Sachverhalt
Im Herbst 2021 wütet das Coronavirus in Deutschland. Die Zahl der täglichen Neuinfektionen schnellt in die Höhe, täglich sterben Menschen in drei- bis vierstelliger Zahl an COVID-19. Es wird davon ausgegangen, dass das Virus unter anderem durch Tröpfcheninfektion übertragen wird, wenn eine infizierte Person hustet, niest oder ausatmet. Besondere Ansteckungsgefahren bestehen daher, wenn Menschen einander näher als anderthalb Meter kommen. Aber auch sog. Aerosole, die insbesondere beim Reden ausgestoßen werden, können das Virus ungesehen übertragen. Auf Grundlage des Infektionsschutzgesetzes haben zahlreiche Länder Coronaschutzverordnungen mit weitreichenden Regelungen erlassen, wie beispielsweise Abstandsgebote und – nach gegenwärtiger Studienlage sehr effektiv – die Pflicht zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung in bestimmten Innenräumen. Auch die HessCoronaSchVO sieht solche Regelungen vor, erfasst aber nicht die Sitzungen der Gemeindevertretungen und der Kreistage.
Die Stadtverordnetenversammlung der Stadt Gießen beschließt im Oktober 2021, ihre Geschäftsordnung dahingehend zu ergänzen, dass alle Stadtverordneten während der gesamten Sitzung eine FFP2-Maske zu tragen haben. Sanktionen im Fall von Verstößen sieht die Änderung der Geschäftsordnung nicht vor. Vorausgegangen ist eine lebhafte Diskussion, in der lange darüber diskutiert wurde, ob die Sitzungen nicht stattdessen digital stattfinden sollten, da zahlreiche Stadtverordnete um ihre Gesundheit besorgt waren. Letztlich setzt sich die Einschätzung der Mehrheit durch, dass das Tragen einer Maske in der Sitzung das Risiko einer Infektion zumindest deutlich verringert und Rede und Gegenrede in einer analog ausgetragenen Sitzung auch mit Maskenpflicht immer noch effektiver möglich sind als in rein digitalen Sitzungen.
Der Stadtverordnete B ist mit diesem Beschluss überhaupt nicht einverstanden. Er findet, dass er durch die Anordnung der Maskenpflicht seinen „politischen Auftrag“ nicht mehr hinreichend wahrnehmen könne, da das Reden deutlich anstrengender und die Sprechenden auch schlechter zu verstehen seien. Während der Sitzung sei es – was zutrifft – möglich, Abstände von anderthalb Metern zueinander einzuhalten. Im Übrigen könne die Gemeinde ja Plexiglaswände anschaffen und zum Schutz zwischen den Stadtverordneten aufstellen.
In der Novembersitzung der Stadtverordnetenversammlung erscheint B daher, ohne eine FFP2-Maske zu tragen. Die Stadtverordnetenvorsteherin V macht B schon zu Beginn der Sitzung darauf aufmerksam, dass er seine Maske aufzusetzen habe. B zieht sich die FFP2-Maske daraufhin zunächst auf. Bei seinem ersten Redebeitrag setzt B die Maske dann aber wieder ab. V unterbricht den Redebeitrag des B und ermahnt ihn erneut dazu, die Maske aufzusetzen. B weigert sich. Daraufhin entbrennt eine ungeordnete, laute Diskussion zwischen den Stadtverordneten, in der wechselseitige Beschimpfungen wie „Querdenker“ und „Schlafschafe“ zu hören sind. Einige Stadtverordnete äußern gegenüber V, dass sie nicht bereit sind, an der Sitzung weiterhin teilzunehmen, wenn nicht alle Stadtverordneten entsprechend der neuen Regelung der Geschäftsordnung ihre Maske trügen. V schafft es, die Lage zu beruhigen, richtet einen Ordnungsruf an B und fordert B ein weiteres Mal dazu auf, die Maske aufzusetzen oder freiwillig den Sitzungssaal zu verlassen; andernfalls werde sie B von der laufenden und der nächsten Sitzung ausschließen, um einen geordneten Gang der Sitzung zu ermöglichen. B äußert, er werde „heute und auch in Zukunft“ bei seiner Haltung bleiben, und setzt seine Rede fort, ohne die Maske aufzusetzen. V spricht daraufhin gegenüber B den Ausschluss von der laufenden und von der Dezembersitzung aus. Unter lautem Protest und unter Ankündigung rechtlicher Schritte verlässt B den Sitzungssaal.
Im Nachgang zur Sitzung beantragt B in einem Schreiben an V, dass die Stadtverordnetenversammlung zu Beginn der Dezembersitzung über den Ausschluss entscheiden möge; er werde sich bereithalten, um nach einer zu seinen Gunsten ergangenen Entscheidung an der weiteren Sitzung teilzunehmen. Die Stadtverordnetenversammlung hält jedoch zu Beginn der Dezembersitzung die Entscheidung der V über den Sitzungsausschluss aufrecht. B nimmt daher auch an der Dezembersitzung nicht teil. Einige Tage später erhebt B Klage gegen die V in ihrer Rolle als Stadtverordnetenvorsteherin beim Verwaltungsgericht Gießen, um feststellen zu lassen, dass der Sitzungsausschluss ihn in seinen Rechten aus der Gemeindeordnung verletzt hat.
Hat die Klage des B Aussicht auf Erfolg?
Lösungsvorschlag
Die Klage des B hat Aussicht auf Erfolg, soweit sie zulässig und begründet ist.
Zulässigkeit
Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs
Mangels aufdrängender Sonderzuweisung richtet sich die Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs nach § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO. Diese Vorschrift setzt eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit nichtverfassungsrechtlicher Art und das Fehlen einer abdrängenden Sonderzuweisung voraus.
