Jens Gerlach Kommunalrecht (Hessen): Übungsfälle Licensed under CC-BY-4.0

Übungsfall 6: Verteidigung gegen Rechts

Kommunalverfassungsstreit, einstweiliger Rechtsschutz unmittelbar gegen eine Bestimmung der Geschäftsordnung des Kreistags, Anspruch eines Kreistagsabgeordneten auf organtreues Verhalten des Kreistags und darauf, dass die Öffentlichkeit nicht rechtswidrig ausgeschlossen wird, Regelung der Mindestfraktionsstärke in der Geschäftsordnung

Sachverhalt

Bei den hessischen Kommunalwahlen im März 2021 ziehen erstmals Abgeordnete der A- und der B-Partei in den Kreistag des Landkreises L (90.000 Einwohner) ein. Die A-Partei ist der extremen politischen Rechten zuzuordnen. Sie verfolgt einen offen ausländerfeindlichen Kurs und ist in den letzten Jahren durch regelmäßige abfällige, teils rassistische Äußerungen in der Öffentlichkeit aufgefallen. Auch die B-Partei zählt zum rechten Lager, ist allerdings etwas gemäßigter. Aus beiden Parteien schaffen es jeweils zwei Abgeordnete in den Kreistag von L.

In der konstituierenden Sitzung des Kreistags am 17. März 2021 entsteht eine lebhafte Debatte darüber, wie mit den Abgeordneten der A- und der B-Partei im Kreistag umzugehen ist. Dies mündet in die Diskussion über die Inhalte der Geschäftsordnung des Kreistags. Der Kreistagsabgeordnete G schlägt schließlich vor, die Geschäftsordnung der letzten Wahlperiode zur Grundlage zu nehmen und folgende Bestimmungen neu aufzunehmen:

§ 1a

Die im Kreistag vertretenen Fraktionen und Einzel-Abgeordneten erklären, dass sie eine Zusammenarbeit mit Abgeordneten der A-Partei in jeder Art und Weise ausschließen.

§ 5a

Anträge der Abgeordneten der A-Partei werden unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhandelt, ohne dass der Kreistag den Ausschluss jeweils gesondert beschließen muss.

§ 8, der Vorschriften über die Bildung von Fraktionen sowie über deren Rechte und Pflichten enthält, solle um folgende zwei Sätze ergänzt werden:

Fraktionen müssen eine Mindeststärke von fünf Abgeordneten besitzen. Mitglieder einer Fraktion müssen derselben Partei angehören.

G begründet seinen Vorschlag damit, dass die etablierten, demokratischen Parteien keine gemeinsame Sache mit „Rechten“ machen und daher mit § 1a ein starkes Signal in Richtung der A-Partei sowie der Bürger senden sollten. Die Regelung in § 5a könne verhindern, dass „zerstörerisches und rechtes Gedankengut“ öffentliches Gehör erhalte. Die Ergänzung von § 8 sei sinnvoll, da die im Kreistag in der vergangenen wie der neuen Wahlperiode vertretenen demokratischen Parteien bereits vier Fraktionen bildeten und man handlungsfähig bleiben müsse.

Der Vorschlag des G findet eine ausreichende Mehrheit gegen die Stimmen der Kreistagsabgeordneten der A- und der B-Partei. V, die Kreistagsvorsitzende, verkündet nach der Abstimmung, dass die Geschäftsordnung auf Grund dieses Beschlusses zustande gekommen sei.

K ist einer der beiden Abgeordneten der A-Partei. Mit seinem Parteikollegen und den beiden Abgeordneten der B-Partei hatte er schon vor der konstituierenden Sitzung des Kreistags vereinbart, eine Fraktion zu bilden. Daran sieht er sich durch die Ergänzung von § 8 nun gehindert. Auch die Bestimmungen in § 1a und § 5a der Geschäftsordnung hält er für rechtswidrig. Die Öffentlichkeit könne nicht einfach pauschal und im Vorhinein ausgeschlossen werden, erst recht nicht ohne sachlichen Grund. Und § 5a grenze K Parteikollegen von der politischen Willensbildung aus. Auch wenn seine Auffassungen der Mehrheit im Kreistag nicht gefielen, könne er vom Kreistag doch ein „loyales“ Verhalten erwarten. Der Beschluss lasse hingegen diskriminierende Maßnahmen erwarten und hindere auch die V in Zukunft daran, ihm unparteiisch zu begegnen. Darauf angesprochen entgegnet V, bei § 1a handele sich um eine bloße politische Absichtserklärung der im Kreistag vertretenen Fraktionen und Einzel-Abgeordneten. Und der Ausschluss der Öffentlichkeit betreffe K nicht in eigenen Rechtspositionen.

