativen bestehen, ist die einfache gleich der relativen gleich der absoluten Abstimmungsmehrheit. Das liegt daran, dass Enthaltungen nach h.M. nicht als abgegebene Stimmen anzusehen sind.
b) Qualifizierte Mehrheiten
In einigen Fällen müssen höhere Stimmanteile als die Überschreitung der Hälfte erreicht werden. So können Normen vorsehen, dass zwei Drittel oder drei Viertel des Quorums erreicht werden müssen (z.B. Art. 42 I 2, 79 II, 80a I 2 GG). Insofern spricht man von einer qualifizierten Mehrheit.
Solche Qualifizierungserfordernisse sind stets rechtfertigungsbedürftig, weil durch sie die Position der Minderheit gegenüber der Mehrheit aufgewertet wird. Es genügt dann z.B. wenn die Minderheit ein Drittel der Stimmen aufbringt, um die von der Mehrheit bevorzugte Option zu verhindern (sogenannte Sperrminorität). Dadurch werden die Stimmgewichte von Mehrheit und Minderheit verschoben, mithin wird die demokratische Gleichheit aufgehoben.
Klausurtaktik
Diese Ausnahmen müssen in der Klausur nicht gerechtfertigt werden, weil die Ausnahmen entsprechend normiert sein werden. Die Rechtfertigung kann aber oft zur Argumentation herangezogen werden, da sie regelmäßig das Telos der Norm bildet, die eine andere Mehrheit voraussetzt. Solche Gründe sind z.B. Schutz struktureller (nicht parlamentarischer) Minderheiten, Schutz zentraler Grundrechtsbereiche und Verfassungsstabilität, rechtsstaatlicher Bestands- beziehungsweise Vertrauensschutz sowie die Sicherung der Funktionsfähigkeit des Parlaments.
Anders als bei der einfachen oder relativen Mehrheit muss nicht eine Stimme mehr als für die anderen Optionen erreicht werden, sondern es reicht aus, dass der Stimmanteil genau erfüllt wird.
Beispiel: Bei 600 Abgeordneten im Bundestag ist eine Zweidrittelmehrheit bereits bei 400 Abgeordneten erreicht, nicht erst bei 401. (Dagegen reicht es für eine einfache Mehrheit nicht aus, wenn nur 300 Abgeordnete mit Ja stimmen. Hier wären 301 Stimmen notwendig.)
In Sonderfällen muss neben dem erhöhten Stimmanteil ein weiteres Kriterium erfüllt sein. Hierbei handelt es sich um sogenannte doppelt qualifizierte Mehrheiten.
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Überblick und Beispiele
Auf den ersten Blick scheinen die verschiedenen Möglichkeiten von Mehrheiten vollkommen unübersichtlich. Die folgende Tabelle stellt den Versuch einer Systematisierung dar und kombiniert dafür alle möglichen Bezugsgrößen (Spalten) mit den verschiedenen Stimmanteilen (Zeilen). Entsprechend ergibt sich die Bezeichnung der einzelnen Mehrheiten (in fett). Teils existieren alternative Bezeichnungen (=). Kurze Zusammenfassungen der Mehrheiten sowie Beispiele aus dem Staatsorganisationsrecht (mit →) werden angegeben. In einer zweiten Zeile soll ein Zahlenbeispiel die Berechnung der Mehrheit veranschaulichen (in kursiv).
Eine Besonderheit bildet die Dreiteilung in einfache, relative und absolute Abstimmungsmehrheit. Bei der doppelt qualifizierten Mehrheit werden mindestens zwei unterschiedliche Bezugsgrößen in den Blick genommen, was zur Darstellung in einer gemeinsamen Spalte führt.
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Weiterführende Studienliteratur
Übungsklausur (in Teilen auch für Anfänger geeignet) u.a. zu unterschiedlichen Mehrheiten und zur Behandlung von Enthaltungen (636 f.): Droege/Broscheit, (Original-)Referendarexamensklausur – Öffentliches Recht: Staatsorganisationsrecht – Land unter... Der Einsatz der Bundeswehr als letztes Mittel?, JuS 2015, 633.
Systematischer Überblick mit Fallbeispielen: Kaiser, Mehrheitserfordernisse im Staatsrecht, JuS 2017, 221.
Eventuell zur Vertiefung (sehr ausführlich): Magsaam, Mehrheit entscheidet. Ausgestaltung und Anwendung des Majoritätsprinzips im Verfassungsrecht des Bundes und der Länder, 2014, S. 63 ff.
Zusammenfassung: Die wichtigsten Punkte
1. Schritt: Bezugsgröße der Mehrheit festlegen: Abstimmende, Anwesende, Mitglieder.
2. Schritt: Stimmanteil festlegen: die meisten Stimmen (relativ), mehr als die Hälfte (einfach beziehungsweise absolut), zwei Drittel oder Ähnliche (qualifiziert).
Abhängig von der Bezugsgröße sind Enthaltungen einzuordnen: Abstimmungsmehrheit – irrelevant ↔ Anwesenden-/Mitgliedermehrheit – wie Nein-Stimmen.
§ 5.4 Minderheitenschutz
Notwendiges Vorwissen: Grundzüge der Opposition und des Demokratieprinzips
Lernziel: Minderheitenschutz herleiten und in einer Klausur prüfen können
Ausgehend vom Demokratieprinzip (und dem Rechtsstaatsprinzip, sowie der Freiheit und Gleichheit der Abgeordneten) besteht der parlamentarische Minderheitenschutz und das Recht auf parlamentarische Opposition.
Minderheitenschutz im staatsorganisationsrechtlichem Sinne ist dabei nicht derart zu verstehen, dass marginalisierten Gruppen spezifische Rechte zugesprochen werden, sondern dass die politische Minderheit im demokratischen Willensbildungsprozess verfassungsrechtlich gewährleistet sein muss. Zwar orientiert sich die Interessensvertretung in der Bundesrepublik am Mehrheitsprinzip (Art. 42 II GG), trotzdem muss die Minderheit (Opposition) grundsätzlich die Möglichkeit haben, selbst die Mehrheit zu stellen. Individueller Minderheitenschutz ist in den Grundrechten verankert, wie beispielsweise in Art. 4, 5 I, 8 I GG.
Herleitung des parlamentarischen Minderheitenschutzes
Als verfassungsrechtliche Grundlagen zur Herleitung des parlamentarischen Minderheitenschutzes werden das Demokratieprinzip (Art. 20 I, II und Art. 28 I 1 GG), das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 III und Art. 28 I 1 GG) und die Freiheit und Gleichheit der Abgeordneten (Art. 38 I 2 GG) herangezogen.
Demokratieprinzip (Art. 20 I, II und Art. 28 I 1 GG)
Das Demokratieprinzip ist vom Grundsatz der Mehrheit geprägt (Art. 42 II GG), erfährt aber Ausnahmen durch den parlamentarischen Minderheitenschutz (Art. 23 Ia 2, 39 III 3, 44 I 1, 45a II 2 GG und Art. 93 I Nr. 2 GG). Die Verfassung und die demokratischen Prozesse stützen sich somit nicht ausschließlich auf Mehrheitsentscheidungen, die parlamentarische Minderheit wird unmittelbar mitbedacht. Schlussendlich soll jede parlamentarische Minderheit zumindest prinzipiell die Chance haben, zur Mehrheit werden zu können. Dieses Recht umfasst, dass die innerparlamentarische wie auch außerparlamentarische Opposition nicht am politischen Wettbewerb behindert werden darf.
Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 III und Art. 28 I 1 GG)
Das Rechtsstaatsprinzip umfasst unter anderem das Prinzip der Gewaltenteilung – und somit auch die wechselseitige Kontrolle der gesetzgebenden, der vollziehenden und der rechtsprechenden Gewalt. Die parlamentarische Kontrolle der Regierung muss mithin sichergestellt sein. Das deutsche parlamentarische Regierungssystem ist darauf ausgelegt, dass die Regierung durch die Mehrheit des Parlaments legitimiert ist (Art. 63, 67, 68 GG), wodurch die Regierungsfraktionen im Bundestag wenig Anreize zur Kontrolle haben. Den Abgeordneten und Fraktionen der Opposition kommt daher eine besondere Kontrollrolle zu. Die Rechte der parlamentarischen Opposition müssen daher geschützt werden.
Freiheit und Gleichheit der Abgeordneten (Art. 38 I 2 GG)
Das Recht des einzelnen Abgeordneten, Oppositionsarbeit zu leisten, wird daneben auch aus der Freiheit und Gleichheit der Abgeordneten (Art. 38 I 2 GG) abgeleitet. Das BVerfG bezeichnet das als „Recht zum Opponieren“, wodurch der:die einzelne Abgeordnete Träger von „Oppositionsfreiheit“ beziehungsweise „verhaltensbezogen-prozeduraler Oppositionsmöglichkeit“ wird.
Ausgestaltung im Konkreten
Die Minderheitenrechte des Grundgesetzes
Die Verfassung enthält verschiedene Rechte, die dem Schutz der parlamentarischen Minderheit dienen, und von denen vor allem die Opposition Gebrauch zu machen pflegt. Zu nennen sind hier in erster Linie das Recht auf Einrichtung eines Untersuchungsausschusses nach Art. 44 GG und das Recht auf Einleitung eines abstrakten Normenkontrollverfahrens nach Art. 93 I Nr. 2 GG durch jeweils ein Viertel der Mitglieder des Bundestags. In der Praxis bedeutsam ist daneben auch die prozessstandschaftliche Geltendmachung der Parlamentsrechte durch die Opposition im Wege des Organstreitverfahrens nach Art. 93 I Nr. 1 GG.
Ein Viertel der Mitglieder des Bundestages ist nach Art. 23 Ia 2 GG ferner dazu berechtigt, den Bundestag zu verpflichten, eine Subsidiaritätsklage vor dem EuGH zu erheben. Die Durchführung derartiger Klageverfahren wurde allerdings auf der Grundlage von Art. 45 S. 2 GG dem Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union übertragen (vgl. § 93d I GOBT). Wenig praktische Bedeutung hat auch das Recht eines Zehntels der Mitglieder des Bundestags nach Art. 42 I 2 GG, die nichtöffentliche Verhandlung des Bundestags zu beantragen. Zum einen steht dieses Antragsrecht nämlich auch der Bundesregierung selbst zu (vgl. Art. 42 I 2 Var. 2 GG). Andererseits setzt die Stattgabe des Antrags eine Zwei-Drittel-Mehrheit des Bundestags voraus (Art. 42 I 2 GG). Größere Praxisrelevanz hat dagegen die Regelung des Art. 45a II 2 GG. Danach kann eine Minderheit von einem Viertel der Mitglieder des Verteidigungsausschusses diesen dazu verpflichten, eine bestimmte Angelegenheit zum Gegenstand seiner Untersuchungen zu machen. Schließlich existiert auch im Rahmen der Anklage des Bundespräsidenten ein gewisses "Minderheitenrecht". So kann nach Art. 61 I 2 GG bereits ein Viertel der Mitglieder des Bundestags den Antrag auf Anklageerhebung stellen. Allerdings bedarf der Beschluss über die Anklageerhebung sodann der Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestags oder zwei Dritteln der Mitglieder des Bundesrats (vgl. Art. 61 I 3 GG).
Grundsatz der effektiven Opposition als Teil des Minderheitenschutzes
Insgesamt muss im Rahmen des Minderheitenschutzes der parlamentarischen Minderheiten ermöglicht werden, den eigenen Standpunkt im Willensbildungsprozess des Parlaments einzubringen. Dazu gehört u.a. die Repräsentation in Ausschüssen, wenn dort Sachentscheidungen getroffen werden.
Weiterführendes Wissen
Eng damit verknüpft ist der Grundsatz der Spiegelbildlichkeit von Parlament, Ausschüssen und der Besetzung von Vermittlungsausschüssen. Der Grundsatz leitet sich aus Art. 38 I 2 GG ab, da allen Abgeordneten prinzipiell die gleichen Mitwirkungsbefugnisse zustehen und somit auch das Recht auf gleiche Teilhabe am Prozess der parlamentarischen Willensbildung umfasst.
Gleichzeitig muss der parlamentarische Minderheitenschutz effektiv gestaltet sein, da nur so die parlamentarische Kontrollfunktion tatsächlich ausgeübt werden kann. Das BVerfG benennt daher einen „Grundsatz der effektiven Opposition“. Demnach dürfen die „Kontrollbefugnisse nicht auf das Wohlwollen der Parlamentsmehrheit angewiesen sein“. Grund dafür sei, dass „die Kontrollbefugnisse der parlamentarischen Opposition nicht nur in ihrem eigenen Interesse, sondern in erster Linie im Interesse des demokratischen, gewaltengegliederten Staates – nämlich zur öffentlichen Kontrolle der von der Mehrheit gestützten Regierung und ihrer Exekutivorgane – in die Hand gegeben“ sind. Somit wurzelt der Grundsatz der effektiven Opposition im Demokratieprinzip nach Art. 20 I, II und Art. 28 I 1 GG. Er stellt einen „allgemeinen verfassungsrechtlichen Grundsatz“ dar, unter den das BVerfG verschiedene bis dahin entwickelte Rechtspositionen der Opposition zusammenfasst. So umfasst der Grundsatz effektiver Opposition das Recht der Parteien auf verfassungsgemäße Bildung und Ausübung einer Opposition. Dieses Recht wurde bereits in einer der ersten Entscheidungen des BVerfG begründet.
Festzuhalten ist allerdings, dass das Grundgesetz weder explizit spezifische Oppositionsfraktionsrechte begründet, noch sich ein Gebot zur Schaffung solcher Rechte aus dem Grundgesetz ableiten lässt.
Klassische Klausurkonstellationen
Die Frage nach dem parlamentarischen Minderheitenschutz und dem Grundsatz der effektiven Opposition sollte in zwei Problemkonstellationen unbedingt angesprochen werden: Dem sog. GroKo Fall und bei einer möglichen Verlängerung der Legislaturperiode.
GroKo Fall
Das letzte Mal musste das BVerfG über die Frage des Oppositionsschutzes im Jahr 2016 entscheiden, als die Mehrheitsverhältnisse im 18. Deutschen Bundestag aufgrund der Regierungskoalition zwischen CDU/CSU und SPD dazu führte, dass lediglich 127 von 630 Sitze auf die Opposition entfielen. Damit unterschritt die Gesamtheit der Abgeordneten der Oppositionsfraktionen die Quoren, die das Grundgesetz für die Ausübung von parlamentarischen Minderheitenrechten vorsieht. In diesem Urteil betonte das Gericht zwar den Grundsatz der effektiven Opposition, verneinte allerdings einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf Einräumung von Oppositionsfraktionsrechten.
Fallbeispiel
Ein Blick zu den Hauptstadtfällen der Freien Universität Berlin wird an dieser Stelle ausdrücklich empfohlen. Die eben erwähnte Entscheidung befasst sich sowohl verfassungsprozessrechtlich, wie auch materiall-rechtlich mit Themen, die im Examen gerne geprüft werden (Prozessstandschaft, legislatives Unterlassen, teleologische Reduktion und Analogien).
Examenswissen: In der Examensklausur sollte zuerst die Herleitung des Grundsatzes der effektiven Opposition sauber dargestellt werden. Dabei empfiehlt es sich, zuerst einmal auf den notwendigen Schutz der Opposition einzugehen und dann zu betonen, warum dieser Schutz auch effektiv auszugestalten ist. Der Grundsatz der effektiven Opposition ist schlussendlich dann gewahrt, wenn die Opposition bei der Ausübung ihrer Kontrollbefugnisse nicht auf das Wohlwollen der Parlamentsmehrheit angewiesen ist und dazu in der Lage ist, die parlamentarische Kontrolle auszuüben.
Anschließend muss sich mit der Frage auseinandergesetzt werden, ob sich daraus auch ein verfassungsrechtlicher Anspruch auf Einräumung von Oppositionsfraktionsrechten ergibt. Dies lehnte das Gericht aufgrund von zwei Gründen ab:
Zum einen beruhe der verfassungsrechtliche Grundsatz effektiver Opposition auf individueller und nicht institutioneller Oppositionsmöglichkeit,
zum anderen stehe einem solchen Recht die Gleichheit der Abgeordneten aus Art. 38 I 2 GG entgegen.
Zum ersten Grund: Laut BVerfG erkenne die Verfassung schon nicht an, dass Oppositionsfraktionen als spezifische Rechtsträger existieren – das Wort der Opposition sei der Verfassung sogar fremd. Die Verankerung von Oppositionsfraktionsrechten sei zwar von der Gemeinsamen Verfassungskommission nach der Wiedervereinigung erwogen worden, der Antrag fand aber nicht die erforderliche Mehrheit. Das Gericht argumentiert schlussendlich, dass bestehende Rechte der parlamentarischen Oppositionsfraktionen keine spezifischen Oppositionsrechte sind, sondern sich aus einem Zusammenschluss der Minderheitenrechte ergeben.