Rechtliche Streitigkeit
Am Merkmal der rechtlichen Streitigkeit lässt sich insofern zweifeln, als Träger subjektiver Rechte und Pflichten – hinsichtlich deren eine rechtliche Streitigkeit möglich ist – nach klassischem Verständnis ausschließlich natürliche und juristische Personen sind (sog. Impermeabilitätslehre).
Das Handeln von Organen oder Organteilen einer Gebietskörperschaft ist – anders als das Handeln natürlicher oder juristischer Personen – grundsätzlich nicht darauf ausgerichtet, eigene Belange durchzusetzen, sondern darauf, das Wohl der Gebietskörperschaft zu verwirklichen. Organe verfügen daher in erster Linie über Kompetenzen, die sich strukturell von subjektiven Rechten unterscheiden. Allerdings können solche Organpositionen mit subjektiven Außenrechten vergleichbar und damit als wehrfähige organschaftliche Rechtspositionen anzusehen sein. Das setzt voraus, dass das Gesetz dem Organ oder dem Organteil mit der Kompetenzzuweisung bewusst ermöglicht, eigene Zielvorstellungen einzubringen, die auch im Konflikt mit anderen Interessen stehen können.
Vertiefungshinweis zum Begriff des Kommunalverfassungsstreits
Der Streit zwischen Organen oder Organteilen von Kommunen nennt sich Kommunalverfassungsstreit.
Beim Kommunalverfassungsstreit werden begrifflich – ohne, dass es darauf für die Falllösung ankommt – inter- und intraorganschaftliche Streitigkeiten unterschieden.
B richtet die Klage ausdrücklich gegen die V in ihrer Rolle als Stadtverordnetenvorsteherin und macht die Verletzung von organschaftlichen Rechten aus der Gemeindeordnung geltend. Die Beteiligten streiten damit um organschaftliche Rechte und Pflichten. Daher handelt es sich vorliegend um eine rechtliche Streitigkeit.
Öffentlich-rechtliche Streitigkeit
Der Streit über den Ausschluss des B von den beiden Sitzungen der Stadtverordnetenversammlung entscheidet sich nach Vorschriften des Kommunalrechts, namentlich nach § 58 Abs. 4 S. 1 und § 60 Abs. 2 S. 1 HGO. Diese Vorschriften berechtigen und verpflichten die V als Teil eines Organs einer Trägerin öffentlicher Gewalt (Stadt Gießen) als solches und gehören damit nach der Sonderrechtslehre dem öffentlichen Recht an. Es handelt sich daher um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit.
Nichtverfassungsrechtliche Streitigkeit
Ungeachtet des Umstands, dass der Streit zwischen zwei Organen oder Organteilen innerhalb einer Kommune als „Kommunalverfassungsstreit“ bezeichnet wird, streiten auch nicht zwei unmittelbar am Verfassungsrechtskreis Beteiligte um materielles Staatsverfassungsrecht,
Keine abdrängende Sonderzuweisung
Eine abdrängende Sonderzuweisung ist nicht ersichtlich.
Zwischenergebnis
Somit ist der Verwaltungsrechtsweg eröffnet.
Statthafte Rechtsschutzform
Da es sich beim Kommunalverfassungsstreitverfahren nicht um eine eigenständige Verfahrensart handelt
Vertiefungshinweis zu den statthaften Rechtsschutzformen im Kommunalverfassungsstreit
Da das Verhalten der Organe oder Organteile, soweit es andere Organe oder Organteile betreffen soll, keine Außenwirkung entfaltet (dazu sogleich), kommen alle Rechtsschutzformen, die sich auf einen Verwaltungsakt beziehen, im Ergebnis nicht in Betracht. Das betrifft vor allem Anfechtungsklage, Verpflichtungsklage und Fortsetzungsfeststellungsklage, im einstweiligen Rechtsschutz die Verfahren nach §§ 80, 80a VwGO.
Eine Sondersituation entsteht, wenn ein Organ oder Organteil gerichtlich geltend macht, dass eine Bestimmung der Geschäftsordnung organschaftliche Rechte verletzt. Dann ist das Normenkontrollverfahren vor dem VGH Kassel nach § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO i.V.m. § 15 HessAGVwGO statthaft.
Statthaftigkeit einer Fortsetzungsfeststellungsklage
Die Fortsetzungsfeststellungsklage ist gegen einen erledigten Verwaltungsakt statthaft. Ungeachtet der Frage, ob die Fortsetzungsfeststellungsklage analog § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO auch dann statthaft ist, wenn sich ein Verwaltungsakt schon vor Klageerhebung erledigt, ist die Fortsetzungsfeststellungsklage hier jedenfalls dann nicht statthaft, wenn es sich bei dem Sitzungsausschluss nicht um einen Verwaltungsakt im Sinne von § 35 S. 1 HVwVfG handelt. Zweifelhaft ist hier vor allem das Merkmal der „unmittelbare[n] Rechtswirkung nach außen“.
Vertiefungshinweis zu den Merkmalen des Verwaltungsakts
Regelungswirkung entfaltet der Sitzungsausschluss unzweifelhaft. Neben der Außenwirkung lässt sich aber zudem am Merkmal der „Behörde“ zweifeln. Behörde ist nach § 1 Abs. 2 HVwVfG jede Stelle, die Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnimmt. Der VGH Kassel hat jedenfalls hinsichtlich des Kreistags – übertragbar auf die Gemeindevertretung – entschieden, dass dieses Organ grundsätzlich nicht als Behörde im Sinne von § 35 S. 1 HVwVfG handelt, sondern als willensbildendes Organ einer kommunalen Vertretungskörperschaft.
Auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen ist eine Maßnahme gerichtet, wenn sie nicht nur darauf abzielt, im Innenbereich des Staates Wirkungen auszulösen, sondern unmittelbar die Rechtsposition einer natürlichen oder juristischen Person gestaltet oder festgestellt werden soll.