Weil K befürchtet, schon in der nächsten Sitzung Nachteile zu erleiden, kontaktiert er den mit ihm befreundeten Rechtsanwalt R. Dieser stellt am 18. März 2021 im Namen des K einen Antrag gegen den Kreistag von L beim Verwaltungsgerichtshof in Kassel mit dem Begehren, sicherzustellen, dass der Kreistag die angegriffenen Vorschriften der Geschäftsordnung schon bei der nächsten Sitzung des Kreistags nicht mehr anwenden darf.

Hat der Antrag des K Aussicht auf Erfolg?

Bearbeitungshinweis:

Begutachtungszeitpunkt ist der 18. März 2021.

Lösungsvorschlag

Der Antrag des K hat Aussicht auf Erfolg, soweit er zulässig und begründet ist.

Zulässigkeit

Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs

Eine aufdrängende Sonderzuweisung zu den Verwaltungsgerichten ist § 47 Abs. 1 VwGO. Hiernach entscheidet das Oberverwaltungsgericht im Rahmen seiner Gerichtsbarkeit auf Antrag über die Gültigkeit bestimmter Rechtsvorschriften. Die Wendung „im Rahmen seiner Gerichtsbarkeit“ setzt allerdings voraus, dass um die Gültigkeit einer Rechtsvorschrift gestritten wird, zu deren Vollzug im Verwaltungsrechtsweg anfechtbare oder mit Verpflichtungsklagen erzwingbare Verwaltungsakte ergehen können oder aus deren Anwendung sonstige öffentlich-rechtliche Streitigkeiten entstehen können, für die der Verwaltungsrechtsweg nach § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO eröffnet ist.BVerwG, NVwZ 2013, 1298 (1299). Das Oberverwaltungsgericht soll also nicht allgemeinverbindlich über die Gültigkeit solcher Rechtsvorschriften entscheiden, bei deren Vollzug die Gerichte anderer Rechtswege zuständig sind. Daher stellt sich die Frage, ob für Streitigkeiten, die aus dem Vollzug der hier angegriffenen Vorschriften der Geschäftsordnung des Landkreises L entstehen, der Verwaltungsrechtsweg nach § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO eröffnet ist. Diese Vorschrift setzt eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit nichtverfassungsrechtlicher Art und das Fehlen einer abdrängenden Sonderzuweisung voraus.

Rechtliche Streitigkeit

Am Merkmal der rechtlichen Streitigkeit lässt sich insofern zweifeln, als Träger subjektiver Rechte und Pflichte – hinsichtlich deren eine rechtliche Streitigkeit möglich ist – nach klassischem Verständnis ausschließlich natürliche und juristische Personen sind (sog. Impermeabilitätslehre).Dazu Ogorek, JuS 2009, 511 (512). Streitigkeiten aus dem Vollzug der Geschäftsordnung betreffen dagegen unter anderem den Kreistag als Organ und die Kreistagsabgeordneten als Organteile, die jeweils dem Landkreis L angehören, also derselben juristischen Person (§ 1 Abs. 1 S. 1 HKO). Träger von subjektiven Rechten und Pflichten ist damit nur der Landkreis L.

Das Handeln von Organen oder Organteilen einer Gebietskörperschaft ist – anders als das Handeln natürlicher oder juristischer Personen – grundsätzlich nicht darauf ausgerichtet, eigene Belange durchzusetzen, sondern darauf, das Gemeinwohl zu verwirklichen. Organe verfügen daher in erster Linie über Kompetenzen, die sich strukturell von subjektiven Rechten unterscheiden. Allerdings können solche Organpositionen mit subjektiven Außenrechten vergleichbar und damit als wehrfähige organschaftliche Rechtspositionen anzusehen sein. Das setzt voraus, dass das Gesetz dem Organ oder dem Organteil mit der Kompetenzzuweisung bewusst ermöglicht, eigene Zielvorstellungen einzubringen, die auch im Konflikt mit anderen Interessen stehen können.Ogorek, JuS 2009, 511 (514). Um eine Durchsetzung dieser organschaftlichen Rechtspositionen zu ermöglichen, ist der Begriff der rechtlichen Streitigkeit in § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO weit zu verstehen und auf Streitigkeiten von Organen und Organteilen innerhalb einer juristischen Person um solche organschaftlichen Rechte und Pflichten zu erstrecken.Lange/Schöndorf-Haubold, in: Hermes/Reimer (Hrsg.), Landesrecht Hessen, 10. Aufl. 2022, § 4 Rn. 107; Ruffert, in: Ehlers/Pünder (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 16. Aufl. 2022, § 21 Rn. 45.