Im Ergebnis ergebe sich aus der Verfassung lediglich eine Funktionsgarantie der Opposition - und gerade keine Institutionsgarantie. Dieser Begründungslinie des BVerfG ist durchaus zuzustimmen.
Zum zweiten Grund: Darüber hinaus ergebe sich aus dem Gleichheitsgedanken ein verfassungsrechtliches Verbot der Einräumung von exklusiven Oppositionsfraktionsrechten. Laut BVerfG stehe der Einführung spezifischer Oppositionsfraktionsrechte Art. 38 I 2 GG entgegen. In Art. 38 I 2 GG sei der Grundsatz der Gleichheit der Abgeordneten und ihrer Zusammenschlüsse verankert. Exklusive Oppositionsfraktionsrechte würden mithin die Regierungsfraktionen und deren Abgeordnete ungleich behandeln. Das Gericht sieht keine Rechtfertigungsmöglichkeiten für eine solche Bevorzugung der Opposition. An dieser Stelle vermag das Urteil weniger zu überzeugen. Zum einen könnte die Kontrollfunktion der Opposition als Rechtfertigung eines Eingriffs in Art. 38 I 2 GG der Regierungsabgeordneten herangezogen werden. Zum anderen kann bereits bezweifelt werden, ob es sich bei der Einrichtung von Oppositionsfraktionsrechten überhaupt um eine Bevorzugung handelt, oder viel mehr um eine Gleichstellung mit den strukturell bevorzugten Regierungsfraktionen. An dieser Stelle können die Studierenden eigenständig entscheiden, welche Argumente überzeugender erscheinen.
Verlängerung Legislaturperiode
Der parlamentarische Minderheitenschutz setzt zudem voraus, dass Oppositionsarbeit dazu führen kann, dass die Opposition grundsätzlich zur Regierung werden kann. Daher müssen in regelmäßigen Abständen Wahlen stattfinden. Zum Themenkomplex der Periodizität der Wahl siehe die Ausführungen unter dem Prinzip der Volkssouveränität.
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Weiterführende Studienliteratur
Waldhoff, in: Herdegen/Masing/Poscher/Gärditz, Handbuch des Verfassungsrechts, 2021, § 10 Rn. 113.
Ingold, Oppositionsrechte stärken?, ZRP 2016, 143.
Zusammenfassung: Die wichtigsten Punkte
Der parlamentarische Minderheitenschutz und der Grundsatz einer effektiven Opposition ergeben sich aus dem Demokratieprinzip, dem Rechtsstaatsprinzip und der Freiheit und Gleichheit der Abgeordneten.
Die Verfassung enthält verschiedene Rechte, die dem Schutz der parlamentarischen Minderheit dienen.
Besonders relevant ist dabei das Recht auf Einrichtung eines Untersuchungsausschusses nach Art. 44 GG und das Recht auf Einleitung eines abstrakten Normenkontrollverfahrens nach Art. 93 I Nr. 2 GG.
Umstritten ist, ob sich ein verfassungsrechtlicher Anspruch auf Einräumung von Oppositionsfraktionsrechten ergeben kann. Dies verneinte das BVerfG 2016. Zum einen beruhe der verfassungsrechtliche Grundsatz effektiver Opposition auf individueller und nicht institutioneller Oppositionsmöglichkeit, zum anderen stehe einem solchen Recht die Gleichheit der Abgeordneten aus Art. 38 I 2 GG entgegen.
§ 5.5 Parlamentsvorbehalt
Notwendiges Vorwissen: Grundlegendes Wissen zum Demokratieprinzip
Lernziel: Kenntnis der „Wesentlichkeitsrechtsprechung“ des BVerfG
Nach dem Demokratieprinzip geht alle Staatsgewalt vom Volke aus (Art. 20 II 1 GG). Daher muss jede staatliche Handlung demokratisch legitimiert, das heißt (mehr oder weniger mittelbar) auf den Willen des Volkes zurückführbar sein. Doch das Demokratieprinzip stellt insoweit nicht an jede staatliche Handlung dieselben Anforderungen. Vielmehr variieren die Anforderungen an die demokratische Rückbindung von Fall zu Fall. Während weniger wichtige Entscheidungen mit einer schwächeren demokratischen Legitimation auskommen, bedürfen wichtige Entscheidungen einer stärkeren, unmittelbaren demokratischen Legitimation. Dies ist der Grundgedanke der Wesentlichkeitslehre des BVerfG.
Die Wesentlichkeitstheorie
Nach dieser Lehre müssen alle „wesentlichen“ Entscheidungen durch das Parlament (auf Bundesebene: durch den Bundestag) getroffen werden. Grund hierfür ist die besondere demokratische Legitimation des Parlaments. Nicht nur ist der Bundestag das einzige unmittelbar gewählte Verfassungsorgan in der Bundesrepublik Deutschland (Art. 38 I 1 GG). Er entscheidet zudem in einem öffentlichen, transparenten Verfahren (Art. 42 I 1 GG) unter Einbeziehung auch der Opposition. Indem alle „wesentlichen“ Entscheidungen dem Parlament vorbehalten werden – man spricht deshalb auch von einem Parlamentsvorbehalt – wird also sichergestellt, dass sich die Öffentlichkeit ihre Auffassung zu der Entscheidung bilden und diese vertreten kann. Angesichts dieser Bedeutung und Funktion der parlamentarischen Entscheidungsfindung für die Demokratie ist es nicht nur ein Recht, sondern auch die Pflicht des Parlaments die wesentlichen Entscheidungen zu treffen.
Weiterführendes Wissen
Die Wesentlichkeitsrechtsprechung des BVerfG kann als Reaktion auf das Ermächtigungsgesetz der Nationalsozialisten verstanden werden, durch welches das Parlament seine Rechtsetzungsmacht uneingeschränkt auf die Reichsregierung übertrug und sich damit selbst entmachtete. Eine solche (Selbst-)Entmachtung des Parlaments ist mit der demokratischen Grundordnung unvereinbar, weshalb sich die Wesentlichkeitstheorie und der Parlamentsvorbehalt als Essential der grundgesetzlichen Ordnung darstellen.
Die Wesentlichkeitstheorie gibt sich aber nicht damit zufrieden, dass eine Frage vom Parlament geregelt wurde. Entscheidend ist vielmehr, dass das Parlament die wesentlichen Fragen im Gesetz selbst beantwortet und sie nicht in die Hände der Exekutive gibt. Insoweit verlangt die Wesentlichkeitstheorie eine hinreichend bestimmte Regelung der wesentlichen Fragen. Erst diese (auch für Klausursituationen relevante) Kombination von Wesentlichkeitstheorie und Bestimmtheitsgebot verhindert eine Übertragung von Entscheidungsbefugnissen an die Exekutive und sichert damit die Rolle des Parlaments als Leitgewalt im Staat.
Beispiel: So darf sich das Parlament nicht auf den Erlass einer Generalklausel („Die zuständige Behörde darf die erforderlichen Maßnahmen ergreifen...“) beschränken. Sonst würde letztlich die Exekutive entscheiden, wann welche Maßnahmen getroffen werden. Vielmehr muss der Bundestag die Handlungsmöglichkeiten der Exekutive durch hinreichend bestimmte Vorgaben einhegen. Deshalb wird etwa in den §§ 38 ff. BPolG im Einzelnen aufgezählt, unter welchen Voraussetzungen verschiedene Maßnahmen (Platzverweis, Ingewahrsamnahme etc.) der Bundespolizei zulässig sind.
Die im Einzelnen schwer zu bestimmenden Anforderungen des Bestimmtheitsgebots wurden im Abschnitt zum rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebot näher dargelegt. Diese Ausführungen können auf die Wesentlichkeitstheorie übertragen werden.
Weiterführendes Wissen
Die soeben geschilderte Bestimmtheits-Problematik wird insbesondere auch im Rahmen des Art. 80 I GG relevant. Diese Vorschrift ermöglicht es dem Parlament, die Exekutive zum Erlass von Verordnungen zu ermächtigen. Das Parlament kann seine Rechtssetzungsbefugnis also an die Exekutive delegieren. Damit die wesentlichen Entscheidungen aber nach wie vor vom Parlament getroffen werden, muss die Verordnungsermächtigung den Inhalt, den Zweck und das Ausmaß der Verordnung (hinreichend bestimmt) vorgeben (S. 2). Dabei hängen die Anforderungen des Bestimmtheitsgebots von der geregelten Materie, insbesondere von der „Grundrechtswesentlichkeit“ ab.
Das genaue Verhältnis der Wesentlichkeitstheorie zu Art. 80 I 2 GG ist allerdings umstritten. Nach hier vertretener Ansicht ist Art. 80 I 2 GG eine besondere Ausprägung des Parlamentsvorbehalts. Die Bestimmtheitsanforderungen des Art. 80 GG werden also maßgeblich durch die Wesentlichkeitstheorie geprägt. Teilweise wird dagegen eine Trennung der beiden Rechtsinstitute vorgeschlagen. Danach gebe die Wesentlichkeitstheorie vor, welche Gegenstände das Parlament selbst regeln müsse; in diesem Bereich sei der parlamentarische Gesetzgeber daran gehindert, seine Regelungsbefugnis an die Exekutive zu delegieren (sogenannte Delegationssperre). Nur im Übrigen sei eine Delegation an den Verordnungsgeber unter Wahrung der Anforderungen des Art. 80 I 2 GG zulässig. Diese Trennung von Wesentlichkeitstheorie und Bestimmtheitsgebot erscheint allerdings zu schematisch. Es gibt keine Regelungsmaterien, die per se bis ins letzte Detail „wesentlich“ sind. Deshalb überzeugt es auch nicht, einzelne Regelungsgegenstände durch eine „Delegationssperre“ vollumfänglich einer parlamentarischen Regelung vorzubehalten. Vielmehr gibt es in (nahezu) jedem Regelungsfeld Fragen, die so wesentlich sind, dass der Gesetzgeber sie zu entscheiden hat und solche, die auch durch die Exekutive geregelt werden können. Dem kann am besten Rechnung getragen werden, indem die Bestimmtheitsanforderungen des Art. 80 I 2 GG – wie oben vorgeschlagen – von der „Wesentlichkeit“ der Regelungsmaterie und der konkreten Frage abhängig gemacht werden. So müssen die Vorgaben an den Verordnungsgeber in „wesentlichen“ Fragen besonders präzise sein; in „unwesentlichen“ Fragen ist das Bestimmtheitsgebot des Art. 80 I 2 GG dagegen weniger streng zu handhaben.
Fallgruppen des Parlamentsvorbehalts
Aus der Wesentlichkeitstheorie folgt nicht, dass sämtliche Sachfragen eine parlamentarische Entscheidung erfordern. Es gibt keinen Totalvorbehalt oder pauschalen Vorrang des Parlaments gegenüber anderen Verfassungsorganen. Vielmehr findet der Parlamentsvorbehalt nur in spezifischen Fallgruppen Anwendung:
Hierzu haben sich grundrechtswesentliche Fragen, Fälle des Organisationsvorbehalts sowie Entscheidungen über Auslandseinsätze der Bundeswehr als anerkannte Fallgruppen des Parlamentsvorbehalts herausgebildet. Darüber hinaus wird ein allgemeiner Parlamentsvorbehalt in gesellschaftlich umstrittenen Fragen erwogen.
Grundrechtswesentlichkeit
Die Wesentlichkeitstheorie verpflichtet den parlamentarischen Gesetzgeber, „in grundlegenden normativen Bereichen, zumal im Bereich der Grundrechtsausübung, soweit diese staatlicher Regelung zugänglich ist, alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen“. Wesentlichkeit bedeutet also zunächst einmal Grundrechtswesentlichkeit. Ob eine Regelung durch Parlamentsgesetz erforderlich ist und wie detailliert diese auszufallen hat, hängt davon ab, wie bedeutsam die betreffenden Fragen für die Grundrechtsausübung sind. Hierfür bildet die Intensität des Grundrechtseingriffs ein wichtiges Kriterium.
Beispiel: Eine Höchstaltersgrenze für die Tätigkeit als Fluglotse ist aufgrund ihrer Bedeutung für die Berufsfreiheit der Betroffenen durch ein Parlamentsgesetz zu regeln.
Je intensiver Grundrechte betroffen sind, desto höher sind auch die durch die Wesentlichkeitstheorie gestellten Anforderungen an die zu treffende parlamentsgesetzliche Regelung. Bei Maßnahmen von hoher Grundrechtsintensität genügt eine parlamentsgesetzliche Generalklausel den Anforderungen des Parlamentsvorbehalts nicht mehr. Die Voraussetzungen der Maßnahme sind in einer speziellen parlamentsgesetzlichen Rechtsnorm näher zu regeln.
Beispiel: Ein Kopftuchverbot für Lehrkräfte im Schulunterricht lässt sich aufgrund der Intensität des Eingriffs in Art. 4 I, II GG nicht auf die allgemeinen Klauseln zur beamtenrechtlichen Eignung im jeweiligen Landesbeamtengesetz stützen. Eine derart grundrechtsintensive Regelung erfordert eine spezielle parlamentsgesetzliche Rechtsgrundlage.
Organisationsvorbehalt
Nicht nur grundrechtsrelevante Fragen, sondern auch Organisationsentscheidungen unterliegen dem Parlamentsvorbehalt. Teilweise sieht das Grundgesetz ausdrücklich einen Gesetzesvorbehalt für bestimmte Organisationsentscheidungen vor (z.B. Art. 28 II GG für die Regelung der kommunalen Selbstverwaltung oder Art. 87 III 1 GG für die Errichtung selbständiger Bundesoberbehörden, neuer bundesunmittelbarer Körperschaften oder Anstalten des öffentlichen Rechts). Darüber hinaus lassen sich auf Grundlage der Wesentlichkeitstheorie ungeschriebene institutionelle Gesetzesvorbehalte herleiten. So hat der parlamentarische Gesetzgeber hinreichend detaillierte Vorgaben für die Organisation selbstverwaltender Körperschaften zu machen.
Beispiel: Beispielweise hat das BVerfG in einer Entscheidung zu den Notarkassen klargestellt, dass die Errichtung eines Selbstverwaltungsträgers eine hinreichend bestimmte parlamentsgesetzliche Regelung erfordert. Hierbei muss das Gesetz auch Vorgaben für das Verfahren der Entscheidungsfindung innerhalb der Notarkassen beinhalten, um „eine angemessene Partizipation der Berufsangehörigen an der Willensbildung [zu] gewährleisten.“
Entgegenstehende Prinzipien wie etwa der Kernbereich der Regierung stellen eine Grenze für die auf Grundlage der Wesentlichkeitstheorie hergeleiteten ungeschriebenen institutionellen Gesetzesvorbehalte dar.
Beispiel: Unter diesem Gesichtspunkt ist die Entscheidung des nordrhein-westfälischen Verfassungsgerichtshofs, die Wesentlichkeitstheorie auf die Zusammenlegung des Innen- und des Justizministeriums durch den Ministerpräsidenten anzuwenden, im Schrifttum auf Kritik gestoßen. In einer solchen Konstellation stellt die Wesentlichkeitstheorie nicht mehr sicher, dass die Legislative eine ihr zugewiesene Aufgabe wahrnimmt, sondern verschiebt die Kompetenzverteilung zwischen Exekutive und Legislative.
Auslandseinsätze der Bundeswehr
Entscheidungen über den Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Ausland unterliegen dem sogenannten wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalt. Der außenpolitische Gestaltungsspielraum der Exekutive endet mit der Anwendung militärischer Gewalt. Aus dem Demokratieprinzip folgt, dass eine derart wesentliche Entscheidung wie die Entscheidung über Kampfeinsätze im Ausland durch den Bundestag zu treffen ist. Der Bundestag nimmt hier nicht nur eine kontrollierende Rolle ein, sondern trifft die grundlegende, konstitutive Entscheidung über die Entsendung der Bundeswehr ins Ausland. Ihm kommt die Verantwortung für den bewaffneten Außeneinsatz der Bundeswehr zu. Die Bundeswehr lässt sich daher als „Parlamentsarmee“charakterisieren. Der wehrverfassungsrechtliche Parlamentsvorbehalt ist lediglich ein „Zustimmungsvorbehalt“. Ein Initiativrecht zur Entsendung von Streitkräften in das Ausland kommt dem Bundestag nicht zu. Der ohnehin nur in engen Grenzen zulässige Einsatz der Bundeswehr im Inland unterliegt nicht dem wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalt.