Statthaftigkeit einer Feststellungsklage
Die Feststellungsklage ist nach § 43 Abs. 1 VwGO statthaft, wenn der Rechtsschutzsuchende die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses oder der Nichtigkeit eines Verwaltungsakts begehrt. Da es sich beim Sitzungsausschluss nicht um einen Verwaltungsakt handelt, kann es hier nur um das Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses gehen. Rechtsverhältnis ist die sich aus einem konkreten Sachverhalt ergebende rechtliche Beziehung einer Person zu einer anderen Person oder zu einer Sache.
Vorliegend ist B der Auffassung, dass V in ihrer Rolle als Stadtverordnetenvorsteherin durch den Sitzungsausschluss Rechte des B aus der Gemeindeordnung verletzt hat. Er bestreitet also, dass zwischen ihm und der V in ihrer Rolle als Stadtverordnetenvorsteherin eine rechtliche Beziehung bestand, die es der V erlaubt hätte, den B von den Sitzungen auszuschließen. Bei dieser bestrittenen rechtlichen Beziehung handelt es sich um ein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis.
§ 43 Abs. 2 S. 1 VwGO ordnet an, dass die Feststellung nicht begehrt werden kann, soweit der Kläger seine Rechte durch Gestaltungs- oder Leistungsklage verfolgen kann oder hätte verfolgen können. Da eine Anfechtungsklage hier mangels Verwaltungsakts und wegen Erledigung des Sitzungsausschlusses ausscheidet und auch eine Leistungsklage mit Blick auf die Vergangenheit nicht weiterhilft, greift diese Subsidiaritätsregel vorliegend nicht.
Zwischenergebnis
Statthaft ist damit die allgemeine Feststellungsklage.
Berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung
§ 43 Abs. 1 VwGO verlangt dem Kläger ein berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung ab. Dieses Interesse kann grundsätzlich rechtlicher, wirtschaftlicher oder ideeller Natur sein. Das berechtigte Interesse des B an der gerichtlichen Entscheidung, ob der Sitzungsausschluss wehrfähige organschaftliche Rechtspositionen verletzt hat, folgt schon daraus, dass jedenfalls für die Dauer der Corona-Pandemie und des Bestands der Maskenpflicht in der Geschäftsordnung der Stadtverordnetenversammlung der Stadt Gießen eine Wiederholung droht. Zudem war der Sitzungsausschluss öffentlich wahrnehmbar (§ 52 Abs. 1 S. 1 HGO) und kann damit insofern diskriminierend gewirkt haben, als B zwar nicht rechtlich (§ 35 Abs. 1 HGO), wohl aber politisch gegenüber den Wählern verantwortlich ist und mit Blick auf eine etwaige Wiederwahl auf die Wählergunst angewiesen ist. B hat daher auch ein berechtigtes Interesse an einer Rehabilitation durch eine gerichtliche Entscheidung.
Klagebefugnis
Um Popularklagen auszuschließen, ist § 42 Abs. 2 VwGO auf die allgemeine Feststellungsklage analog anzuwenden. B muss daher geltend machen, durch den Sitzungsausschluss in eigenen organschaftlichen Rechten verletzt zu sein. Eine solche Verletzung muss möglich erscheinen, darf also nicht von vornherein offenkundig ausgeschlossen sein.
Da B nicht in seiner Rolle als natürliche Person gegen die Stadt Gießen, sondern in seiner Rolle als Teil eines Organs der Stadt Gießen gegen einen anderen Teil eines Organs klagt, kann B insoweit grundsätzlich keine Betroffenheit von Grundrechten gelten machen – diese verpflichten die Stadt Gießen im Außenverhältnis, nicht die V als beklagten Organteil.
Vertiefungshinweis zu den Mitwirkungsrechten der Gemeindevertreter
An den Sitzungen der Gemeindevertretung teilzunehmen, ist das grundlegende Mitwirkungsrecht, das sich aus § 35 Abs. 1 HGO ableiten lässt. Zu den Mitwirkungsrechten aus § 35 Abs. 1 HGO zählen weiter die Rechte, zu reden, zu fragen, Informationen zu erhalten, Anträge zu stellen und an Abstimmungen und Wahlen teilzunehmen. Nach § 55 Abs. 3 S. 2 HGO kann ein Gemeindevertreter bei Wahlen außerdem der Wahl durch Zuruf oder Handaufheben widersprechen; § 55 Abs. 6 S. 1 HGO gewährt Gemeindevertretern ein Recht, der Gültigkeit einer von der Gemeindevertretung vorgenommenen Wahl zu widersprechen.
Aus § 35 Abs. 1 HGO lässt sich zudem ein Recht der Gemeindevertreter darauf ableiten, dass die Gemeindevertretung nicht rechtswidrig die Öffentlichkeit ausschließt (§ 52 Abs. 1 HGO). Gegen einen rechtswidrigen Ausschluss der Öffentlichkeit können sich Gemeindevertreter damit im Kommunalverfassungsstreit wehren, wenn sie selbst im Einzelfall von allen ihnen nach Gesetz und Geschäftsordnung zustehenden Möglichkeiten Gebrauch gemacht haben, um eine öffentliche Beratung und Beschlussfassung über den betroffenen Gegenstand zu erreichen.
Dass der Sitzungsausschluss durch V rechtswidrig war und das Recht des B somit verletzt hat, ist nicht von vornherein offenkundig ausgeschlossen und daher möglich. B ist somit klagebefugt.