Vertiefungshinweis zum Begriff des Kommunalverfassungsstreits

Der Streit zwischen Organen oder Organteilen von Kommunen nennt sich Kommunalverfassungsstreit.Lange/Schöndorf-Haubold, in: Hermes/Reimer (Hrsg.), Landesrecht Hessen, 10. Aufl. 2022, § 4 Rn. 106; Burgi, Kommunalrecht, 6. Aufl. 2019, § 14 Rn. 7; Ogorek, JuS 2009, 511. Der Begriff rührt daher, dass die Gemeinde- bzw. Kreisordnung die „Verfassung“ der Kommune regelt, also ihre Binnenorganisation. Der Kommunalverfassungsstreit ähnelt dem verfassungsgerichtlichen Organstreitverfahren (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG). Da die Binnenorganisation der Kommunen aber auf einfachgesetzlicher Ebene geregelt ist, handelt es sich beim Kommunalverfassungsstreit nicht um eine verfassungsrechtliche Streitigkeit (dazu sogleich im Haupttext). Der Kommunalverfassungsstreit ist auch streng zu unterscheiden von einer Kommunalverfassungsbeschwerde (bzw. kommunalen Grundrechtsklage), die eine Kommune im Außenverhältnis wegen eines Eingriffs in ihr Recht auf Selbstverwaltung aus Art. 28 Abs. 2 GG bzw. Art. 137 HV durch den Bund oder das Land beim BVerfG oder HessStGH erhebt (siehe dazu Übungsfall 1: Kreisschwimmbäder). Der Kommunalverfassungsstreit ist eine verwaltungsgerichtliche Streitigkeit, die sich nach den Vorschriften der VwGO richtet. Er bringt aber einige Besonderheiten in der Zulässigkeitsprüfung mit sich, weil die Rechtsschutzformen der VwGO eigentlich nicht auf Innenrechtsstreitigkeiten zugeschnitten sind.Dazu umfassend und sehr lehrreich Ogorek, JuS 2009, 511 ff.

Beim Kommunalverfassungsstreit werden begrifflich – ohne, dass es darauf für die Falllösung ankommt – inter- und intraorganschaftliche Streitigkeiten unterschieden.Burgi, Kommunalrecht, 6. Aufl. 2019, § 14 Rn. 2. Intraorganschaftliche Streitigkeiten spielen sich innerhalb eines Organs ab. Gemeint ist also der Streit zwischen zwei verschiedenen Teilen des Organes (etwa zwischen einem Gemeindevertreter und dem Vorsitzenden der Gemeindevertreter wie in Übungsfall 4: Ärger mit den Masken) oder zwischen einem Teil des Organs mit dem Organ (etwa zwischen einem Kreistagsabgeordneten und dem Kreistag als Plenum wie in diesem Fall). Interorganschaftliche Streitigkeiten sind demgegenüber Streitigkeiten Streitigkeiten zwischen zwei verschiedenen Organen (Beispiel Gemeindevertretung und Gemeindevorstand) oder zwischen Teilen verschiedener Organe untereinander oder mit einem anderen Organ (Beispiel Vorsitzender der Gemeindevertretung und Bürgermeister oder Vorsitzender der Gemeindevertretung und dem Bürgermeister wie in Übungsfall 5: Kommunaler Photovoltaikpark).

Der Vollzug der Vorschriften der Geschäftsordnung des Kreistags kann organschaftliche Rechtspositionen der Kreistagsabgeordneten beeinträchtigen. Hierbei handelt es sich daher um eine rechtliche Streitigkeit.

Öffentlich-rechtliche Streitigkeit

Der Streit über die Verletzung von Rechten der Kreistagsabgeordneten aufgrund eines Vollzugs der Vorschriften der Geschäftsordnung des Kreistags entscheidet sich nach Vorschriften des Kommunalrechts, vor allem nach § 28 Abs. 1 HKO. Diese Vorschriften verpflichten unter anderem den Kreistag als Organ einer Trägerin öffentlicher Gewalt (Landkreis L) als solches und gehören damit nach der Sonderrechtslehre dem öffentlichen Recht an. Eine Streitigkeit aus dem Vollzug der Vorschriften der Geschäftsordnung des Kreistags ist daher eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit.

Nichtverfassungsrechtliche Streitigkeit

Ungeachtet des Umstands, dass der Streit zwischen zwei Organen oder Organteilen innerhalb einer Kommune als „Kommunalverfassungsstreit“ bezeichnet wird, streiten auch nicht zwei unmittelbar am Verfassungsrechtskreis Beteiligte um materielles Staatsverfassungsrecht,Burgi, Kommunalrecht, 6. Aufl. 2019, § 14 Rn. 7; Ogorek, JuS 2009, 511 (512). sondern ein Organ und ein Organteil um Vorschriften der Landkreisordnung. Eine Streitigkeit aus dem Vollzug der Vorschriften der Geschäftsordnung des Kreistags ist daher auch eine nichtverfassungsrechtliche Streitigkeit.