Examenswissen: Das BVerfG hat den wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalt nicht anhand der Wesentlichkeitstheorie, sondern anhand der deutschen Verfassungstradition seit 1918 begründet. So hat es den wehrverfassungsrechtlichen Vorschriften des Grundgesetzes ein ungeschriebenes Prinzip entnommen, wonach „der Einsatz bewaffneter Streitkräfte der konstitutiven, grundsätzlich vorherigen Zustimmung des Bundestages unterliegt.“ Dessen ungeachtet lässt sich ein Bezug zwischen wehrverfassungsrechtlichem Parlamentsvorbehalt und Wesentlichkeitstheorie herstellen. Schließlich stellt die „Entscheidung über Krieg und Frieden“ eine denkbar wesentliche Entscheidung dar, die nach dem Demokratieprinzip nicht am Parlament vorbei getroffen werden kann.
Weiterführendes Wissen zum Verfahren bei Beteiligung des Bundestages
Das Verfahren der Beteiligung des Bundestages bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr ist im Parlamentsbeteiligungsgesetz (ParlBetG) geregelt. Die Bundesregierung hat dem Bundestag einen Antrag auf Zustimmung zum Einsatz der Streitkräfte rechtzeitig vor Beginn des Einsatzes zu übersenden (§ 3 I ParlBetG). Der Bundestag kann dem Antrag nur zustimmen oder ihn ablehnen, nicht jedoch Änderungen vornehmen (§ 3 III ParlBetG). In der Praxis hat die Bundesregierung die Möglichkeit, den Änderungswünschen des Bundestages in einer Protokollerklärung nachzukommen, ohne einen neuen Antrag stellen zu müssen. Duldet der Einsatz aufgrund von Gefahr im Verzug keinen Aufschub oder würde die öffentliche Befassung des Bundestags bei Rettungseinsätzen die Leben der zu rettenden Menschen gefährden, ist der Antrag auf Zustimmung zum Einsatz unverzüglich nachzuholen (§ 5 III 1 ParlBetG). Eine solche nachträgliche Zustimmung des Bundestags erfolgte etwa im August 2021 zum Evakuierungseinsatz in Afghanistan.
Die Zustimmung des Bundestags erfolgt in Form eines Parlamentsbeschlusses mit einfacher Mehrheit (Art. 42 II 1 GG). Der Parlamentsvorbehalt schreibt nicht ein Parlamentsgesetz als zwingende Handlungsform vor, sondern kann auch die Übernahme parlamentarischer Verantwortung jenseits des Gesetzgebungsverfahrens bedeuten.
Parlamentsvorbehalt in gesellschaftlich umstrittenen Fragen
Neben der Grundrechtsrelevanz kann auch die gesellschaftliche Umstrittenheit einer Frage jedenfalls ein untergeordnetes Kriterium zur Bestimmung der Wesentlichkeit darstellen. Ein allgemeiner Parlamentsvorbehalt in sämtlichen politisch bedeutsamen oder gesellschaftlich umstrittenen Fragen lässt sich anhand der Wesentlichkeitstheorie hingegen nicht konstruieren.
Beispiel: So hat der Berliner Verfassungsgerichtshof (am Maßstab der Landesverfassung) entschieden, dass die Schließung der staatlichen Schauspielbühnen auch ohne parlamentarische Zustimmung erfolgen kann und einen allgemeinen Parlamentsvorbehalt für grundlegende Entscheidungen jedweder Art abgelehnt.
Insbesondere darf der Parlamentsvorbehalt nicht soweit ausgedehnt werden, dass er in Kompetenzen übergreift, die das Grundgesetz der Exekutive zuweist. Dem Grundsatz der parlamentarischen Demokratie lässt sich kein Vorrang des Parlaments und seiner Entscheidungen gegenüber der Exekutive entnehmen. Der Umstand, dass eine Frage politisch umstritten ist, vermag die durch das Grundgesetz zugeordneten Entscheidungskompetenzen nicht zu verschieben.
Aktuelle Problemfälle
Flüchtlingspolitik
Die Figur eines Parlamentsvorbehalts in gesellschaftlich umstrittenen Fragen wurde zuletzt vor dem Hintergrund der sogenannten Flüchtlingskrise diskutiert. Anlass hierfür war die im September 2015 von der Bundesregierung getroffene Entscheidung, einer großen Zahl von Schutzsuchenden die Einreise in das Bundesgebiet zu gestatten.
Aufgrund der politischen Bedeutsamkeit der Entscheidung zur Einreisegestattung und der damit einhergehenden weitreichenden Folgen für das Gemeinwesen wurde in der Folgezeit in der rechtswissenschaftlichen Debatte ein Verstoß gegen die Wesentlichkeitstheorie erwogen. Dem wurde entgegenhalten, dass Art. 59 II 1 GG der Exekutive eine exklusive Kompetenz in auswärtigen Angelegenheiten einräumt und hierdurch die Entscheidungsbefugnisse des Parlaments begrenzt. Auch in gesellschaftlich kontroversen Fragen lässt sich die Wesentlichkeitstheorie nicht heranziehen, um die grundgesetzliche Kompetenzverteilung zwischen Exekutive und Legislative zu verschieben.
Das BVerfG hat die Anträge der AfD-Fraktion in einem Organstreitverfahren, das die Verletzung von Beteiligungsrechten des Bundestages durch die Bundesregierung zum Gegenstand hatte, als unzulässig zurückgewiesen. Zu der Frage, ob die Wesentlichkeitstheorie auf die von der Exekutive im Zuge der sogenannten Flüchtlingskrise getroffenen Entscheidungen anzuwenden ist, bezog das Gericht keine Stellung.
COVID-19-Pandemie
Besonders kontrovers war und ist die Frage, ob die Anforderungen der Wesentlichkeitstheorie bei der Bewältigung der COVID-19-Pandemie im Laufe des Jahres 2020 eingehalten wurden. Hierbei ist zwischen den verschiedenen Phasen der Pandemie(bekämpfung) zu unterscheiden. Die Corona-Pandemie ist insoweit ein Lehrstück über den Faktor Zeit und seine Bedeutung für den Parlamentsvorbehalt. Während es zu Beginn der Pandemie verfassungsrechtlich zulässig war, der Exekutive einen großen Spielraum zu belassen, wurde das Bedürfnis nach einer parlamentarischen Regelung im Laufe der Pandemie zunehmend größer. Nicht nur die mit der Zeit zunehmende Intensität der Grundrechtseingriffe sprach für eine parlamentarische Regelung. Auch der Umstand, dass der Gesetzgeber zunehmend Erfahrung im Umgang mit der COVID-19-Pandemie gewinnen konnte, machten eine parlamentsgesetzliche Regelung möglich und aus Sicht der Wesentlichkeitstheorie nötig. Seiner Pflicht zur Regelung der coronabedingten Grundrechtseingriffe ist der Gesetzgeber hierbei erst verspätet (im November 2020) nachgekommen.
Examenswissen: Die Pandemiebekämpfung erfolgte zu Beginn der Krise in erster Linie durch die Landesregierungen. Diese beschlossen – gestützt auf eine Generalklausel im Infektionsschutzgesetz des Bundes (§§ 28 [ggf. i.V.m. 32] IfSG) – die „massivsten Grundrechtseingriffe in der Geschichte der Bundesrepublik“. Für die unmittelbare Reaktion auf den Ausbruch der Pandemie stellte die Generalklausel aber eine ausreichende Grundlage dar. Generalklauseln haben gerade die Funktion die effektive Abwehr neuartiger Gefahren durch die Exekutive zu ermöglichen. Dass hiermit auch schwerwiegende Grundrechtseingriffe einhergehen ist aus Perspektive der Wesentlichkeitstheorie unbedenklich. Denn eine detaillierte Regelung der Pandemiebekämpfung war zu Beginn der Krise mangels Erfahrung gar nicht möglich. Somit stellte die infektionsschutzrechtliche Generalklausel für eine Übergangsphase eine hinreichende Grundlage für die Corona-Maßnahmen dar.
Doch die „Übergangsphase“, in welcher der Bundestag von einer näheren Regelung der Corona-Maßnahmen absah, dauerte bis zum November 2020 an. Zu Recht wurde vielfach kritisiert, dass der Gesetzgeber so lange untätig geblieben ist. Mit der Wesentlichkeitstheorie war es unvereinbar, die schwerwiegenden Grundrechtseingriffe über Monate auf eine unbestimmte Generalklausel zu stützen, die keinerlei Lenkungswirkung entfaltete.
Erst im November 2020 schuf das Parlament mit § 28a IfSG schließlich eine gesetzliche Regelung, die die Corona-Maßnahmen auf eine spezifische gesetzliche Grundlage stellte. Ob der Gesetzgeber seiner Pflicht zur Regelung wesentlicher Fragen hiermit nachgekommen ist, wird wegen der Unbestimmtheit der getroffenen Regelung unterschiedlich beurteilt. Angesichts der anhaltenden Unsicherheit im Umgang mit der Pandemie und der nach wie vor dynamischen Lage sprechen aber gute Gründe dafür, die Regelung (jedenfalls vorübergehend) für ausreichend zu erachten.
Weiterführendes Wissen
§ 28a IfSG wurde insbesondere deshalb kritisiert, weil der Gesetzgeber keine inhaltlichen Impulse gab, sondern sich darauf beschränkte die bisherigen Pandemiebekämpfungsmaßnahmen gesetzlich zu regeln. Hierbei bediente er sich zudem der sogenannten Regelbeispielmethode. Er schuf also keine eigenständigen Ermächtigungsgrundlagen, sondern stellte lediglich klar, dass unter die Generalklausel des § 28 IfSG „insbesondere“ die Anordnung von Abstandsgeboten, die Verhängung einer Maskenpflicht usw. fallen.
Angesichts der Dynamik des Pandemiegeschehens erscheint die Verwendung der Regelbeispielmethode allerdings vertretbar. Man kann dem Gesetzgeber (verfassungsrechtlich) auch nicht vorwerfen, dass er das bisherige Pandemiemanagement lediglich gesetzlich „legitimiert“ hat. Die Wesentlichkeitstheorie verlangt nur, dass der Gesetzgeber wesentliche Fragen selbst regelt. Inhaltliche Vorgaben, etwa eine Pflicht, etwas an der bisherigen exekutiven Praxis zu ändern, lassen sich aus ihr nicht herleiten. Zudem hat der Bundestag einige Vorkehrungen getroffen, die den exekutiven Handlungsspielraum einschränken oder doch wenigstens lenken sollen.
Auch bei der Festlegung der Impfpriorisierung kam der Gesetzgeber seiner Regelungspflicht erst verspätet nach. Die Impfreihenfolge wurde vom Bundestag zunächst in die Hände des Verordnungsgebers gelegt, ohne inhaltliche Vorgaben zu machen. Angesichts der Bedeutung der Impfung für die Verwirklichung der Grundrechte (insbesondere des Grundrechts auf Leben, Art. 2 II 1 GG) wurde dieses Vorgehen in der Rechtswissenschaft einhellig für verfassungswidrig gehalten. Mit Gesetz vom 29.3.2021 hat der Bundestag insoweit aber Abhilfe geschaffen und die Impfpriorisierung der Exekutive auf eine rechtssichere und hinreichend bestimmte Ermächtigungsgrundlage gestellt.
Wesentlichkeitstheorie und Parlamentsvorbehalt in der Klausur
Klausurkonstellation: Prüfung der materiellen Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes
In Klausurlösungen ist die Wesentlichkeitstheorie typischerweise bei der Prüfung der materiellen Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes zu thematisieren.
Fallbeispiel
§ 11 I Nr. 8f TierSchG bestimmt, dass die Tätigkeit als Hundetrainer:in einer behördlichen Erlaubnis bedarf. Die näheren Voraussetzungen für die Erteilung einer solchen Erlaubnis regelt das TierSchG nicht. Die Landesregierung von X hält die Regelung für verfassungswidrig und leitet eine abstrakte Normenkontrolle beim BVerfG ein.
Hier ist im Rahmen der Prüfung der materiellen Verfassungsmäßigkeit von § 11 I Nr. 8f TierSchG auf die Anforderungen der Wesentlichkeitstheorie einzugehen. Insbesondere die hohe Intensität des Eingriffs in die Berufsfreiheit der betroffenen Hundetrainer:innen könnte eine detailliertere parlamentsgesetzliche Regelung erforderlich machen.
Die Wesentlichkeitstheorie in grundrechtswesentlichen Fragen ist auch ein häufig anzutreffender Schwerpunkt in grundrechtlichen Klausuren. In diesem Fall sind die Anforderungen der Wesentlichkeitstheorie im Rahmen der materiellen Verfassungsmäßigkeit des einschränkenden Gesetzes (in den sogenannten „Schranken-Schranken“) zu prüfen
Fallbeispiel
Die Hundetrainerin C wendet sich gegen die Versagung der nach § 11 I Nr. 8f TierSchG erforderlichen Erlaubnis durch die zuständige Behörde. Sie sieht sich in ihrem Grundrecht der Berufsfreiheit aus Art. 12 I GG verletzt und erhebt Verfassungsbeschwerde, nachdem sie den verwaltungsgerichtlichen Rechtsweg zuvor erfolglos beschritten hat.
Im Rahmen der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung eines Eingriffs in die Berufsfreiheit der C ist zu prüfen, ob § 11 I Nr. 8f TierSchG als einschränkendes Gesetz verfassungskonform ist. Auch in dieser Konstellation ist die materielle Verfassungsmäßigkeit von § 11 I Nr. 8f TierSchG zu prüfen und hierbei auf die Anforderungen der Wesentlichkeitstheorie einzugehen.
Klausurkonstellation: Wehrverfassungsrechtlicher Parlamentsvorbehalt im Organstreitverfahren
Demgegenüber ist die Problematik des wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalts typischerweise in ein Organstreitverfahren eingebettet. Der Bundestag handelt hier nicht in Form eines Gesetzes, sondern in Form eines Parlamentsbeschlusses. Sind Auslandseinsätze der Bundeswehr Gegenstand einer Klausur, so liegt dem Sachverhalt in aller Regel ein Konflikt zwischen Bundesregierung und Bundestag über die Reichweite der Beteiligung des Parlaments zugrunde. In der Klausurdarstellung ist hier sauber zwischen den Anforderungen des ungeschriebenen wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalts und den konkretisierenden Vorschriften des ParlBetG zu unterscheiden.
Fallbeispiel
Vor der Küste des Landes X kommt es binnen kürzester Zeit zu mehreren Vorfällen von Piraterie. Die Bundesregierung ist der Ansicht, dass die Situation keinen Aufschub erlaubt und entsendet die Marine, ohne die Zustimmung des Bundestages zuvor einzuholen. Einige Tage nach Einsatzbeginn beantragt sie die Erteilung der nachträglichen Zustimmung durch den Bundestag. Die oppositionelle L-Fraktion sieht hierdurch die Beteiligungsrechte des Bundestages verletzt und leitet ein Organstreitverfahren gegen die Bundesregierung ein.
Im Rahmen der Prüfung der Begründetheit des Organstreitverfahrens bietet es sich zunächst an, mit den einfachgesetzlichen Normen des ParlBetG zu arbeiten und zu prüfen, ob die Zustimmung nach § 5 ParlBetG nachträglich eingeholt werden durfte. Hierbei ist sauber herauszuarbeiten, dass § 5 ParlBetG als Norm des einfachen Rechts die verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht modifizieren kann. Anschließend sind die Grundsätze des wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalts darzustellen und es ist am Maßstab des Grundgesetzes näher zu untersuchen, ob die im vorliegend Fall nachträglich eingeholte Zustimmung des Bundestages den Anforderungen des wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalts genügt.