Richtige Klagegegnerin
Nach dem Rechtsträgerprinzip wäre die Klage gegen die Rechtsträgerin des handelnden Organs bzw. Organteils zu richten, hier also die Stadt Gießen als Rechtsträgerin des Organs Stadtverordnetenversammlung, deren Organteil, die Stadtverordnetenvorsteherin V, den B von der Sitzung ausgeschlossen hat. Allerdings wird hier nicht über Rechte und Pflichten gestritten wird, die der Stadt Gießen als Rechtsträgerin im Außenverhältnis zustehen, sondern um wechselseitige Rechte und Pflichten von Organen bzw. Organteilen der Stadt. Wäre die Klage gegen die Stadt Gießen zu richten, wäre – jedenfalls bei Leistungsklagen – unklar, wie die Vorsitzende der Gemeindevertretung bei einer Verurteilung der Stadt dazu angehalten werden können, die titulierte Leistungspflicht zu erfüllen. Im Kommunalverfassungsstreit bestimmt sich der richtige Klagegegner damit nach dem Funktionsträgerprinzip. Richtiger Klagegegner ist dasjenige Organ bzw. derjenige Organteil, dem gegenüber die behauptete Innenrechtsposition bestehen soll.
Beteiligungs- und Prozessfähigkeit
Zu prüfen sind weiter die Beteiligungs- und die Prozessfähigkeit von B und V.
Beteiligungsfähigkeit
B und V sind zwar als Organwalter natürliche Personen. Sie streiten hier allerdings nicht in ihren Rollen als natürliche Personen miteinander um ihnen zustehende Individualrechte. Daher sind sie nicht nach § 61 Nr. 1 Alt. 1 VwGO beteiligungsfähig. Da nicht die Stadt Gießen selbst Klägerin oder Klagegegnerin ist, scheidet auch § 61 Nr. 1 Alt. 2 VwGO zur Begründung der Beteiligungsfähigkeit ebenfalls aus. Schließlich bestimmt das hessische Landesrecht auch nicht im Sinne von § 61 Nr. 3 VwGO, dass Behörden beteiligungsfähig wären; im Übrigen betrifft diese Vorschrift Außenrechtsstreitigkeiten, an denen der Rechtsträger selbst beteiligt ist.
Eine Beteiligungsfähigkeit von B und V kommt daher nur nach § 61 Nr. 2 VwGO in Betracht. Diese Vorschrift erklärt Vereinigungen für beteiligungsfähig, soweit ihnen ein Recht zustehen kann. Zwar handelt es sich weder bei B noch bei V um eine Vereinigung. Allerdings liegt § 61 Nr. 2 VwGO der für den Kommunalverfassungsstreit passende Gedanke zugrunde, eine Beteiligungsfähigkeit für andere Beteiligte als natürliche und juristische Personen (§ 61 Nr. 1 VwGO) insoweit zuzugestehen, als das materielle Recht diesen Beteiligten wehrfähige Rechte einräumt. Das rechtfertigt es, den Stadtverordneten B und die Stadtverordnetenvorsteherin V analog § 61 Nr. 2 VwGO hinsichtlich ihrer organschaftlichen Rechte als beteiligungsfähig anzusehen.
Prozessfähigkeit
Die Bestimmung der Prozessfähigkeit muss an diesen Überlegungen anknüpfen. Es kommt daher nicht auf die Geschäftsfähigkeit von B und V an (§ 62 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Vielmehr richtet sich die Prozessfähigkeit von Vereinigungen nach § 62 Abs. 3 VwGO. Da es sich bei B und V jeweils nicht um eine Vereinigung im Sinne eines Zusammenschlusses mehrerer Personen handelt, können sie sich aber analog § 62 Abs. 3 VwGO jeweils selbst vertreten.
Zuständigkeit des Gerichts
Das Verwaltungsgericht Gießen ist gemäß §§ 45, 52 Nr. 5 VwGO i.V.m. § 1 Abs. 2 Nr. 3 HessAGVwGO zuständig.
Rechtsschutzbedürfnis
Dem B fehlt das Rechtsschutzbedürfnis, wenn eine stattgebende Entscheidung des Gerichts seine rechtliche Stellung nicht verbessern kann oder er auf andere Weise einfacher und schneller zu seinem Ziel kommt. Mit Blick auf den Sitzungsausschluss durch den Vorsitzenden der Gemeindevertretung spricht § 60 Abs. 2 S. 2 HGO dem ausgeschlossenen Mitglied der Gemeindevertretung die Möglichkeit zu, gegen den Ausschluss die Entscheidung der Gemeindevertretung einzuholen. Die Gemeindevertretung ist dazu verpflichtet, auf den Antrag hin spätestens in der nächsten Sitzung als Plenum über den Ausschluss zu befinden. Im Regelfall ist es durchaus denkbar, dass die Gemeindevertretung – gerade nach Ablauf der Zeit bis zur „nächsten Sitzung“, unter Beruhigung etwaiger Emotionen und unter Berücksichtigung der vom ausgeschlossenen Mitglied vorgebrachten Argumente
Vertiefungshinweis zum Verfahren nach § 60 Abs. 2 S. 2 HGO
Mit der „nächsten Sitzung“ ist nicht die dem Antrag (der „Anrufung“) nachfolgende Sitzung gemeint, sondern die dem Sitzungsausschluss nachfolgende Sitzung.
Strengt der ausgeschlossene Gemeindevertreter das Verfahren nach § 60 Abs. 2 S. 2 HGO nicht (rechtzeitig) an, kann die Rechtswidrigkeit des Ausschlusses auch in anderen Verfahren nicht mehr geltend gemacht werden, beispielsweise in einem Wahlprüfungsverfahren nach § 55 Abs. 6 HGO.
B hat hier im Nachgang zur Novembersitzung in einem Schreiben an V beantragt, dass die Stadtverordnetenversammlung zu Beginn der Dezembersitzung über den Ausschluss entscheiden möge. Die Stadtverordnetenversammlung hat jedoch zu Beginn der Dezembersitzung die Entscheidung der V über den Sitzungsausschluss aufrechterhalten.
Damit fehlt dem B nicht das Rechtsschutzbedürfnis.
Zwischenergebnis
Die Klage des B ist zulässig.