Darstellung in der Klausur
Der Parlamentsvorbehalt und die Wesentlichkeitstheorie stellen regelmäßig einen Schwerpunkt in staats- und verwaltungsrechtlichen Klausuren dar. Hierbei stellt sich selten das Problem, dass überhaupt keine Regelung getroffen wurde. Häufiger ist fraglich, ob die parlamentarische Regelung hinreichend bestimmt ist. Hierbei sollte man sich bei der Klausurlösung von der Erkenntnis leiten lassen, dass die Anforderungen des Parlamentsvorbehalts in Wissenschaft und Praxis umstritten und einzelfallabhängig anzuwenden sind. Deshalb zeichnet sich eine gelungene Falllösung dadurch aus, dass sie nicht „geradlinig“ auf das Ergebnis zusteuert, sondern Zweifel und Argumente einbringt. Hierbei empfiehlt es sich, zunächst mit allgemeinen Aussagen zur Wesentlichkeitstheorie beziehungsweise zum Bestimmtheitsgebot zu beginnen, um dann klarzumachen, dass diese keine eindeutige Lösung des konkreten Falls zulassen. Das Ergebnis sollte schließlich unter Berücksichtigungen des konkreten Regelungsgegenstands gefunden werden. Etwa so:
Formulierungsbeispiel „Fraglich ist, ob die polizeiliche Generalklausel des Landes L („Die Polizei kann die notwendigen Maßnahmen zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ergreifen.“) mit den Vorgaben der Wesentlichkeitstheorie des BVerfG vereinbar ist. Nach dieser Theorie sind alle Entscheidungen, die für die Verwirklichung der Grundrechte wesentlich sind, dem Parlament vorbehalten (Parlamentsvorbehalt). Das Parlament muss sie somit einer hinreichend bestimmten Regelung zuführen (Bestimmtheitsgebot). Hierbei verlangt die Wesentlichkeits-theorie nicht, dass die parlamentarische Regelung so bestimmt wie nur irgend möglich ist. Der Wille des Gesetzgebers muss indes durch die gängigen Auslegungsmethoden ermittelbar sein. Das Parlament muss der Exekutive zudem so konkrete Vorgaben machen, dass deren Handeln für die Bürger:innen vorhersehbar bleibt (Vorhersehbarkeitsgebot). Ob die Generalklausel mit ihren unbestimmten Rechtsbegriffen („öffentliche Sicherheit und Ordnung“, „notwendig“) diesen Vorgaben entspricht, ist angesichts der hohen Grundrechtsrelevanz polizeilicher Eingriffe zweifelhaft. Zu berücksichtigen ist aber, dass das polizeiliche Handeln oftmals von unbekannten oder atypischen Gefahrenlagen geprägt ist. Das Anliegen effektiver Gefahrenabwehr gebietet es, der Polizei für solche Situationen einen großen Handlungs-spielraum an die Hand zu heben. Dies rechtfertigt den Einsatz von Generalklauseln. Hinzu kommt, dass die verwendeten Rechtsbegriffe in jahrzehntelanger Rechtspraxis hinreichend konturiert sind, sodass der Rahmen der polizeilichen Befugnisse absehbar ist. Vor diesem Hintergrund sind die Vorgaben des Parlamentsvorbehalts als noch gewahrt zu betrachten.“
Klausurtaktik
Ob man entsprechende Fälle unter dem Schlagwort „Wesentlichkeitstheorie/Parlamentsvorbehalt“ oder „Bestimmtheitsgebot“ diskutiert, ist letztlich zweitrangig. Zu einer gelungenen Falllösung dürfte aber die Erkenntnis beitragen, dass die Wesentlichkeitstheorie und das Bestimmtheitsgebot identische Anforderungen stellen. Zwar haben die beiden Anforderungen verschiedene Hintergründe: während das (rechtsstaatliche) Bestimmtheitsgebot sich in erster Linie für die Perspektive der Bürger:innen interessiert (Wird das Handeln des Staates hinreichend berechenbar?), nimmt die Wesentlichkeitstheorie den demokratisch gewählten Gesetzgeber in den Blick (Hat die Volksvertretung hinreichend klare Vorgaben gemacht?). Im Ergebnis führen die beiden Ansätze aber zu denselben Anforderungen an die Bestimmtheit der gesetzlichen Regelung. Eine überzeugende Klausurlösung zeichnet sich daher dadurch aus, dass sie sowohl die rechtsstaats-, als auch die demokratie-bezogenen Aspekte berücksichtigt und einarbeitet.
Weiterführende Studienliteratur
Heinig et al, Why constitution matters – Verfassungsrechtswissenschaft in Zeiten der Corona-Krise, JZ 2020, 861.
Ladiges, Grenzen des wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalts, NVwZ 2010, 1075.
Volkmann, Heraus aus dem Verordnungsregime, NJW 2020, 3153.
Zusammenfassung: Die wichtigsten Punkte
Nach der Wesentlichkeitstheorie des BVerfG sind die „wesentlichen“ Fragen dem Parlament vorbehalten, da dieses über eine besondere demokratische Legitimation verfügt. Dabei fordert das BVerfG, dass das Parlament selbst über die wesentlichen Fragen entscheidet. Es muss also eine hinreichend bestimmte Regelung treffen und darf der Exekutive keinen zu großen Spielraum gewähren.
Dabei sind „wesentlich“ insbesondere solche Entscheidungen, die von Bedeutung für die Verwirklichung der Grundrechte sind. Aber auch andere Kriterien (etwa die Umstrittenheit einer Frage oder die Bedeutung für die Verwaltungsorganisation) werden diskutiert und sind teils in der Rechtsprechung des BVerfG anerkannt.
Dem Grundgesetz ist ein ungeschriebener wehrverfassungsrechtlicher Parlamentsvorbehalt zu entnehmen. Der Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Ausland bedarf grundsätzlich der vorherigen Zustimmung des Bundestages.
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§ 5.6 Politische Parteien
Notwendiges Vorwissen: Demokratieprinzip, insbesondere das Wahlsystem
Lernziel: den Begriff der Parteien und deren Aufgaben kennenlernen, die herausgehobenen Rechtsstellung der politischen Parteien verstehen
Die politischen Parteien sind ein verfassungsrechtlich notwendiger Bestandteil der freiheitlich-demokratische Ordnung nach dem Grundgesetz. Die Staatsbürger:innen sind über ihr Engagement in den politischen Parteien in der Lage, über die Wahlen hinausgehend wirksam Einfluss auf das politische Geschehen nehmen zu können, vgl. § 1 I 1 PartG. Die zentrale Norm des Grundgesetzes als Ausgangspunkt für die Rechte der politischen Parteien bildet Art. 21 GG. Geschützt wird vor allem die Freiheit und Gleichheit der Parteien, letztere ist insbesondere klausurrelevant.
Parteien als Akteure im Verfassungsleben
Die politischen Parteien stellen ein verfassungsrechtlich notwendiges Instrument der politischen Willensbildung dar. Daher hat das Grundgesetz ihnen den Rang einer verfassungsrechtlichen Institution zuerkannt. Allerdings stellen sie kein Verfassungsorgan dar. Sie bilden vielmehr Gruppen, die in die institutionalisierte Staatlichkeit hineinwirken.
Sie gründen zumeist rechtsfähige beziehungsweise nichtrechtsfähige (privatrechtliche) Vereine.
Politische Parteien können als juristische Personen Träger von Grundrechten sein (Art. 19 III GG) und sich entsprechend auf einschlägige Grundrechte (z.B. Versammlungsfreiheit, Meinungsfreiheitetc.) berufen und diese im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde geltend machen. Dabei ist aber die Rechtsnatur der zentralen Norm für die politischen Parteien, Art. 21 GG, umstritten. Zum einen wird es als Einrichtungsgarantie verstanden, zum anderen als Grundrecht angesehen oder zur Interpretation der Grundrechte herangezogen. Versteht man Art. 21 GG nicht als Grundrecht, kann eine Verletzung nicht Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde sein. Allerdings können die politischen Parteien, sofern sie als Institution des Verfassungslebens betroffen sind, ein Organstreitverfahren (Art. 93 I Nr. 1 GG, §§ 13 Nr. 5, 63 ff. BVerfGG) anstrengen. Hierfür muss im Rahmen des Verfassungsrechtsstreits ihre verfassungsrechtliche Stellung aus Art. 21 I GG betroffen sein. Hierbei wäre im Rahmen der Zulässigkeit insbesondere auf die Beteiligtenfähigkeiteinzugehen.
Formulierungsbeispiel „Sowohl Antragssteller wie auch Antragsgegner müssten beteiligtenfähig sein. Parteien werden in Art. 93 GG und § 63 BVerfGG nicht direkt als taugliche Antragssteller erwähnt, Art. 21 GG gewährleistet jedoch die verfassungsrechtliche Stellung von Parteien. Sie sind somit sonstige Beteiligte nach Art. 93 I Nr. 1 GG.“
Begriffsbestimmung
Während das Grundgesetz keine Definition des Parteienbegriffes enthält (vgl. Art. 21 GG), lohnt ein Blick auf § 2 I PartG. Parteien sind demnach Vereinigungen von Bürgern:innen, die dauernd oder für längere Zeit (beachte § 2 II PartG) für den Bereich des Bundes oder eines Landes auf die politische Willensbildung Einfluss nehmen und an der Vertretung des Volkes im Deutschen Bundestag oder einem Landtag mitwirken wollen, wenn sie nach dem Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse, insbesondere nach Umfang und Festigkeit ihrer Organisation, nach der Zahl ihrer Mitglieder und nach ihrem Hervortreten in der Öffentlichkeit eine ausreichende Gewähr für die Ernsthaftigkeit dieser Zielsetzung bieten. Mitglieder einer Partei können nur natürliche Personen sein. Wenngleich eine einfach-gesetzliche Definition für die Bestimmung eines verfassungsrechtlichen Begriffes nur als Auslegungshilfe herangezogen werden kann, wobei die einfach-gesetzliche Begriffsbestimmung nicht ausschlaggebend ist, konkretisiert das PartG in diesem Fall den verfassungsrechtlichen Begriff in verfassungsmäßiger Weise.
Die politischen Parteien sind mit den im Bundestag vertretenen Fraktionen nicht gleichzusetzen. Fraktionen sind Untergliederungen innerhalb des Bundestages. Gemäß § 45 I AbgG können sich die Mitglieder des Bundestages zu einer Fraktion zusammenschließen. Dabei sieht § 10 I 1 GOBT vor, dass Fraktionen Vereinigungen von mindestens fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages sind, die derselben Partei oder solchen Parteien angehören, die auf Grund gleichgerichteter politischer Ziele in keinem Land miteinander im Wettbewerb stehen. Hieraus zeigt sich bereits, dass die Mitglieder einer Fraktion mehreren Parteien angehören können. Außerdem besteht die Möglichkeit, dass die Mitglieder der Partei nicht in den Bundestag gewählt wurden, dennoch hat dies keinen Einfluss auf die Anerkennung der Partei als solche.
Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger:innen darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind verfassungswidrig, vgl. Art. 21 II GG. Über die Verfassungswidrigkeit der Parteien oder den Ausschluss der staatlichen Finanzierungentscheidet das BverfG.
Aus der Qualifikation einer Vereinigung als Partei folgt, dass sie gem. Art. 21 I 3 GG ihre innere Ordnung den demokratischen Grundsätzen entsprechend ausrichten müssen. Konkretisiert wird diese Vorgabe durch die §§ 6 ff. PartG. Die innere Ordnung muss dem Demokratieprinzipentsprechen. Fehlt es an einer inneren Ordnung, die den demokratischen Grundsätzen entspricht, besteht die Möglichkeit des Verbotes der Partei gem. Art. 21 II GG. Denn eine solche innere Ordnung lässt zumindest abstrakt darauf schließen, dass entsprechende Strukturprinzipien auch im Staat durchgesetzt werden sollen, die jedoch einem elementaren Baustein der demokratischen Grundordnung (Bildung des Staatswillens im Zuge des politischen Kräftespiels) widerspricht. Es bedarf jedoch einer Entscheidung im Einzelfall, ein solcher Rückschluss ist nicht zwingend.
Aufgaben
Gemäß Art. 21 I 1 GG wirken die Parteien bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Etwas konkreter beschreibt § 1 II PartG die Aufgaben der politischen Parteien. Demnach wirken die Parteien an der Bildung des politischen Willens des Volkes auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens mit, indem sie insbesondere:
auf die Gestaltung der öffentlichen Meinung Einfluss nehmen,
die politische Bildung anregen und vertiefen,
die aktive Teilnahme der Bürger:innen am politischen Leben fördern,
zur Übernahme öffentlicher Verantwortung befähigte Bürger:innen heranbilden,
sich durch Aufstellung von Bewerbern:innen an den Wahlen in Bund, Ländern und Gemeinden beteiligen,
auf die politische Entwicklung in Parlament und Regierung Einfluss nehmen,
die von ihnen erarbeiteten politischen Ziele in den Prozess der staatlichen Willensbildung einführen
und für eine ständige lebendige Verbindung zwischen dem Volk und den Staatsorganen sorgen.
Sie erfüllen mit ihrer freien, dauernden Mitwirkung an der politischen Willensbildung des Volkes eine ihnen nach dem Grundgesetz obliegende und von ihm verbürgte öffentliche Aufgabe, vgl. § 1 I 2 PartG.
Aufgabe der Parteien ist es daher bei der Meinungs- und Willensbildung innerhalb der Gesellschaft mitzuwirken. Ihnen kommt eine Analysefunktion politisch relevanter Themen und Probleme zu, welche über politisch kontroverse Debatten eine Lösung zugeführt werden sollen. Darüber hinaus beeinflussen sie die Arbeit im Bundestag, indem sie bei der Legitimationsvermittlung über die regelmäßig wiederkehrenden Wahlen mitwirken und diese über die Aufstellung von Kandidaten maßgeblich beeinflussen. Ihnen kommt in diesem Zusammenhang eine Schlüsselfunktion zu. Sie agieren dabei als Bindeglied zwischen dem Volk und den Staatsorganen.
Obgleich politische Beziehungen zwischen den Parteien und den sich später bildenden Fraktionen bestehen, sind sie auf rechtlicher und funktionaler Ebene getrennt, insofern ist aber diesbezüglich zu differenzieren. Letztere sind öffentlich-rechtlich verfasst, es handelt sich dabei um Organteile des Bundestages. Außerdem ist hervorzuheben, dass sich die Abgeordneten auf das freie Mandat(Art. 38 I 2 GG) berufen können, sodass der Einfluss der Parteien auf die Mandatsausübung beschränkt wird.
Daneben kommen ihnen viele Pflichten zu, so etwa sind die Parteien zur Rechenschaftslegung verpflichtet (Art. 21 I 4 GG, §§ 23 ff. PartG). Dagegen resultieren auch aus der Anerkennung Rechte, wie etwa der Anspruch auf staatliche Teilfinanzierung (§ 18 ff. PartG).
Chancengleichheit
Die politischen Parteien haben im Rahmen der Wahl ein Recht auf Chancengleichheit (Grundsatz der gleichen Wahl) gem. Art. 38 I 1 GG i.V.m. Art. 21 I GG. Dieses Recht lässt sich aus ihrem verfassungsrechtlichen Status sowie der Gründungsfreiheit und dem Mehrparteienprinzip entnehmen. Diese Chancengleichheit prägt dabei sowohl den eigentlichen Wahlvorgang als auch bereits die Wahlvorbereitung. Zugleich rekurriert das BVerfG partiell auch auf den Gleichheitssatz des Art. 3 I GG i.V.m. Art. 21 I GG. Art. 21 I GG kann aber auch einzeln relevant werden.
Wird eine Ungleichbehandlung relevant, stellt sich die Frage, ob hierfür ein sachlich zwingender Grund erkennbar ist.
Beispiel: Die AfD veranstaltete eine Versammlung unter dem Motto „Rote Karte für Merkel! – Asyl braucht Grenzen!“. Eine Bundesministerin veröffentlichte im Zuge dessen auf der Homepage des Ministeriums eine Pressemitteilung mit dem Wortlaut: „Die Rote Karte sollte der AfD und nicht der Bundeskanzlerin gezeigt werden. Björn Höcke und andere Sprecher der Partei leisten der Radikalisierung in der Gesellschaft Vorschub. Rechtsextreme, die offen Volksverhetzung betreiben, wie der Pegida-Chef Bachmann, erhalten damit unerträgliche Unterstützung.“ Die AfD wehrte sich dagegen im Rahmen eines Organstreits. Das BVerfG sah hierin eine Verletzung des Rechts auf chancengleiche Teilnahme am politischen Wettbewerb gem. Art. 21 I GG. Damit der verfassungsrechtlich notwendig offene Prozess der politischen Willensbildung abgesichert werden kann, müssen die Parteien zwingend gleichberechtigt am entsprechenden Wettbewerb teilnehmen können. Dies verlangt, dass staatliche Organe inner- und außerhalb des Wahlkampfes eine gebotene Neutralität wahren. Dem widerspricht es aber, wenn sich Staatsorgane einseitig mit einer Partei auseinandersetzen. Bereits jegliche negative Bewertung einer politischen Veranstaltung, mit der eine abschreckende Wirkung droht, beeinträchtigt das Mitwirken der politischen Parteien an der Willensbildung und somit das Recht auf Chancengleichheit. Im vorliegenden Fall hat die Bundesministerin trotz ihrer grundsätzlichen Befugnis zur Informations- und Öffentlichkeitsarbeit das Neutralitätsgebot missachtet. Dieses gilt für die Bundesregierung wie für einzelne Bundesminister:innen gleichermaßen. Zwar können öffentliche Angriffe zurückgewiesen werden, allerdings ist die gebotene Sachlichkeit zu wahren, weshalb einseitig parteiergreifende Äußerungen pro oder contra einer Partei unzulässig sind. Der Eingriff konnte auch nicht gerechtfertigt werden. Entscheidend dabei war, dass die Bundesministerin in Ausübung des Regierungsamte tätig wurde sowie die ihr hieraus zur Verfügung stehenden Mittel und Möglichkeiten verwendete. Siehe zu näheren Ausführungen zur Zulässigkeit von Äußerungen von Staatsorganen den Beitrag zur Bundesregierung.
Beispielhaft kann auch § 5 I PartG herangezogen werden. Wenn ein Träger öffentlicher Gewalt den Parteien öffentliche Leistungen (z.B. Sendezeit im Rahmen der Wahlwerbung) gewährt, sollen alle Parteien gleichbehandelt werden. Der Umfang der Gewährung kann aber nach der Bedeutung der Parteien bis zu dem für die Erreichung ihres Zweckes erforderlichen Mindestmaß abgestuft werden. Die Bedeutung der Parteien bemisst sich dabei insbesondere auch nach den Ergebnissen vorausgegangener Wahlen zu Volksvertretungen. Um von der formalen Chancengleichheit der Parteien abzuweichen, erkannte das BVerfG dabei als zwingenden rechtfertigenden Grund die Sicherung des Charakters der Wahl als Integrationsvorgang im Rahmen der politischen Willensbildung an. Hierbei ist die Bedeutung der Parteien zu berücksichtigen. Dabei stellen die Wahlerfolge nur ein Indiz dar, welches durch weitere Kriterien ergänzt wird. Dadurch erhalten auch kleinere Parteien die Möglichkeit der Teilhabe an öffentlichen Leistungen, gleichwohl die Parteien entsprechend ihrer Bedeutung berücksichtigt werden können.
Parteiverbot nach Art. 21 II GG und Parteienprivileg
Voraussetzungen eines Parteienverbotes
Art. 21 II GG ist Ausdruck einer streitbaren Demokratie. Dem Grundgesetz liegt das Verständnis einer streitbaren Demokratie zugrunde. Es ergibt sich aus einer Zusammenschau verschiedenster Normen, so etwa Art. 9 II, 18, 20 IV, 21 II, 61 I, 98 2 GG. Gemeint ist dabei, dass das Grundgesetz einen Missbrauch der mit dem Grundgesetz gewährleisteten Grundrechte für einen Kampf gegen die freiheitlich-demokratische Ordnung nicht akzeptieren kann und die Bürger:innen eben diese zu schützen haben. Die Demokratie soll ihren Feinden nicht schutzlos preisgegeben werden.
Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger:innen darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind verfassungswidrig, vgl. Art. 21 II GG. Sie können demnach verboten werden. Für ein darauf ausgehen müssen konkrete Anhaltspunkte vorliegen, die ein mögliches erfolgreiches Verhalten gegen die Schutzgüter des Art. 21 II GG erkennen lassen (wertende Gesamtbetrachtung), das BVerfG spricht hierbei von einer „Potentialität“. Diese Wahrscheinlichkeitsprognose wurde mit dem zweiten NPD-Verbotsverfahren neu eingeführt. Dadurch gleicht sich die Rechtsprechung des BVerfG der des EGMR an.
Über die Frage der Verfassungswidrigkeit entscheidet gem. Art. 21 IV GG das BVerfG (Parteienverbotsverfahren).
Beispiel: Verboten wurden in der Vergangenheit die SRP und die KPD. Die NPD Verbotsverfahren führten nicht zum Verbot der Partei. Bei dem ersten Verfahren wurde ein Verfahrenshindernis erkannt, welche u.a. mit einer mangelnden Staatsfreiheit auf der Führungsebene der Partei begründet wurde. Bei dem zweiten Verfahren wurde zwar festgestellt, dass die NPD die Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung anstrebt, allerdings fehlt es an konkreten Anhaltspunkten von Gewicht, dass sie dabei erfolgreich sein könnte.
Sofern die Partei im Bundestag vertreten war, verlieren die Abgeordneten mit dem Verbot der Partei gem. § 46 I Nr. 5 BWahlG ihre Mitgliedschaft. Soweit Abgeordnete in Wahlkreisen gewählt waren, wird die Wahl eines Wahlkreisabgeordneten in diesen Wahlkreisen wiederholt, soweit Abgeordnete nach einer Landesliste gewählt waren, bleiben die Sitze unbesetzt, vgl. § 46 IV 2, 3 BWahlG.
Solange eine Partei nicht durch das BVerfG verboten wurde, kann gegen diese aufgrund des Parteienprivilegs (Art. 21 I, II GG) rechtlich (administrativ) nicht vorgegangen werden (es können keine Sanktionen angedroht oder vollzogen werden).[21] Durch Art. 21 GG wird den politischen Parteien eine verfassungsrechtliche Sonderstellung gewährleistet, durch die diesen eine erhöhte Schutz- und Bestandsgarantie zukommt (Parteienprivileg).
Dieses Parteienprivileg gilt auch für die partei-offizielle Tätigkeit der Funktionär:innen und Anhänger:innen der Partei, solange sie im Rahmen der geltenden Rechtsordnung agieren. Allerdings kann die parteipolitische Zugehörigkeit bei der Ernennung zum:r Beamten:inBerücksichtigung finden. Art. 21 II GG beschränkt den Dienstherrn im Rahmen seiner Auswahlentscheidung nicht. Denn der Anknüpfungspunkt seiner Auswahlentscheidung ist ein anderer. Art. 33 V GG erfordert von den Beamten ein Eintreten für die verfassungsmäßige Ordnung. Demgegenüber sichert Art. 21 II GG den Bürger:innen die Freiheit im Rahmen des verfassungsrechtlich Erlaubten diese Ordnung zu bekämpfen.
Das BVerfG hat folglich zum einen zu prüfen, ob die Partei nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger:innen darauf ausgerichtet ist, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen. Die demokratische freiheitliche Grundordnung enthält folgende Komponenten: Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, die Volkssouveränität (Art. 20 II GG), die Gewaltenteilung (Art. 20 II GG), die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (Art. 20 III GG); die Verantwortlichkeit der Regierung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit der Parteien(Art. 21 GG) mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung der Opposition. Der Begriff umfasst den Kern der Verfassung. Im zweiten NPD-Verbotsverfahren sprach das BVerfG davon, dass das Schutzgut das Demokratieprinzip (Art. 20 I, II GG) und das Rechtsstaatsprinzip(Art. 20 III GG) auf der Grundlage der Garantie der Menschenwürde (Art. 1 I GG) umfasst.
Die Partei muss darauf abzielen, diese demokratische freiheitliche Grundordnung zu beseitigen oder zu beeinträchtigen, folglich abzuschaffen beziehungsweise zu gefährden, hierfür muss sie eine aktiv-kämpferische, aggressive Haltung einnehmen.
Alternativ muss die Partei darauf abzielen, den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden. Das Schutzgut stellt dabei die territoriale Integrität der Bundesrepublik sowie seine außenpolitische Aktionsfähigkeit dar. Für die Gefährdung des Bestandes ist es ausreichend, wenn die Partei mittels entsprechender Bestrebungen darauf abzielt.
Verfahren vor dem BVerfG
Für Parteiverbotsverfahren (Art. 21 II GG, §§ 13 Nr. 2, 43 ff. BVerfGG) ist das BVerfG gem. Art. 21 IV GG zuständig. Gemäß § 43 I 1 BVerfGG kann der Antrag auf Entscheidung, ob eine Partei verfassungswidrig ist, von dem Bundestag, dem Bundesrat oder von der Bundesregierunggestellt werden. Antragsgegenstand ist die Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Partei. Antragsgegnerin ist entsprechend die Partei. Die Vertretung der Partei bestimmt sich nach den gesetzlichen Bestimmungen (siehe §§ 44 I BVerfGG, 11 PartG). Es ist ein Vorverfahren einzuhalten, bei dem das BVerfG dem Vertretungsberechtigten (§ 44 BVerfGG) Gelegenheit zur Äußerung gibt, anschließend beschließt das BVerfG, ob der Antrag als unzulässig oder als nicht hinreichend begründet zurückzuweisen oder ob die Verhandlung durchzuführen ist (§ 45 BVerfGG). Bezüglich der Form des Antrages ist § 23 I BVerfGG zu wahren. Der Antrag ist begründet, wenn die Partei darauf ausgeht, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland gefährdet.
Parteienfinanzierung
Mittelbare und unmittelbare staatliche Finanzierung
Die Parteienfinanzierung ist einfach-gesetzlich in den §§ 18 ff. PartG geregelt. Gemäß § 18 I PartG erhalten die Parteien Mittel als Teilfinanzierung der allgemein ihnen nach dem Grundgesetz obliegenden Tätigkeit (also ihrer allgemeinen Aufgaben, nicht nur des Wahlkampfes). Maßstäbe für die Verteilung der staatlichen Mittel bilden der Erfolg, den eine Partei bei den Wählern:innen bei Europa-, Bundestags- und Landtagswahlen erzielt, die Summe ihrer Mitglieds- und Mandatsträgerbeiträge sowie der Umfang der von ihr eingeworbenen Spenden.
Mittelbar erfolgt eine Finanzierung durch die Gewährung von Steuervorteilen für Parteispenden.
Außerhalb der staatlichen Finanzierung finanzieren sich die Parteien über Mitgliedsbeiträge, Geldleistungen von Mandatsträger:innen und Parteispenden. Außerdem können sie Erträge aus wirtschaftlicher Betätigung oder Vermögensverwaltung erhalten.
Ausschluss von der staatlichen Finanzierung
Gemäß Art. 21 III 1 GG sind Parteien, die nach ihren Zielen oder dem Verhalten ihrer Anhänger:innen darauf ausgerichtet sind, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, von der staatlichen Finanzierung ausgeschlossen. Diese Möglichkeit war erst im Zuge einer Verfassungsänderung möglich geworden. Das BVerfG selbst benannte diese Möglichkeit im zweiten Verbotsverfahren gegen die NPD. Wird der Ausschluss festgestellt, so entfällt auch eine steuerliche Begünstigung dieser Parteien und von Zuwendungen an diese Parteien, vgl. Art. 21 III 2 GG.
Über den Ausschluss der staatlichen Finanzierung entscheidet das BVerfG, vgl. Art. 21 IV GG. Es stellt gem. § 46a I 1 BVerfGG den Ausschluss von der Finanzierung für sechs Jahre fest. Der Antrag auf Entscheidung, ob eine Partei von staatlicher Finanzierung ausgeschlossen ist, kann von dem Bundestag, dem Bundesrat oder von der Bundesregierung gestellt werden (§ 43 BVerfGG). Es wurde in der Vergangenheit ein Antrag aus Ausschluss der NPD von der staatlichen Finanzierung gestellt.
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Weiterführende Studienliteratur
Voßkuhle/Kaufhold, Grundwissen – Öffentliches Recht: Die politischen Parteien, JuS 2019, 763.
Shirvani, Parteiverbot und Parteifinanzierungsausschluss, Jura 2020, 448.
Kloepfer, Über erlaubte, unerwünschte und verbotene Parteien, NJW 2016, 3003.
Volp, Parteiverbot und wehrhafte Demokratie, Hat das Parteiverbotsverfahren noch eine Berechtigung?, NJW 2016, 459.
Zusammenfassung: Die wichtigsten Punkte
Die zentrale Grundsatznorm bildet Art. 21 GG.
Während das Grundgesetz keine Definition des Parteienbegriffes enthält (vgl. Art. 21 GG), kann hierbei auf § 2 PartG zurückgegriffen werden.
Aufgabe der Parteien ist es, gem. Art. 21 I 1 GG bei der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken (siehe auch § 1 I 2 PartG).
Den Parteien kommt das Recht auf Chancengleichheit zu, wobei sie sich je nach konkretem Sachverhalt auf Art. 21 I GG, Art. 38 I 1 i.V.m. Art. 21 I GG oder Art. 3 I GG i.V.m. Art. 21 I GG berufen können.
Die Parteifinanzierung erfolgt zum Teil (unmittelbar sowie mittelbar) staatlich, darüber hinaus können sich die Parteien durch Mitgliedsbeiträge oder Spenden finanzieren. Parteien können unter gewissen Umständen von der staatlichen Finanzierung ausgeschlossen werden (vgl. Art. 21 III GG).
Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger:innen darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind verfassungswidrig, vgl. Art. 21 II GG. Sie können verboten werden. Solange eine Partei nicht durch das BVerfG verboten wurde, kommt ihnen die durch Art. 21 GG gewährleistete Schutz- und Bestandsgarantie zu (Parteienprivileg).
§ 5.7 Fraktionen
Notwendiges Vorwissen: Demokratieprinzip, Wahlen, politische Parteien
Lernziel: Funktionen, praktische Bedeutung und Rechtsstellung von Fraktionen
Allgemeines
In Deutschland reichen ihre Wurzeln zurück an die Schwelle zum 19. Jahrhundert, als Abgeordnete – anfänglich vor allem außerhalb des Parlaments – begannen, sich in lose organisierten „politischen Clubs“ zu treffen, um ihr innerparlamentarisches Verhalten aufeinander abzustimmen. Wurde ihre Koordinierung innerhalb des Parlaments im deutschen Frühkonstitutionalismus noch eisern bekämpft, erwiesen sich diese Versuche bald als aussichtslos. Unser heutiges Bild von Fraktionen nahm im Zuge der Verhandlungen der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49 Konturen an. Mit der Geschäftsordnung für den Reichstag der Weimarer Republik vom 12.12.1922 erhielten Fraktionen auch formal die Anerkennung, die ihnen im parlamentarischen Alltag längst zuteilgeworden war.
Begriff der „Fraktion“
Ein zentrales Recht, das aus dem sogenannten „freien Mandat“ der Abgeordneten (Art. 38 I 2 GG) hergeleitet wird, ist das Recht, sich nach eigenem Ermessen mit anderen Abgeordneten zusammenzuschließen (Assoziationsrecht), um so persönlichen Gemeinwohlvorstellungen im Parlament mehr Gewicht verleihen zu können. Einfach-gesetzlich ausformuliert wurde es mittlerweile in § 53 I AbgG. Die Vorschrift anerkennt, dass „effiziente Parlamentsarbeit mit Hunderten von ‚Einzelkämpfern' nicht möglich ist“, und reflektiert dabei einen grundlegenden Konflikt in der parlamentarischen Demokratie: In ihrem Zentrum müssen unterschiedlichste Auffassungen vom „Guten“ und „Schönen“ einem Ausgleich zugeführt werden, zugleich muss das Parlament aber auch in absehbarer Zeit zu einer Entscheidung kommen können, also handlungs- und entscheidungsfähig sein.
Abgeordnete, die persönliche Präferenzen in diesem Ausgleich wiederfinden möchte, sind daher seit jeher gut beraten, sich im Rahmen der parlamentarischen Auseinandersetzung „Verbündete“ zu suchen. Die Funktion, Abgeordnete mit ähnlichen politischen Überzeugungen in ihrem Zusammenwirken zu koordinieren, übernehmen im Parlament die Fraktionen. Als „Tendenzgemeinschaften“ in ebendiesem Sinne gestatten sie ihren Mitgliedern eine arbeitsteilige Aufgabenorganisation, die mittlerweile schlechterdings unverzichtbar geworden ist.
Voraussetzungen des Fraktionsbegriffes nach § 10 I 1 GOBT
Die GOBT definiert „Fraktionen“ in § 10 I 1 GOBT als Vereinigungen von mindestens fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages, die derselben Partei oder solchen Parteien angehören, die auf Grund gleichgerichteter politischer Ziele in keinem Land miteinander im Wettbewerb stehen. Die Einordnung einer Mehrzahl von Abgeordneten als „Fraktion“ in diesem Sinne ist also von zwei Voraussetzungen abhängig:
Erstens müssen die Abgeordneten zusammen fünf Prozent der Mitglieder des Bundestagesstellen. Diese Hürde lässt sich mit der Erwägung begründen, dass es dem Bundestag im Rahmen seiner Geschäftsordnungsautonomie (Art. 40 I 2 GG) offenstehen muss, seine Funktionsfähigkeit dahingehend abzusichern, dass nur solche Gruppierungen von Mandatsträger:innen in den Genuss besonderer Fraktionsrechte kommen sollen, die eine gewisse Mitgliederzahl (ein gewisses „politisches Gewicht“) hinter sich vereinen können.
Als „Fraktion“ anerkennt die GOBT zweitens nur Zusammenschlüsse solcher Abgeordneter, die entweder derselben Partei angehören oder solchen Parteien angehören, die auf Grund gleichgerichteter politischer Ziele in keinem Land miteinander im Wettbewerb stehen. Dieses „Homogenitätsgebot“ soll verhindern, dass sich Parlamentarier:innen unterschiedlichster Strömungen nur zu dem Zweck zusammenschließen, besondere Rechte einer Fraktion für sich in Anspruch nehmen zu können. Die zweite Variante dieser Bestimmung rekurriert auf die Fraktionsgemeinschaft von CDU und CSU.