Begründetheit
Die Klage ist begründet, soweit das von B geleugnete Rechtsverhältnis nicht bestand (vgl. § 43 Abs. 1 VwGO). Das setzt voraus, dass V nicht dazu befugt war, das organschaftliche, aus § 35 Abs. 1 HGO folgende Recht des B zur Teilnahme durch den Ausschluss an der laufenden und an der Dezembersitzung einzuschränken.
Ermächtigungsgrundlage
Nach dem aus dem Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 2, Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG) und dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3, Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG) abzuleitenden Vorbehalt des Gesetzes sind wesentliche Entscheidungen vom Gesetzgeber zu treffen; zudem bedürfen Eingriffe in Rechte einer zumindest materiell-gesetzlichen Rechtsgrundlage. Dies gilt auch dann, wenn die Rechtsposition – wie hier – nicht aus Grundrechten abzuleiten ist und selbst dann, wenn es sich bei der Rechtsposition um ein organschaftliches Recht handelt.
Spezialität des § 60 Abs. 2 S. 1 HGO gegenüber § 58 Abs. 4 S. 1 HGO
Nach § 58 Abs. 4 S. 1 HGO leitet der Vorsitzende die Verhandlungen der Gemeindevertretung, handhabt die Ordnung in den Sitzungen und übt das Hausrecht aus. Während sich die Ausübung des Hausrechts gegen Dritte betrifft, also insbesondere gegen Personen im Zuhörerraum, richten sich Ordnungsmaßnahmen gegen Gemeindevertreter und sonstige Personen, die zur Mitwirkung an der Sitzung der Gemeindevertretung berufen sind.
Diese Vorschrift ergänzend berechtigt § 60 Abs. 2 S. 1 HGO den Vorsitzenden dazu, ein Mitglied der Gemeindevertretung bei ungebührlichem oder wiederholtem ordnungswidrigem Verhalten für einen oder mehrere, höchstens drei Sitzungstage auszuschließen. Da die Vorschrift für eine bestimmte, eingriffsintensive Maßnahmen konkrete materielle Voraussetzungen normiert, geht sie als speziellere Norm dem § 58 Abs. 4 S. 1 HGO hinsichtlich eines Sitzungsausschlusses vor.
Vertiefungshinweis zu Ordnungsmaßnahmen auf Grundlage von § 58 Abs. 4 S. 1 HGO
§ 58 Abs. 4 S. 1 HGO dient als Generalklausel für Ordnungsmaßnahmen des Vorsitzenden. Auch ohne, dass die Geschäftsordnung Verhaltenspflichten der Gemeindevertreter oder bestimmte Ordnungsmaßnahmen des Vorsitzenden vorsieht, kann der Vorsitzende auf Grundlage von § 58 Abs. 4 S. 1 HGO für einen geordneten Gang der Verhandlungen sorgen. Als Maßnahmen kommen beispielsweise der Ruf zur Sache (bei abschweifenden Redebeiträgen) oder der Ruf zur Ordnung (bei störendem Verhalten), die Unterbrechung von Wortbeiträgen oder sogar die Entziehung des Wortes in Betracht. Auch die Schließung der Sitzung der Gemeindevertretung kommt als Ordnungsmaßnahme in Betracht. All diese Ordnungsmaßnahmen müssen im jeweiligen Fall verhältnismäßig sein. Außerdem darf eine Ordnungsmaßnahme nicht dazu eingesetzt werden, bestimmte inhaltliche Positionen auszuschließen.
Keine Sperrwirkung des § 60 Abs. 1 S. 3 HGO gegenüber § 60 Abs. 2 S. 1 HGO
Zweifelhaft erscheint allerdings das Verhältnis von § 60 Abs. 2 S. 1 HGO zu § 60 Abs. 1 S. 3 HGO, namentlich, ob § 60 Abs. 1 S. 3 HGO Sperrwirkung entfaltet. Diese Vorschrift bestimmt, dass die Geschäftsordnung für Zuwiderhandlungen gegen ihre Bestimmungen Geldbußen bis zum Betrage von fünfzig Euro vorsehen kann, bei mehrmals wiederholten Zuwiderhandlungen, insbesondere bei wiederholtem ungerechtfertigtem Fernbleiben, auch den Ausschluss auf Zeit, längstens für drei Monate. Über diese Maßnahmen entscheidet nach § 60 Abs. 1 S. 4 HGO die Gemeindevertretung, also nicht die Vorsitzende allein. Da hier ein möglicher Verstoß des B gegen eine Bestimmung der Geschäftsordnung der Gemeindevertretung im Raum steht, stellt sich die Frage, ob § 60 Abs. 1 S. 3 HGO mit Blick auf Verstöße gegen die Bestimmungen der Geschäftsordnung wiederum als Spezialvorschrift die Anwendung von § 60 Abs. 2 S. 1 HGO sperrt.
Gegen die Annahme eines solchen Spezialitätsverhältnisses spricht zunächst, dass der Vorsitzende dann in Fällen, in denen die Geschäftsordnung Bestimmungen über die Aufrechterhaltung der Ordnung enthält (vgl. § 60 Abs. 1 S. 1 HGO), seiner Aufgabe, die Ordnung in den Sitzungen zu handhaben (§ 58 Abs. 4 S. 1 HGO), in diesem Umfang nicht gerecht werden könnte. Stattdessen bedürfte es stets einer Entscheidung der Gemeindevertretung. Dazu müsste aber die Geschäftsordnung eine solche Maßnahme der Gemeindevertretung überhaupt vorsehen (§ 60 Abs. 1 S. 3 HGO) und, damit dem Vorbehalt des Gesetzes genüge getan ist, in Form eines materiellen Gesetzes, das heißt einer Satzung erlassen sein.
Dass die Befugnisse in § 60 Abs. 2 S. 1 HGO und § 60 Abs. 1 S. 3 HGO gleichrangig nebeneinanderstehen müssen, zeigt schließlich ein Blick auf die Zweckrichtung der jeweiligen Maßnahmen. Bei Maßnahmen nach § 60 Abs. 2 S. 1 HGO (und § 58 Abs. 4 S. 1 HGO) geht es stets darum, die Sitzungsordnung aufrecht zu erhalten, also dafür zu sorgen, dass die Gemeindevertretung zügig, sachgerecht und effizient arbeiten kann.
§ 60 Abs. 1 S. 3 HGO sperrt nach alledem nicht die Anwendung von § 60 Abs. 2 S. 1 HGO.
Klausurhinweis zum Umfang der Ausführungen
Das Verhältnis von § 60 Abs. 2 S. 1 HGO zu § 60 Abs. 1 S. 3 HGO wird hier aus didaktischen Gründen sehr ausführlich dargestellt. In der Klausur genügt ein kurzer Hinweis darauf, dass die Vorschriften unterschiedliche Zwecke verfolgen (Aufrechterhaltung der Ordnung vs. Sanktion) und unterschiedliche Organe/Organteile berechtigen.
Zwischenergebnis
Taugliche Ermächtigungsgrundlage für einen Sitzungsausschluss durch den Vorsitzenden mit dem Ziel, die Sitzungsordnung aufrechtzuerhalten, ist somit § 60 Abs. 2 S. 1 HGO.
Formelle Rechtmäßigkeit
Zuständigkeit
V ist als Stadtverordnetenvorsteherin die Vorsitzende der Gemeindevertretung (§ 49 S. 2 HGO) und damit für den Sitzungsausschluss nach § 60 Abs. 2 S. 1 HGO zuständig.
Verfahren
Besondere Verfahrensanforderungen stellt § 60 Abs. 2 S. 1 HGO nicht auf. Da es sich beim Sitzungsausschluss nicht um einen Verwaltungsakt handelt, greift auch § 28 Abs. 1 HVwVfG nicht unmittelbar. Hält man § 28 Abs. 1 HVwVfG für analog anwendbar, hat V die Anforderungen jedenfalls insofern erfüllt, als sie B vor dem Sitzungsausschluss dazu aufgefordert hat, die Maske aufzusetzen oder freiwillig den Sitzungssaal zu verlassen, und ihm in Aussicht gestellt hat, ihn andernfalls von der laufenden und der nächsten Sitzung auszuschließen. In diesem Zusammenhang hatte B im Sinne von § 28 Abs. 1 HVwVfG Gelegenheit, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern.
Form
Besondere Formanforderungen stellt § 60 Abs. 2 S. 1 HGO nicht auf. Da der Sitzungsausschluss mündlich erging, musste er auch nicht analog § 39 Abs. 1 S. 1 HVwVfG begründet werden.
Zwischenergebnis
Der Sitzungsausschluss erging formell rechtmäßig.
Materielle Rechtmäßigkeit
Wiederholtes ordnungswidriges Verhalten des B
§ 60 Abs. 2 S. 1 HGO setzt ein ungebührliches oder wiederholtes ordnungswidriges Verhalten voraus.
Ordnungswidrigkeit des Verhaltens
Vorliegend ist denkbar, dass B sich im Sinne des § 60 Abs. 2 S. 1 HGO ordnungswidrig verhalten hat. Mit Blick auf die amtliche Überschrift des § 60 HGO „Aufrechterhaltung der Sitzungsordnung“ und den Zweck der Vorschrift, dass der Vorsitzende dafür sorgen kann, dass die Gemeindevertretung zügig, sachgerecht und effizient arbeiten kann, ist ein Verhalten dann als ordnungswidrig anzusehen, wenn es gegen Verfahrensregeln oder verfahrensleitende Maßnahmen des Vorsitzenden verstößt oder den Gang der Verhandlungen beeinträchtigt. Die Störung der Sitzungsordnung muss zurechenbar auf das Verhalten zurückgehen.
Verursachung einer Beeinträchtigung des Gangs der Verhandlung
B hat hier der Aufforderung der V, die Maske aufzusetzen, nicht Folge geleistet. Aufgrund dessen kam es zu einer ungeordneten, lauten Diskussion zwischen den Stadtverordneten, in der wechselseitige Beschimpfungen wie „Querdenker“ und „Schlafschafe“ zu hören waren. Einige Stadtverordnete äußerten gegenüber V, dass sie nicht bereit seien, an der Sitzung weiterhin teilzunehmen, wenn nicht alle Stadtverordneten ihre Maske trügen. Deutlich wird aus diesem Sitzungsverlauf, dass die Weigerung des B, seine Maske aufzusetzen, ursächlich dafür geworden ist, dass der Gang der Verhandlungen beeinträchtigt war.
Zurechenbarkeit wegen Verstoßes gegen die Bestimmung in der Geschäftsordnung
Da an der Beeinträchtigung auch andere Stadtverordnete beteiligt waren, stellt sich die Frage, ob die Beeinträchtigung auch gerade dem B (und nicht etwa den anderen, sich beschwerenden und weigernden Stadtverordneten) zurechenbar war. Davon ist jedenfalls dann auszugehen, wenn B den Gang der Verhandlungen vorsätzlich beeinträchtigt hat oder wenn er gegen eine rechtliche Pflicht verstoßen hat, die gerade den Schutz eines geordneten Gangs der Verhandlungen bezweckte. Dass B den Gang der Verhandlungen vorsätzlich beeinträchtigt hat, erscheint zweifelhaft; ihm ging es darum, sein Mitwirkungs- und namentlich sein Rederecht unbeeinträchtigt ohne Maske wahrnehmen zu können. Zu prüfen ist aber, ob B dadurch eine rechtliche Pflicht verletzt hat, die den Schutz eines geordneten Gangs der Verhandlungen bezweckte, dass er gegen die Regelung zum Tragen einer FFP2-Maske in der Geschäftsordnung verstoßen hat.