Schließen sich Abgeordnete abweichend von Satz 1 zusammen, sieht § 10 I 2 GOBT die Möglichkeit einer Anerkennung als Fraktion im Wege eines Bundestagsbeschlusses vor.
Feststellung dieser Voraussetzungen
Das Vorliegen dieser Voraussetzungen unterliegt einer ständigen Überprüfung durch den oder die Präsident:in des Deutschen Bundestages als Vertreter:in des Parlaments. Insoweit ist zu bedenken, dass – wie § 62 I Nr. 1 AbgG explizit anerkennt – der Fraktionsstatus wieder erlöschen kann, beispielsweise, wenn die benannten Voraussetzungen im Nachhinein entfallen.
Beispiel: Die Abgeordneten A, B und C der aus 30 Mandatsträger:innen bestehenden D-Fraktion im 600 Parlamentarier:innen starken Bundestag entscheiden sich, aus der Fraktion auszutreten. Da die D nun nicht mehr 5% der Mitglieder des Bundestages stellt, ist die erste der beiden Voraussetzungen des § 10 I 1 GOBT entfallen.
Abwandlung: A, B und C entschließen sich zum Eintritt in eine andere Partei, mit der ihre ehemalige Partei, die D-Partei, bei verschiedenen Landtagswahlen konkurriert. Hier fehlt es nunmehr an der von § 10 I 1 GOBT geforderten Homogenität, sodass auch in diesem Falle der Fraktionsstatus – nach herrschender Auffassung: erst mit einem entsprechenden Beschluss durch das Plenum des Bundestages – erlischt.
Da der Zusammenschluss zu einer Fraktion Ausdruck des Assoziationsrechtes der Abgeordneten ist, muss es ihnen freistehen, diese Bindung durch Mehrheitsbeschluss jederzeit wieder aufzulösen – § 62 I Nr. 2 AbgG sieht diese Möglichkeit vor. Schließlich endet der Status als Fraktion nach § 62 I Nr. 3 AbgG mit dem Ende der Wahlperiode (Grundsatz der Diskontinuität).
Funktion
Das BVerfG würdigt Fraktionen in ständiger Rechtsprechung als „notwendige Einrichtungen des Verfassungslebens“, in der Literatur wird der Bundestag gar als „Fraktionenparlament“ beschrieben. Damit verbunden ist die Einsicht, dass Fraktionen (nicht erst seit heute) die zentralen Handlungseinheiten im parlamentarischen Betrieb darstellen.
Sie markieren insbesondere das „Scharnier, das Parlament und Parteien miteinander verbindet und verschränkt“, bilden mit anderen Worten die „parlamentarische Entsprechung des modernen Parteienstaates“. Denn praktisch wirken die politischen Parteien als gesellschaftlich verwurzelte Akteure über die Arbeit in den Fraktionen in die parlamentarische Sphäre hinein.
Weiterführendes Wissen
Aus einer parlamentarischen Binnenperspektive erfüllen Fraktionen wichtige Strukturierungs-, Integrations- und Kanalisierungsfunktionen: Allen voran ermöglichen sie Abgeordneten die effektive Ausübung ihrer verfassungsmäßigen Rechte, verschaffen ihnen Orientierung im parlamentarischen Alltag, entlasten sie über eine (weit ausgreifende) intrafraktionelle Arbeitsteilung und Organisation und fördern so gleichzeitig eine Ausdifferenzierung sachlicher Expertise unter Mandatsträger:innen, betreiben politisches „Agenda-Setting“, vermitteln und koordinieren politische Positionen, formen sie zur Entscheidungsreife und wirken über ihre Mitglieder und eine eigene Öffentlichkeitsarbeit (§ 55 III AbgG) zugleich auf die öffentliche Meinungsbildung zurück. Wenn § 55 I AbgG nüchtern feststellt, dass Fraktionen an der Erfüllung der Aufgaben des Bundestages mitwirken, ließe sich der Präzisierung halber ergänzen: Sie stellen die Arbeits-, Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit der Abgeordneten wie des Parlaments als Ganzem maßgeblich erst her.
Diesen Funktionen können sie gerecht werden, weil Fraktionen im Bundestag über eine komplexe und ausdifferenzierte Binnenstruktur mit genau definierten Zuständigkeiten und Verfahren verfügen. Aufschlussreich ist hier beispielsweise ein Blick auf die „Arbeitsordnung“ der größten Fraktion im 19. Deutschen Bundestag aus CDU und CSU („Unionsfraktion“): Als Organe und Gruppen innerhalb dieser Fraktionsgemeinschaft benennt § 2 der Arbeitsordnung neben der Fraktionsversammlung (§§ 3 f.) einen Vorstand (§ 6), einen geschäftsführenden Vorstand (§ 5), Arbeitsgruppen (§ 8), einen Ehrenrat (§ 9), eine Finanzkommission, eine Kassenkontrollkommission (§ 10) und sonstige Gruppen – die Gruppe der Frauen, die Arbeitnehmergruppe, den Parlamentskreis Mittelstand, die Gruppe der Vertriebenen, Aussiedler und deutschen Minderheiten, die Arbeitsgemeinschaft Kommunalpolitik und die Junge Gruppe. Bei Bedarf können vonseiten des Vorstandes weitere Kommissionen „für bestimmte zeitlich begrenzte Aufgaben“ eingesetzt werden (§ 2 Nr. 3). Darüber hinaus kennt die Arbeitsordnung einen Fraktionsvorsitzenden (§ 7) und stellvertretende Vorsitzende (§ 4 Nr. 1 lit. b)), Beauftragte (§ 7 Nr. 2), parlamentarische Geschäftsführer (§§ 4 Nr. 1 lit. b), 7 Nr. 3) sowie Sprecher zu bestimmten Sachgebieten (§§ 4 Nr. 2 lit. b), 8 Nr. 2 S. 1 2. HS).
Rechtsgrundlagen
In Bestimmungen des Grundgesetzes spiegelt sich die Bedeutung der Fraktionen für den Parlamentsalltag nur sehr bedingt wider. Dort werden sie nur an einer einzigen Stelle erwähnt, nämlich in Art. 53a I 2 1. HS GG in den Vorschriften über den Gemeinsamen Ausschuss. Vor dem Hintergrund ihrer praktischen Bedeutung in der deutschen Verfassungsgeschichte spricht vieles dafür, dass ihre Existenz schlicht vorausgesetzt wurde. Für das Fraktionswesen mittelbar von zentraler Bedeutung sind unter anderem aber auch die Vorschriften über den Abgeordnetenstatus(Art. 38 I 2 GG) und über die Geschäftsordnungsautonomie (Art. 40 I 2 GG).
Traditionell finden sich Vorschriften über die Fraktionen in den parlamentarischen Geschäftsordnungen, so auch in der GOBT, die ihnen nicht bloß einen eigenen Abschnitt einräumt (§§ 10-12 GOBT), sondern ihnen verteilt über die gesamte GOBT auch eine Vielzahl von Rechten im Rahmen des parlamentarischen Verfahrens zuteilwerden lässt. Die GOBT stellt insoweit die zentrale Rechtsgrundlage für die Rechtsstellung der Fraktionen im Parlament dar.
Weitere Bestimmungen finden sich seit 1995 in den §§ 53-62 AbgG („Fraktionsgesetz“), die (anders als die Vorschriften der GOBT) vornehmlich die rechtlichen Außenbeziehungen der Fraktionen in den Blick nehmen. Denn deren Wirken beschränkt sich nicht allein auf den parlamentarischen Raum. Um ihren Aufgaben im Parlament nachzugehen, müssen die Fraktionen auch am allgemeinen Rechtsverkehr teilnehmen, beispielsweise Kaufverträge über Büromaterial abschließen oder Arbeitnehmer:innen beschäftigen (siehe nur § 57 AbgG).
Rechtsnatur
Seit jeher kontrovers debattiert wird die Rechtsnatur der Parlamentsfraktionen. Diesbezüglich existieren zahlreiche Auffassungen, die im Folgenden nur kursorisch dargestellt werden sollen.
Zuordnung zum Privatrecht
Eine historisch frühe Auffassung hat den Vorschlag unterbreitet, Fraktionen dem bürgerlichen Vereinsrecht der §§ 21 ff. BGB zuzuschlagen und sie (mangels Eintragung in das Vereinsregister) als nicht rechtsfähige Vereine im Sinne des § 54 BGB zu qualifizieren. Eine ähnliche Meinung möchte die Fraktion als „innenrechtsfähigen Verein des Bürgerlichen Rechts“ einordnen. Gegen solche Zuordnungsversuche sprechen mehrere Gründe. Einerseits scheinen sich Fraktionen – die benannten Rechtsgrundlagen offenbaren das eindrücklich – den „Kategorien des überkommenen […] Privatrechts“ zu entziehen. Hinzu kommt, dass sie ihre Daseinsberechtigung maßgeblich der Stellung der Abgeordneten (Art. 38 I 2 GG) und der parlamentarischen Geschäftsordnungsautonomie (Art. 40 I 2 GG) verdanken, Vorschriften also, die Fraktionen eher als Vereinigungen im Kontext eines „besondere[n] Organ[s] der Gesetzgebung“ (Art. 20 II 2 GG) – dem Parlament – in den Blick nehmen. Dazu passt, dass § 2 II Nr. 2 VereinsG sie explizit nicht als Vereine im Sinne des Vereinsgesetzes (zu dessen Begriff des Vereins: § 2 I VereinsG) bezeichnet.
Die Fraktion vereinigt Parlamentarier:innen (§ 53 I AbgG) in ihrer besonderen Funktion als Mandatsträger:innen. Mit der heute h.M. sind Fraktionen daher nicht allein dem Privatrecht zuzuordnen.
Öffentlich-rechtliche Vereinigung, § 54 AbgG
Inzwischen wird die auch und vor allem „öffentlich-rechtliche Natur“ der Fraktionen allgemein anerkannt. Gleichwohl existieren noch immer unterschiedliche Auffassungen hinsichtlich ihrer genaueren Einordnung: Manche möchten sie als Organe oder Organteile des Bundestagesfassen. Dieser Auffassung wird mit dem Einwand begegnet, dass Fraktionen nicht die Gesamtheit des Parlaments repräsentieren und schon deshalb nicht als Organ(-teile) desselben in Betracht kämen. Andere wiederum erkennen in der Fraktion ein „Staatsorgan sui generis“ oder einen Verein öffentlichen Rechts. Schließlich wird häufig ihre „duale Rechtsnatur“ hervorgehoben – das heißt ihre Teilnahme am allgemeinen Rechtsverkehr einerseits und ihre Einbindung in die parlamentarische Sphäre andererseits.
Bei all diesen Kategorisierungsversuchen lassen inzwischen mehr und mehr Stimmen die Frage nach der Rechtsnatur ausdrücklich offen. Argumentiert wird mit der fehlenden praktischen Relevanz einer solchen Festlegung. Das mag die Rechtsprechung des BVerfG bestätigen, die sich in dieser Frage bislang zurückhaltend zeigt. Und in der Tat hat das „Fraktionsgesetz“ von 1995 die Problematik einigermaßen entschärft. Heute können Fraktionen jedenfalls am allgemeinen Rechtsverkehr teilnehmen und bilden zugleich „rechtsfähige Einrichtungen des Verfassungslebens“.
Hervorzuheben ist zuletzt, dass Fraktionen zwar praktisch als „Parteien im Parlament“ auftreten, in rechtlicher Hinsicht aber von ihrer Partei unabhängig sind. Als Vereinigung von Abgeordneten ist die Fraktion ein Zusammenschluss gewählter Mandatsträger:innen, die ihre Rechte aus dem Abgeordnetenstatus (Art. 38 I 2 GG) herleiten. Der Fraktion kommt ihre Rechtsstellung (etwa in der GOBT) nur als Fraktion, das heißt: als Vereinigung von Abgeordneten mit eigenen Rechten zu, nicht als verlängerter Arm irgendeiner Partei im Parlament.
Einzelne Rechte
Gesetzgebungsinitiative
Die Bedeutung der Fraktionen zeigt sich einmal mehr im Rahmen der geschäftsordnungsmäßigen Konkretisierung des Gesetzesinitiativrechts aus Art. 76 I GG. Während der Verfassungstext offen dahingehend formuliert ist, dass Gesetzesvorlagen aus der Mitte des Bundestages eingebracht werden können (womit auch einzelne Abgeordnete angesprochen sein könnten), verlangt §§ 76 I , 75 I lit. a) GOBT die Einbringung von einer Fraktion (oder einer anderen Gruppe mit Fraktionsstärke). Ob man diese Konkretisierung des Verfassungstextes, zu der der Bundestagim Rahmen seiner Geschäftsordnungsautonomie (Art. 40 I 2 GG) grundsätzlich befugt ist, in ihrer aktuellen Gestalt für zulässig halten möchte, mag hier dahinstehen. Im Übrigen können Fraktionen Sachverständige für Ausschussanhörungen benennen (§ 70 GOBT), nach der ersten Beratung eines Entwurfs im Plenum eine Aussprache herbeiführen (§79 1 GOBT) oder noch in dritter Beratung Änderungsanträge einbringen (§ 85 I 1 GOBT).
Antragsrechte
Die GOBT räumt Fraktionen (genauer: sämtlichen Gruppierungen mit Fraktionsstärke) zahlreiche Möglichkeiten ein, den parlamentarischen Willensbildungsprozess über Antragsbefugnisse mitzugestalten. So können sie beispielsweise:
eine Aussprache verlangen, §§ 79 1, 81 I 1 GOBT,
nach § 89 GOBT eine Einberufung des Vermittlungsausschusses beantragen,
eine namentliche Abstimmung verlangen, § 52 1 GOBT,
die Herbeirufung eines Mitglieds der Bundesregierung beantragen (§ 42 GOBT, „Zitierrecht“),
„große“ (§§ 75 I lit. f), 76 I, 100 ff. GOBT) und „kleine Anfragen“ (§§ 75 III, 76 I, 104 GOBT) an die Bundesregierung richten oder
eine „aktuelle Stunde“ verlangen (§ 106 I GOBT i.V.m. Anlage 5 zur GOBT).
Organisatorische Mitwirkungsrechte
Fraktionen genießen eine Vielzahl organisatorischer Mitwirkungsrechte. So stellt jede von ihnen grundsätzlich einen oder eine Bundestagsvizepräsident:in (§§ 2 I 2, II GOBT), schlägt Schriftführer:innen vor (§ 3 GOBT) und benennt Mitglieder für den Ältestenrat (§ 6 I 1 GOBT), über den sie Einfluss auf den parlamentarischen Geschäftsgang nehmen kann.
Von eminenter Bedeutung ist ihre Präsenz in den Ausschüssen (§§ 54 ff. GOBT), in denen ein wesentlicher Teil der Parlamentsarbeit stattfindet. Die Besetzung ständiger Ausschüsse erfolgt gemäß §§ 12 1, 57 I 1 GOBT nach dem Stärkeverhältnis der Fraktionen. Denn nach dem verfassungsrechtlich hergeleiteten „Grundsatz der Spiegelbildlichkeit […] muss grundsätzlich jeder Ausschuss ein verkleinertes Abbild des Plenums sein und in seiner Zusammensetzung die Zusammensetzung des Plenums in seiner politischen Gewichtung widerspiegeln“. Diesem Grundsatz ist Rechnung zu tragen, wenn das Parlament einzelne Aufgaben an seine Untergliederungen delegiert. Seit einiger Zeit diskutiert wird die Frage, ob von Verfassungs wegen jede Fraktion mit mindestens einem Mitglied in jedem Ausschuss vertreten sein muss. Mit Verweis auf die praktische Relevanz der Ausschüsse wird diese Frage im Schrifttum mehrheitlich bejaht. Inzwischen scheint sich auch das BVerfG dieser Haltung zumindest vorsichtig anzunähern. In der Praxis wird das Problem regelmäßig dadurch umgangen, dass im Einsetzungsbeschluss nach § 57 I 1 GOBT Ausschussgrößen gewählt werden, mit denen diesen Überlegungen Rechnung getragen werden kann. Dabei obliegt es gemäß § 57 II 1 GOBT den Fraktionen, Ausschussmitglieder (und deren Stellvertreter:innen) zu benennen. Auch bei der Wahl des oder der Ausschussvorsitzenden sind die Fraktionen ausweislich § 12 1 GOBT nach ihrem Stärkeverhältnis zu berücksichtigen.
Fraktionen haben überdies Einfluss auf die parlamentarische Debatte. Das Rederecht der Abgeordneten wird hier von der Geschäftsordnung überformt, die Fraktionen in §§ 28, 35 GOBT diesbezüglich eine exponierte Stellung zuweist. Auch die Erteilung des Wortes bei einer Befragung der Bundesregierung nach § 106 II GOBT iVm Anlage 7 zur GOBT orientiert sich am Stärkeverhältnis der Fraktionen (Punkt 6 der Anlage, der insoweit auf § 28 I GOBT verweist).