(1) Rechtliche Pflicht durch Geschäftsordnungsbestimmung
Die Gemeindevertretung ist nach § 60 Abs. 1 S. 1 HGO befugt, ihre inneren Angelegenheiten durch eine Geschäftsordnung zu regeln. Das soll die Gemeindevertretung dazu befähigen, ihre Aufgaben zu erfüllen. Daher erklärt § 60 Abs. 1 S. 1 HGO gerade auch die Aufrechterhaltung der Ordnung zu einem möglichen Gegenstand der Geschäftsordnung. Die Geschäftsordnung muss regeln, wie die einzelnen Gemeindevertreter die ihnen aus § 35 Abs. 1 HGO zustehenden Statusrechte ausüben können. Diese Statusrechte bestehen nur als Mitgliedschaftsrechte, sind also einander zugeordnet und müssen aufeinander abgestimmt werden. Daher beschränken Regelungen der Geschäftsordnung notwendig immer auch Rechte oder begründen Pflichten des einzelnen Gemeindevertreters.
Beim Ausgleich der Statusrechte des Gemeindevertreters einerseits und der Funktionsfähigkeit des Gemeindevertreter andererseits hat die Gemeindevertretung einen weiten Gestaltungsspielraum. Bestimmungen der Geschäftsordnung dürfen aber höherrangigem Recht nicht widersprechen und müssen verhältnismäßig sein, um Rechte wirksam zu beschränken oder Pflichten zu begründen.
Die HessCoronaSchVO erfasst nicht die Sitzungen der Gemeindevertretungen und der Kreistage. Daher unterfiel es der von Art. 137 Abs. 3 HV geschützten Organisationshoheit der Stadt Gießen, selbst über die Art und Weise des Infektionsschutzes in den Sitzungen in der Geschäftsordnung zu entscheiden.
Da sich das Coronavirus über Tröpfcheninfektion und Aerosole überträgt, ist eine Bedeckung von Mund und Nase mit einer FFP2-Maske dazu geeignet, zu verhindern, dass es bei den Sitzungen der Stadtverordnetenversammlung zu Infektionen mit dem Virus kommt. Erforderlich ist eine Pflicht zum Tragen einer solchen Maske, wenn es kein anderes, ebenso geeignetes Mittel gibt. B hat geltend gemacht, dass es möglich sei, Abstände von anderthalb Metern zueinander einzuhalten und Plexiglaswände zum Schutz zwischen den Stadtverordneten aufzustellen. Diese Maßnahmen erscheinen zwar milder, reduzieren aber nicht in gleichem Maße den Ausstoß von Aerosolen und damit das Risiko der Infektion über die Verteilung von Aerosolen. Daher ist die Maskenpflicht auch erforderlich.
Die Prüfung der Angemessenheit der Maskenpflicht erfordert eine Abwägung der widerstreitenden Interessen. Zwar beeinträchtigt die Pflicht zum Tragen einer FFP2-Maske die Ausübung der Mitwirkungsrechte aus § 35 Abs. 1 HGO, da das Reden deutlich anstrengender und die Sprechenden auch schlechter zu verstehen sind. Allerdings bleibt der Austausch von Rede und Gegenrede doch immerhin möglich und ist nach der maßgeblichen Einschätzung der Stadtverordnetenversammlung auch effektiver als in rein digitalen Sitzungen. Der Eingriff ist daher als nicht besonders schwerwiegend zu bewerten.
Die Pflicht zum Tragen der FFP2-Maske in den Sitzungen der Stadtverordnetenversammlung ist nach alledem eine verhältnismäßige Regelung der Geschäftsordnung und erlegt damit den Stadtverordneten rechtliche Pflichten auf.
(2) Zweck, den geordneten Gang der Verhandlungen zu schützen
Die in der Geschäftsordnung vorgesehene Maskenpflicht soll einen Kompromiss schaffen zwischen den befürchteten besonderen Gesundheitsgefahren, die mit dem Coronavirus einhergehen, und dem Bedürfnis nach analog stattfindender Rede und Gegenrede in der Sitzung. Damit ist die Bestimmung gerade darauf ausgerichtet, den Stadtverordneten einen Teil ihrer gesundheitlichen Sorgen zu nehmen und eine möglichst effektive Wahrnehmung der Mitwirkungsrechte zu gewährleisten. Sie soll also einen geordneten Gang der Verhandlungen schützen.
(3) Zwischenergebnis
Indem B gegen die Bestimmung der Geschäftsordnung verstoßen hat, eine FFP2-Maske zu tragen, hat er gegen eine rechtliche Pflicht verstoßen, die den Schutz eines geordneten Gangs der Verhandlungen bezweckte. Damit ist ihm die Beeinträchtigung des Gangs der Verhandlungen zurechenbar.
Zwischenergebnis
B hat sich im Sinne des § 60 Abs. 2 S. 1 HGO ordnungswidrig verhalten.
Wiederholung des Verhaltens
Ein Verhalten ist als wiederholt anzusehen, wenn sich ein Gemeindevertreter in einer Sitzung mindestens zweimal auf die betreffende Art und Weise verhält.
Zwischenergebnis
B hat sich wiederholt ordnungswidrig Verhalten.
Fehlerfreie Ermessensausübung
§ 60 Abs. 2 S. 1 HGO räumt dem Vorsitzenden angesichts des Wortlauts „kann“ ein Ermessen ein (vgl. § 40 HVwVfG), dessen Ausübung gerichtlich auf Ermessensfehler zu überprüfen ist (§ 114 S. 1 VwGO).
Einhaltung der von § 60 Abs. 2 S. 1 HGO gezogenen Höchstgrenze
Nach § 60 Abs. 2 S. 1 HGO kann sich der Sitzungsausschluss auf einen oder mehrere, höchstens drei Sitzungstage beziehen. Diese Höchstgrenze von drei Sitzungstage hat V nicht überschritten.