Anspruch auf Geld- und Sachleistungen, § 58 AbgG
§ 58 I AbgG räumt Fraktionen zur Erfüllung ihrer Aufgaben einen Anspruch auf Geld- und Sachleistungen ein. Hinsichtlich der jährlich festzulegenden (§ 58 II 2) Geldleistungen differenziert § 58 II 1 AbgG zwischen einem – jeder Fraktion zustehenden – Grundbetrag, einem Betrag für jedes Fraktionsmitglied und einem Zuschlag für jede Fraktion, die nicht die Bundesregierung trägt. Diesem „Oppositionszuschlag“ liegt die Überlegung zugrunde, dass Zugriffsmöglichkeiten der Regierungsfraktionen auf Ressourcen der Ministerialverwaltung insoweit kompensationsbedürftig sind. Von hoher praktischer Relevanz dürfte § 58 IV AbgG sein. Dessen S. 1 präzisiert den Kreis der von Abs. 1 bereits angesprochenen Aufgaben. Wenn S. 2 statuiert, dass eine Mittelverwendung für Parteiaufgaben unzulässig ist, stellt der Gesetzgeber freilich nur fest, was verfassungsgerichtlich seit Jahrzehnten geklärt ist. Es muss also sichergestellt sein, dass hier keine Grundlage für eine (unzulässige) mittelbare Parteienfinanzierung geschaffen wird.
Fraktionszwang und Fraktionsdisziplin
Dass eine Organisation in Fraktionen notwendigerweise mit einer gewissen Bindung von Abgeordneten einhergeht, hat das BVerfG früh gesehen und für unproblematisch erachtet, soweit „diese Bindung [...] nicht über das hinaus[geht], was zur Sicherung des Ablaufs der Parlamentsarbeit geboten ist“ und solange „die notwendige Entscheidungsfreiheit und Selbstverantwortlichkeit des einzelnen Abgeordneten erhalten bleibt“. Diese Prämissen wirken in einer weiter ausdifferenzierten verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung bis heute fort.
Fraktionen haben ein anerkennenswertes Interesse, auf den parlamentarischen Willensbildungsprozess als Vereinigung einzuwirken, mithin geschlossen aufzutreten. Einzelne unter dem Begriff „Fraktionsdisziplin“ zusammengefasste Verfahrensvorkehrungen und Verhaltensregeln, die diese Geschlossenheit herzustellen suchen, markieren vor diesem Hintergrund überhaupt erst die Rechtfertigung für ihre Existenz. Wenn etwa § 17 Nr. 1 S. 3 der bereits erwähnten Arbeitsordnung der Unionsfraktion deren Mitglieder „verpflichtet, in wichtigen Fragen ihre von der Fraktionsmehrheit abweichende Abstimmungsabsicht […] bis zum Vortag der Abstimmung […] mitzuteilen“, liegt hierin eine im Interesse koordinierten parlamentarischen Vorgehens nachvollziehbare Maßnahme. Kaum anders zu beurteilen sind mit Nachdruck vorgetragene Appelle an die Fraktionsdisziplin oder die Verpflichtung, ein abweichendes Stimmverhalten (schriftlich) zu begründen.
Als zulässig erachtet werden auch Maßnahmen, die auf ein Abweichen von der Fraktionslinie von einem gewissen Gewicht reagieren. Dazu zählt der Ausschussrückruf, dessen Zulässigkeit mit einer berechtigten Erwartung der Fraktion begründet wird, sich in Ausschüssen nur von Mitgliedern vertreten lassen zu müssen, die die grundsätzliche Linie der Fraktion zum Ausdruck zu bringen vermögen. Auch eine Abberufung aus Fraktionsämtern hält man in der Literatur wohl mehrheitlich für ein zulässiges Instrument der Fraktionsdisziplin. Schließlich wird ein Fraktionsausschluss jedenfalls dann mehrheitlich für zulässig gehalten, wenn das Abweichen von der Fraktionslinie „nicht auf eine gelegentliche Querköpfigkeit in Sachfragen von untergeordneter Bedeutung“ zurückzuführen ist, „sondern ins Grundsätzliche reicht“. Hier bedarf es also eines „wichtige[n] Grund[es]“. Bei alledem ist zu bedenken, dass das freie Mandat von dieser fraktionsinternen „Sanktion“ unbeeinflusst bleibt. Überdies dürfen diese Maßnahmen nach allgemeiner Auffassung grundsätzlich nicht schon bei einer einmaligen Abweichung von der Fraktionslinie gewählt und insbesondere nicht an eine konkrete Entscheidung von Abgeordneten geknüpft werden. Eine Maßnahme ist dabei nicht als „Sanktion“ zulässig, sondern nur mit Blick auf das berechtigte Interesse einer Fraktion, geschlossen in den parlamentarischen Willensbildungsprozess hineinzuwirken. Dass diese Abgrenzung im Einzelfall meist schwierig ist, steht auf einem anderen Blatt.
Die keineswegs trennscharfe Grenze zum unzulässigen „Fraktionszwang“ ist jedenfalls erreicht bei einer „Verpflichtung des Abgeordneten, nach Mehrheitsbeschlüssen der Fraktion zu stimmen“. Von dieser Kategorie erfasst werden also Fälle einer sanktionsbewehrten Verpflichtung zu einer bestimmten Ausübung des Mandats, wobei im Einzelnen umstritten ist, ob die Sanktion von der Fraktion selbst durchsetzbar sein muss (wie bei einem Fraktionsausschluss) oder ob auch in anderen Konstellationen von einem Fraktionszwang zu sprechen wäre, in denen die Fraktion diese Sanktion bloß in Aussicht stellen kann (etwa bei der Androhung einer „Nichtwiederaufstellung als Kandidat“).
Fraktionsausschluss oder: Der fraktionslose Abgeordnete
Die Wirkungsmacht einzelner Mandatsträger:innen im Bundestag ist naturgemäß begrenzt. Im Interesse einer „Funktionsfähigkeit“ des Parlaments und um der Rechte anderer Mandatsträger:innen willen müssen Abgeordnete eine Beschränkung ihrer aus dem Abgeordnetenstatus hergeleiteten Rechte im parlamentarischen Prozess notwendigerweise hinnehmen, ihre Mitwirkungsrechte „müssen sich […] – als Mitgliedschaftsrechte – in die notwendig gemeinschaftliche Ausübung einfügen“. Vor diesem Hintergrund markiert der Ausschluss von Parlamentarier:innen aus der Fraktion ein scharfes Schwert. Gleichwohl hält ihn die h.M. aus guten Gründen – nämlich unter Verweis auf die Fraktion als „Tendenzgemeinschaft“ – für grundsätzlich zulässig.
Angesichts der Wirkungen einer solchen Maßnahme finden sich aber zahlreiche Bemühungen, das Verfahren des Fraktionsausschlusses rechtlich einzuhegen. So verlangt der rheinland-pfälzische Verfassungsgerichtshof in einer jüngeren Entscheidung „ein rechtsstaatlichen Mindestanforderungen genügendes Verfahren sowie einen willkürfreien Entschluss der Fraktionsversammlung“. Dazu gehören mindestens eine „Gelegenheit [des oder der Betroffenen] zur wirksamen Stellungnahme“ und die Existenz eines „wichtigen Grundes“ für den Ausschluss. Die Entscheidung obliegt richtigerweise allein der Fraktionsvollversammlung. Wichtige Gründe können darin begründet liegen, dass sich ein Mindestmaß an inhaltlicher Übereinstimmung nicht (mehr) herstellen lässt oder dass das Vertrauensverhältnis derart nachhaltig gestört ist, dass der Fraktion eine weitere Zusammenarbeit nicht mehr zumutbar erscheint. Bei der Frage, ob ein wichtiger Grund vorliegt, genießen die Fraktionen einen Beurteilungsspielraum, der gerichtlich nur eingeschränkt nachvollziehbar ist – letztlich handelt es sich auch und gerade um eine politische Bewertung, ob noch ein Mindestmaß an inhaltlicher Übereinstimmung besteht. Praktisch wichtig aus Sicht der Fraktionen ist die Forderung, dieses Verfahren bereits in der Fraktionssatzung zu verankern.
Prozessuales
Organstreit
In eigener Sache
Fraktionen sind nach der GOBT mit eigenen Rechten ausgestattet und können daher beteiligtenfähige Partei eines Organstreitverfahrens vor dem BVerfG sein (Art. 93 I Nr. 1 GG, § 63 BVerfGG).
Prozessstandschaft
Darüber hinaus können sie im Rahmen eines Organstreitverfahrens nach Art. 93 I Nr. 1 GG, §§ 13 Nr. 5, 63 ff. BVerfGG aber auch in Prozessstandschaft Rechte des Deutschen Bundestagesgeltend machen. Instruktiv ist insofern eine Entscheidung des BVerfG in Sachen AWACS-Einsatz Türkei: „Sinn und Zweck der in § 64 Abs. 1 BVerfGG vorgesehenen Prozessstandschaft liegen gerade darin, der Parlamentsminderheit die Befugnis zur Geltendmachung der Rechte des Deutschen Bundestags auch dann zu erhalten, wenn dieser seine Rechte, insbesondere im Verhältnis zu der von ihm getragenen Bundesregierung, nicht wahrnehmen will. Die Zuerkennung der Prozessstandschaftsbefugnis ist insofern sowohl Ausdruck der Kontrollfunktion des Parlaments als auch Instrument des Minderheitenschutzes.“
Abstrakte Normenkontrolle
Unter den in Art. 93 I Nr. 2 GG, §§ 13 Nr. 6, 76 ff. BVerfGG benannten Voraussetzungen, das heißt insbesondere, wenn sie allein oder gemeinsam mit anderen kooperationsbereiten Fraktionen ein Viertel der Mitglieder des Deutschen Bundestages stellt, kann die Fraktion auch eine abstrakte Normenkontrolle vor dem BVerfG anstrengen. Allerdings sind es genau genommen Mitglieder des Bundestages in ihrem Zusammenwirken (und nicht die Fraktion als rechts- und prozessfähige Vereinigung nach § 54 I, II AbgG), die ein Normenkontrollverfahren auf den Weg bringen. Nach dem insoweit klaren Normtext des Art. 93 I Nr. 2 GG kommt es nicht auf eine oder mehrere Fraktionen, sondern auf ein Viertel der Abgeordneten an.
Gruppen im Sinne von § 10 IV GOBT
Nach § 10 IV 1 GOBT können mehrere Abgeordnete, die die von § 10 I 1 GOBT geforderte Fraktionsmindeststärke nicht erreichen, als Gruppe anerkannt werden. Praktisch bedeutsam ist diese Möglichkeit vor allem in Fällen, in denen eine Mehrzahl von Abgeordneten in den Bundestageingezogen ist, ohne dass ihre Partei die Fünfprozenthürde nach § 6 III 1 BWahlG überwunden hat. Die Anerkennung als Gruppe bedarf der Zustimmung des Bundestages, nach dem Wortlaut der Vorschrift („können […] anerkannt werden“) steht die Entscheidung über eine Zuerkennung des Gruppenstatus sogar im Ermessen des Parlaments. Diesbezüglich besteht allerdings Einigkeit, dass der Wortlaut von § 10 IV 1 GOBT in Fällen, in denen die zusammenschlusswilligen Mitglieder über eine gewisse Homogenität verfügen und ihr Zusammenschluss eine Größe erreicht, die sie berechtigen würde, Mitglieder in Ausschüsse des Parlaments zu entsenden, verfassungskonform dahingehend zu interpretieren ist, dass diese „Gruppierungen [...] als Gruppen anerkannt werden [müssen]“. Welche Anforderungen an die Homogenität zu stellen sind, ist umstritten. Manche Stimmen wollen weniger strenge Maßstäbe anlegen als bei Fraktionen, andere hingegen plädieren für einen Gleichlauf mit den Vorgaben des § 10 I 1 GOBT.
Die Ausgestaltung der Rechtsstellung parlamentarischer Gruppen hat sich, da die GOBT zu dieser Frage schweigt, vor allem seit den 1990er-Jahren in einer Mischung aus „Parlamentsbrauch“ und verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung entwickelt. Da das Erscheinungsbild dieser Gruppen hinsichtlich der Zahl ihrer Mitglieder in Abhängigkeit von konkreten Wahlergebnissen durchaus heterogen ist, lassen sich hier allgemeine Maßstäbe auch nur schwer benennen. Gleichwohl hat sich eine gewisse Übung etabliert, der zufolge Gruppen beispielsweise im Ältestenrat und in Ausschüssen (Spiegelbildlichkeitsgrundsatz) angemessen vertreten sein müssen, ihnen ihrer Größe entsprechende Redezeiten einzuräumen sind oder sie Vorlagen im Sinne von § 75 GOBT einbringen dürfen. In einem Organstreitverfahren ist die parlamentarische Gruppe parteifähig.
Weiterführende Studienliteratur
Klein/Krings, Fraktionen, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, 2016, § 17.
Jekewitz, Die Fraktionen, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland, 1989, § 37.
Austermann/Waldhoff, Parlamentsrecht, 2020, Rn. 244 ff.
Hollo, Fraktionszwang und Fraktionsdisziplin, JuS 2020, 928.
Zusammenfassung: Die wichtigsten Punkte
Fraktionen sind Vereinigungen von Abgeordneten im Parlament (§ 10 I 1 GOBT).
Die Fraktionen leiten ihre Rechtsstellung aus den Rechten der einzelnen Abgeordneten (Art. 38 I 2 GG) her. Von den politischen Parteien sind sie rechtlich unabhängig.
Die Ausübung von Mandatsbefugnissen wird durch die Mitgliedschaft in einer Fraktion erheblich erleichtert. Zahlreiche Rechtspositionen in der Geschäftsordnung des Bundestages (GOBT) knüpfen an den Fraktionsstatus an.
Fraktionen sind als freiwillige Zusammenschlüsse von Abgeordneten Tendenzorganisationen. Dementsprechend können ihre Mitglieder voneinander ein gewisses Maß an „Fraktionsdisziplin“ einfordern. Ein „Fraktionszwang“ ist hingegen unzulässig.
§ 5.8 Recht auf Demokratie
Notwendiges Vorwissen: Demokratie, Verfassungsbeschwerde, Grundlagen der europäischen Union
Lernziel: Das Recht auf Demokratie und die Geltendmachung in der Verfassungsbeschwerde verstehen
Das sogenannte „Recht auf Demokratie“ (oder auch „Anspruch auf Demokratie“) kann in einer Verfassungsbeschwerde und damit von „jedermann“ über Art. 38 I 1 GG geltend gemacht werden. Über Art. 38 I 1 GG können Zustimmungsgesetze zur Änderung des Primärrechts, ein Rechtsaktzur Durchführung von Unionsrecht oder die Unterlassung eines Einschreitens gegen Akte der EU aufgrund der Integrationsverantwortung, wenn kein Durchführungsrechtsakt vorliegt, Gegenstand der Verfassungsbeschwerde werden.
Um die Dimensionen des Rechts zu verstehen, soll zuerst kurz die Herleitung und der politische Kontext skizziert werden, bevor sich der Ausgestaltung und der Kritik zugewandt wird. Das Recht auf Demokratie gehört sicherlich zu den meist diskutierten Materien im Bereich Staatsorganisationsrecht/Europarecht.
Herleitung des Rechts seit Maastricht
Zum ersten Mal wurde das Recht auf Demokratie aus Art. 38 I 1 GG im sogenannten Maastricht-Urteil vom BVerfG hergeleitet:
„Das durch Art. 38 GG gewährleistete Recht, durch die Wahl an der Legitimation von Staatsgewalt teilzunehmen und auf deren Ausübung Einfluß zu gewinnen, schließt es im Anwendungsbereich des Art. 23 GG aus, dieses Recht durch Verlagerung von Aufgaben und Befugnissen des Bundestages so zu entleeren, daß das demokratische Prinzip, soweit es Art. 79 Abs. 3 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und 2 GG für unantastbar erklärt, verletzt wird“.
Das Maastricht-Urteil ist im Kontext des europäischen Integrationsprozesses ergangen. Seitdem hat sich das Recht auf Demokratie als ein zentrales Instrument herausgebildet, welches vom BVerfG in beinahe jedem relevanten Urteil der europäischen Integration in Stellung gebracht und weiterentwickelt wurde (beispielsweise in den Urteilen zum Lissabon-Vertrag, zu den Griechenland–Hilfen, zum OMT–Programm und zum PSPP).
Ausgestaltung durch das BVerfG
Das Recht auf Demokratie aus Art. 38 I 1 GG kann in drei unterschiedliche Ausprägungen geltend gemacht werden: über die Kompetenzentleerungsrüge, über die Verdrängungsrüge (auch Legitimationsteilhaberecht genannt) und über die formelle Übertragungsrüge.