Verhältnismäßigkeit des Sitzungsausschlusses
Ein Ausschluss von der Sitzung nach § 60 Abs. 2 S. 1 HGO muss auch dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen.
Legitimes Ziel
Mit dem Sitzungsausschluss verfolgte V das Ziel, einen geordneten Gang der laufenden und der Dezembersitzung zu ermöglichen. Es ging ihr also darum, die Sitzungsordnung aufrecht zu erhalten, das heißt dafür zu sorgen, dass die Stadtverordnetenversammlung zügig, sachgerecht und effizient arbeiten kann. Dieses Ziel liegt der Ermächtigungsgrundlage in § 60 Abs. 2 S. 1 HGO zugrunde und war damit legitim.
Geeignetheit
Dass die V den B von den beiden Sitzungen ausgeschlossen hat, stellte sicher, dass B den geordneten Gang der Sitzung nicht weiter dadurch beeinträchtigen konnte, dass er der Sitzung beiwohnte, ohne dabei im Einklang mit der Bestimmung der Geschäftsordnung eine Maske zu tragen. Der Sitzungsausschluss stellte damit die Ordnung in der Stadtverordnetenversammlung wieder her und war zur Aufrechterhaltung der Sitzungsordnung geeignet.
Erforderlichkeit
Der Sitzungsausschluss muss auch erforderlich gewesen sein. Erforderlich war der Sitzungsausschluss, wenn es kein anderes, ebenso geeignetes Mittel gab, das B weniger belastet hätte. Der Ausschluss eines Stadtverordneten von der Sitzung ist unter Berücksichtigung der Aufgabe und Stellung des Stadtverordneten das letzte und schärfste Mittel, das der Stadtverordnetenvorsteherin zur Verfügung steht.
Infrage steht danach allein noch, ob neben dem Ausschluss von der laufenden Sitzung auch der Ausschluss von der Dezembersitzung erforderlich war. Angesichts der Ankündigung des B, auch in Zukunft seine Haltung nicht zu ändern, die B erst infolge der Androhung durch V geäußert hat, ihn von der laufenden und auch der Dezembersitzung auszuschließen, war die Sorge begründet, dass B auch die Dezembersitzung auf ähnliche Weise stören werde wie die Novembersitzung. Mildere, gleich geeignete Mittel, ihn davon abzubringen, auch die Dezembersitzung durch ordnungswidriges Verhalten zu stören, kamen daher nicht in Betracht.
Damit war der Ausschluss von der laufenden und von der Dezembersitzung erforderlich.
Angemessenheit
Die Prüfung der Angemessenheit des Sitzungsausschlusses erfordert eine Abwägung der widerstreitenden Interessen. Dabei gilt: Je höherrangig das beeinträchtigte Interesse und je intensiver der Eingriff, desto gewichtiger muss das zu schützende Interesse und desto höher auch der Nutzen für dieses Interesse sein.
Abstrakt stehen sich das Recht des B auf freie Ausübung seines Mandats aus § 35 Abs. 1 HGO und die Funktionsfähigkeit der Stadtverordnetenversammlung gegenüber. Die von der Freiheit des Mandats umfassten Mitwirkungsmöglichkeiten des B stellen sicher, dass der gewählte Stadtverordnete frei von staatlicher Beeinflussung seine Anliegen in den Entscheidungsprozess einbringen, an den Entscheidungen mitwirken und sein Stimmrecht ausüben kann. Diese Mitwirkung ist ein zentraler Baustein der repräsentativen Demokratie und damit der Rückbindung der Staatsgewalt auf das Volk auf kommunaler Ebene. Sie daher einen hohen Wert.
Demgegenüber ist die Funktionsfähigkeit der Stadtverordnetenversammlung grundlegende Bedingung dafür, dass der Prozess der demokratischen Willensbildung auf kommunaler Ebene überhaupt stattfinden kann. Die Funktionsfähigkeit der Stadtverordnetenversammlung ist damit mindestens ebenso gewichtig wie die Mitwirkungsmöglichkeiten des Stadtverordneten.
Konkret bringt der Ausschluss von einer Sitzung unmittelbare Nachteile für den betroffenen Stadtverordneten mit sich. Der gewählte Stadtverordnete soll grundsätzlich an der kommunalen Willensbildung mitwirken, diese Mitwirkung setzt eine Teilnahme an der Sitzung der Stadtverordnetenversammlung voraus.
Demgegenüber bewirkte der Ausschluss, dass die laufende Sitzung und die Dezembersitzung ungestört ihren weiteren Verlauf nehmen konnten, was angesichts der eindeutigen Haltung des B andernfalls mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht der Fall gewesen wäre. Gerade durch den Ausschluss konnten die Mitwirkungsmöglichkeiten der anderen Stadtverordneten gewährleistet werden. Der Sitzungsausschluss hatte damit einen großen Nutzen.
Damit war der Sitzungsausschluss unter Abwägung der widerstreitenden Interessen auch angemessen.
Zwischenergebnis
Der Sitzungsausschluss war nach alledem verhältnismäßig.
Zwischenergebnis
V hat ihr Ermessen fehlerfrei ausgeübt.
Zwischenergebnis
Der Sitzungsausschluss erging materiell rechtmäßig.
Zwischenergebnis
V war nach alledem dazu befugt, das organschaftliche, aus § 35 Abs. 1 HGO folgende Recht des B zur Teilnahme durch den Ausschluss an der laufenden und an der Dezembersitzung einzuschränken. Das von B geleugnete Rechtsverhältnis bestand damit. Die Klage ist unbegründet.
Ergebnis
Die Klage des B ist zulässig, aber unbegründet. Sie hat keine Aussicht auf Erfolg.