Kompetenzentleerungsrüge
Zuvorderst wird aus Art. 38 I 1 GG eine Kompetenzentleerungsrüge hergeleitet. Die ersten Grundsteine dafür wurden bereits im Maastricht-Urteil gelegt: Dem Einzelnen stehe kraft des Wahlrechts ein Anspruch darauf zu, dass dem Deutschen Bundestag im Prozess der europäischen Integration Befugnisse substanziellen Gewichts verbleiben. Daran anknüpfend heißt es im Lissabon-Urteil: „Der Wahlakt verlöre seinen Sinn, wenn das gewählte Staatsorgan nicht über ein hinreichendes Maß an Aufgaben und Befugnissen verfügte, in denen die legitimierte Handlungsmacht wirken kann“.
Daraus lässt sich natürlich nicht ableiten, dass keinerlei (weitere) Ausdehnung der Aufgaben und Befugnisse der Europäischen Union und eine damit einhergehende Verlagerung von Aufgaben und Befugnissen des Bundestages zulässig wären. Laut BVerfG ist eine Entleerung dann anzunehmen, wenn der durch Art. 79 III i.V.m. Art. 20 I, II GG für unantastbar erklärte Gehalt des demokratischen Prinzips verletzt wird.
Konkret bedeutet das, dass dem Bundestag die substanziellen innerstaatlichen Gestaltungsmöglichkeiten für zentrale Regelungs- und Lebensbereiche zustehen muss.
Das beinhaltet:
1. das materielle und formelle Strafrecht,
2. das Gewaltmonopol, polizeilich nach innen und militärisch nach außen,
3. die sozialstaatliche Gestaltung von Lebensverhältnissen,
4. kulturell besonders bedeutsame Entscheidungen (etwa im Familienrecht, über das Schul- und Bildungssystem oder über den Umgang mit religiösen Gemeinschaften) sowie
5. fiskalische Grundentscheidungen über Einnahmen und sozialpolitisch motivierte Ausgaben der öffentlichen Hand.
Bisher ist der Hauptanwendungsbereich der Rechtsprechung um Art. 38 I 1 GG die Haushaltsgesetzgebung (Punkt 5).
Verdrängungsrüge
Daneben steht die Frage nach der Entleerung des Wahlakts nicht mehr im Zentrum, wenn das BVerfG ein Legitimationsteilhaberecht formuliert. Über die Verfassungsbeschwerde kann jede:r Bürger:in über Art. 38 I 1 GG rügen, dass das ihm:ihr zustehende Recht auf gleiche Teilhabe an der demokratischen Selbstbestimmung (Art. 38 I 1, Art. 20 I und II GG) verletzt worden sei. Das ist dann möglich, wenn die Rechte des Bundestags im grundgesetzlichen Organgefüge wesentlich geschmälert wurden und damit ein Substanzverlust demokratischer Gestaltungsmacht eingetreten ist. Denn der Bundestagstag ist das Verfassungsorgan, das unmittelbar nach den Grundsätzen freier und gleicher Wahl zustande kommt. Art. 38 I 1 GG ist in diesem Sinne als „prozessualer Hebel“ zur Geltendmachung dieser Rechte zu verstehen.
Das Legitimationsteilhaberecht wird auch als Verdrängungsrüge bezeichnet. Es wird nämlich geltend gemacht, dass eine Maßnahme deswegen nicht ausreichend demokratisch legitimiert ist, weil das Volk als Souverän aus dem Legitimationszusammenhang verdrängt wurde. Anders als bei der Entleerungsrüge ist der Ansatzpunkt nicht mehr der Wahlakt als solcher, sondern der Legitimationszusammenhang, der bei jedem Akt der öffentlichen Gewalt bestehen muss.
Examenswissen: Noch ungeklärt ist, woraus sich das Legitimationsteilhaberecht begründet. Das BVerfG zieht teilweise die Menschenwürde, teilweise die Volkssouveränität als primären Anknüpfungspunkt zur Herleitung des Legitimationsteilhaberechts heran.
Herleitung über die Menschenwürde: Unstrittig besteht eine Verbindung zwischen Menschenwürde und Demokratie: Menschenwürde ist nicht nur subjektive Rechtsnorm, sondern oberstes Verfassungsprinzip. Dabei geht „[d]as Grundgesetz [...] vom Eigenwert und der Würde des zur Freiheit befähigten Menschen aus und verbürgt im Recht der Bürger, in Freiheit und Gleichheit durch Wahlen und Abstimmungen die sie betreffende öffentliche Gewalt personell und sachlich zu bestimmen, einen menschenrechtlichen Kern des Demokratieprinzips.“ Demnach ergebe sich die demokratischen Selbstbestimmung aus der über die Menschenwürde geschützten Selbstbestimmung.
Herleitung über die Volkssouveränität: Die Herleitung über die Menschenwürde ist allerdings umstritten. Dabei wird kritisiert, dass der Sache nach nicht die Menschenwürde, sondern das Prinzip der Volkssouveränität unter Rückgriff auf Art. 1 Abs. 1 GG subjektiviert wurde. Wenn das Gericht im „[...]Recht der Bürger, in Freiheit und Gleichheit durch Wahlen und Abstimmungen die sie betreffende öffentliche Gewalt personell und sachlich zu bestimmen, einen menschenrechtlichen Kern des Demokratieprinzips“ erkennt, wird zur Herleitung der Grundsatz der Volksrepräsentation des Art. 20 II GG verwendet, und nicht die individuelle Selbstbestimmung aus Art. 1 Abs. 1 GG.
Im Ergebnis: Schlussendlich kann in einer Klausur sowohl Art. 1 I GG und/oder Art. 20 II GG zur Herleitung verwendet werden, wenn ein Legitimationsteilhaberecht Schwerpunkt der Prüfung sein sollte. Das BVerfG nutzt beide Bezugspunkte, um Art. 38 I 1 GG abzusichern. Jedoch sollte bedacht werden, welche Konsequenzen eine Herleitung über Art. 1 I GG begründen würde: Ein Anspruch auf direkte Mitwirkung an der Herrschaft über die Menschenwürde müsste auch zu einem allgemeinen Wahlrecht für Ausländer;innen in Deutschland führen. Das BVerfG entschied in seinen beiden Entscheidungen zum (kommunalen) Ausländer:innenwahlrecht, dass Träger der Staatsgewalt nach Art. 20 II 1 GG nur das Staatsvolk sein könne, welches sich nach der Staatsbürgerschaft richte. Somit sei eine einfach-gesetzliche Erweiterung des Wahlrechts auf Ausländer:innen ein Verstoß gegen Art. 20 II GG. Inwiefern eine Verfassungsänderung verfassungsrechtlich in Hinblick auf Art. 79 III i.V.m. Art. 20 I GG möglich wäre, ist umstritten.
Formelle Übertragungsrüge
Im Beschluss vom 13.2.2020 begründete das BVerfG eine weitere Ausprägung des Art. 38 I 1 GG: Das Grundrecht auf Demokratie erstrecke sich auch auf die Einhaltung von formellen Voraussetzungen, die sich aus Art. 23 I 2, Art. 79 II GG ergeben. Demnach seien Zustimmungsgesetze zur völkerrechtlichen Verträgen, die unter Verstoß von Art. 23 I 3 i.V.m. Art. 79 II ergangen sind, gleichzeitig ein Verstoß gegen Art. 38 I 1, 20 I und II i.V.m. Art. 79 III GG.
Weiterführendes Wissen zu den Einzelheiten des Urteils über das Einheitliche Patentgericht
Anlass des Urteils war ein Übereinkommen über ein Einheitliches Patentgericht (EPGÜ), dass durch einen völkerrechtlichen Vertrag geschlossen wurde. Über diesen Vertrag sollte ein gemeinsames Gericht zur Überwachung der Regelungen zum europäischen Patent gebildet werden. Der Bundestag stimmte über das Zustimmungsgesetz zum EPGÜ ab, anwesend waren 35 Abgeordnete. Gegen dieses Zustimmungsgesetz wurde vor dem BVerfG Verfassungsbeschwerde eingereicht: Der Kläger rügte eine Verletzung des Rechts aus Art. 38 I 1 GG, da der Bundestag mit qualifizierter Mehrheit über das Gesetz hätte abstimmen müssen. Das BVerfG stimmte der Beschwerde insoweit zu, als eine Verletzung des Rechts aus Art. 38 I 1 GG i.V.m. Art. 20 I und II, Art. 79 III GG durch das Erfordernis der qualifizierten Mehrheit aus Art. 23 I 2, Art. 79 II GG gerügt wurde.
Im vorliegenden Fall hätte der Bundestag über das strittige Zustimmungsgesetz mit qualifizierter Mehrheit abstimmen müssen, anwesend waren allerdings nur 35 Abgeordnete. In der Rechtsanwendung subjektiviert das BVerfG somit formelle Voraussetzungen des Gesetzgebungsprozesses in Hinblick auf Art. 38 I 1 GG und schafft damit eine formelle Übertragungsrüge. Inwieweit sich diese Ausprägung aus Art. 38 I 1 GG etablieren wird, bleibt abzuwarten. Äußerst kritisch sahen die Entscheidung zumindest 3 von 8 der beteiligten Richter:innen, die sich dem Urteil nicht anschlossen. Demnach sei die formelle Übertragungsrüge zu weitreichend, da in dieser Konstellationen keine „Verletzung der Substanz des Wahlrechts, verstanden als den in der Würde des Menschen wurzelnden Kern des Demokratieprinzips“ zu erkennen sei.
Kritik am Recht auf Demokratie
Im Maastricht-Urteil wurde die mögliche Rechtsverletzung noch direkt über Art. 38 I 1 GG und einer möglichen Entleerung des Wahlrechts begründet (Kompetenzentleerungsrüge). Betrachtet man den Wortlaut von Art. 38 I 1 GG anschaut („Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt.“), ergibt sich selbst die Kompetenzentleerungsrüge nicht unmittelbar aus Art. 38 I 1 GG. Trotzdem wird dieser Teil des Rechts auf Demokratie weitestgehend anerkannt.
Die Weiterentwicklung des Rechts auf Demokratie und Begründung des Legitimationsteilhaberechts ist allerdings äußerst umstritten. Dabei ist ein häufig erwähntes Argument, dass die Voraussetzung einer subjektiven Beschwer innerhalb der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde durch die Subjektivierung des Rechts auf Demokratie abgeschafft wurde. So konnte über Art. 38 I 1 GG gegen das Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon Verfassungsbeschwerde eingereicht werden. Für die Beschwerdebefugnis reichte aus, dass „mit ihnen auf der Grundlage von Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG eine Verletzung des Demokratieprinzips, ein Verlust der Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland und eine Verletzung des Sozialstaatsprinzips gerügt wird“.
Neben der Kritik an der verfahrensrechtlichen Subjektivierung des Art. 38 I 1 GG (teilweise wird von einer „Einladung“ zur Verfassungsbeschwerde, teilweise von einer Popularklage(befugnis)gesprochen), wird das Recht auf Legitimationsteilhabe auch der Sache nach hinterfragt. Durch die Konstruktion wird ein generelles „Grundrecht auf Legitimationsteilhabe“ begründet, das sich nicht nur auf Sachverhalte der europäischen Integration begrenzen lasse. Gleichzeitig weite die Rechtsprechung Art. 38 GG zu sehr aus. Durch die Subjektivierung von objektiven Verfassungsprinzipien werden die vom BVerfG hergeleiteten Kontrollmöglichkeiten der europäischen Integration auch in der Verfassungsbeschwerde überprüfbar. Darüber hinaus bleibt vom BVerfG weitgehend unterbeleuchtet, inwiefern die demokratische Legitimation auf europäischer Ebene auf anderen Wegen vollzogen wird, als auf nationaler Ebene (Stichwort: duale Legitimation).
Die gleichen Argumente können der formellen Übertragungsrüge entgegengehalten werden. Über die erneute Erweiterung des BVerfG werde die allgemeine Rechtmäßigkeitskontrolle weiter gefasst, das Recht auf Demokratie werde im Ergebnis noch konturenloser.
Aufbau in der Prüfung
Das Recht auf Demokratie gehört noch nicht zum Standardstoff des Öffentlichen Rechts, wird aber durch die Weiterentwicklung des BVerfG immer relevanter. Daher sollten Studierende zumindest grundsätzlich mit der Prüfung des Rechts auf Demokratie aus Art. 38 I 1 GG vertraut sein. Dabei gestaltet sich der Aufbau der Verfassungsbeschwerde wie folgt:
A. Zulässigkeit
I. Zuständigkeit des BVerfG: Art. 93 I Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG
II. Beschwerdefähigkeit: Recht auf Demokratie aus Art. 38 I 1 GG steht offen für alle natürlichen Bürger:innen als Wahlberechtigte
III. Beschwerdegegenstand: Zustimmungsgesetze zur Änderung des Primärrechts; ein Rechtsakt zur Durchführung von Unionsrechts oder die Unterlassung eines Einschreitens gegen Integrationsverantwortung der EU, wenn kein Durchführungsrechtsakt vorliegt
Klausurtaktik
An dieser Stelle sollte präzise bestimmt werden, was der Beschwerdegegenstand der Verfassungsbeschwerde ist. Das ist ein Schwerpunkt der Zulässigkeitsprüfung
IV. Beschwerdebefugnis:
1. Möglichkeit der Grundrechtsverletzung: Zuerst muss Art. 38 I 1 GG hergeleitet, die jeweilige Ausrichtung konkretisiert (Entleerungsrüge/ Verdrängungsrüge/ formelle Übertragungsrüge) und dann die Möglichkeit der Rechtsverletzung dargestellt werden.
Klausurtaktik
An dieser Stelle befindet sich der zweite Schwerpunkt der Zulässigkeitsprüfung. Bitte Art. 38 I 1 GG ordentlich herleiten und die Ausgestaltung (Entleerungs- oder Verdrängungsrüge/ formelle Übertragungsrüge) konkretisieren.
2. Selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen:
Jede wahlberechtigte Person ist selbst betroffen.
Sowohl die Gegenwärtigkeit, wie auch die Unmittelbarkeit nimmt das BVerfG in der Regel unproblematisch an.
Das BVerfG lässt die Verfassungsbeschwerde über Art. 38 I 1 GG auch ohne spezifische Grundrechtsbetroffenheit zu. Selbst vorbeugend, also vor Inkrafttreten eines Gesetzes, wird die Betroffenheit bejaht. Die Gegenwärtigkeit ergibt sich in der Regel aus der fehlenden Einflussmöglichkeit des:der Bürger:in. Die Unmittelbarkeit wird auch dann bejaht, wenn der Beschwerdeakt selbst noch nicht in Kraft getreten ist. Das BVerfG prüft an dieser Stelle großzügig. So wird im OMT–Verfahren die Betroffenheit bejaht, obwohl der Grundsatzbeschluss über das OMT–Verfahren nicht umgesetzt wurde.
Klausurtaktik
Insgesamt sollte auf diesen Prüfungspunkt nicht zu viel Zeit verwendet werden.
Examenswissen: Abgelehnt wurde die Betroffenheit bei der Frage, ob das Zustimmungsgesetz zum Übereinkommen über ein Einheitliches Patentgericht auf europäischer Ebene gegen die Verfassungsidentität verstoße, weil die Rechtsstellung der Richter:innen rechtsstaatlich unzureichend geregelt sei.
V. Rechtswegerschöpfung und Subsidiarität: Es besteht kein anderer Rechtsweg; Grundsatz der Subsidiarität wird großzügig ausgelegt
VI. Form und Frist des Antrags: §§ 23 I, 92, 93 BVerfGG
Innerhalb der Begründetheit kann das Recht auf Demokratie als Freiheitsrecht geprüft werden. Der Schutzbereich richtet sich danach, welche Ausrichtung des Rechts auf Demokratie vorliegt (Entleerungsrüge/Verdrängungsrüge/formelle Übertragungsrüge).
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Weiterführende Studienliteratur
Beim Recht auf Demokratie handelt es sich im Kern um eine Thematik des Staatsrechts III. Zur weiterführenden Lektüre wird Sauer, Staatsrecht III, 6. Aufl. 2020, § 9 Rn. 69 ff. empfohlen.
Zusammenfassung: Die wichtigsten Punkte
Durch die Ausgestaltung des BVerfG wird Art. 38 I 1 GG zum politischen Teilhaberecht. Das Recht auf Demokratie kann über die Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden.
Das Recht auf Demokratie aus Art. 38 I 1 GG kann in drei unterschiedliche Ausprägungengeltend gemacht werden: über die Kompetenzentleerungsrüge, über die Verdrängungsrüge (auch Legitimationsteilhaberecht genannt) und über die formelle Übertragungsrüge. Dabei ist die Herleitung des Anspruchs auf Demokratie besonders umstritten.