Keine abdrängende Sonderzuweisung

Eine abdrängende Sonderzuweisung für solche Streitigkeiten ist nicht ersichtlich.

Zwischenergebnis

Somit ist für Streitigkeiten aus dem Vollzug der Vorschriften der Geschäftsordnung des Kreistags der Verwaltungsrechtsweg eröffnet. Im Ergebnis entscheidet das Oberverwaltungsgericht damit im Sinne von § 47 Abs. 1 VwGO „im Rahmen seiner Gerichtsbarkeit“ über die Gültigkeit der Vorschriften der Geschäftsordnung des Kreistags. Der Verwaltungsrechtsweg ist also eröffnet.

Statthafter Rechtsbehelf

Der statthafte Rechtsbehelf richtet sich nach dem Begehren des Rechtsschutzsuchenden (vgl. §§ 88, 122 Abs. 1 VwGO). K möchte, dass der Kreistag die angegriffenen Vorschriften der Geschäftsordnung schon bei der nächsten Sitzung des Kreistags nicht mehr anwenden darf. Da ein Hauptsacheverfahren in der Kürze dieser Zeit nicht durchgeführt werden kann, ist das Begehren des K auf einstweiligen Rechtsschutz gerichtet. Möglicherweise ist dafür ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 47 Abs. 6 VwGO statthaft, mit welcher das Gericht dem Antragsgegner aufgeben kann, den Vollzug einer Rechtsvorschrift bis zu einer Klärung im Hauptsacheverfahren einstweilen auszusetzen. Damit dieser Antrag statthaft ist, muss im Hauptsacheverfahren ein Normenkontrollantrag nach § 47 Abs. 1 VwGO statthaft sein.VGH Kassel, NVwZ 2000, 1438; NVwZ 2007, 107 (108); Schoch, in: Ehlers/Schoch (Hrsg.), Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, 2021, § 35 Rn. 81.

Ein Normenkontrollantrag ist nach § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO statthaft, wenn über die Gültigkeit von anderen im Rang unter dem Landesgesetz stehenden Rechtsvorschriften als solchen aufgrund des Baugesetzbuchs (§ 47 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) entschieden werden soll, sofern das Landesrecht dies bestimmt. Eine solche landesrechtliche Bestimmung findet sich in § 15 HessAGVwGO. Die Geschäftsordnung des Kreistags ergeht auch aufgrund Landesrechts (§ 32 S. 2 HKO i.V.m. § 60 Abs. 1 S. 1 HGO) und steht im Rang unter dem Landesgesetz. Zweifelhaft ist aber, ob es sich bei der Geschäftsordnung um eine „Rechtsvorschrift“ im Sinne des § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO handelt.

Was unter einer Rechtsvorschrift zu verstehen ist, lässt sich dem Gesetz nicht unmittelbar entnehmen. Jedenfalls muss der betreffende Akt einen Verbindlichkeitsanspruch besitzen und – gerade in Abgrenzung zum Verwaltungsakt i.S.v. § 35 S. 1 HVwVfG – abstrakt-generell gefasst sein. Beide Voraussetzungen erfüllt die Geschäftsordnung des Kreistags. Zweifelhaft ist allerdings, ob eine Rechtsvorschrift nur dann vorliegt, wenn die betreffende Bestimmung darauf gerichtet ist, unmittelbare Rechtswirkung nach außen zu entfalten. Das würde erfordern, dass sie nicht nur darauf abzielt, im Innenbereich des Staates Wirkungen auszulösen, sondern unmittelbar die Rechtsposition natürlicher oder juristischer Personen gestalten oder feststellen soll. Die Geschäftsordnung eines kommunalen Vertretungsorgans regelt die innere Organisation und den Ablauf seiner Meinungs- und Willensbildung (vgl. § 32 S. 2 HKO i.V.m. § 60 Abs. 1 S. 1 HGO). Hier geht es nicht um das Verhältnis zwischen Staat und Bürger, sondern um organinterne Rechtsbeziehungen. Der Geschäftsordnung fehlt es daher an der Außenwirkungsintention, jedenfalls wenn sie – wie hier – nicht in der Handlungsform einer Satzung erlassen ist.

Durch den Begriff „anderen“ in § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO wird deutlich, dass jedenfalls die zuvor in § 47 Abs. 1 Nr. 1 VwGO genannten Satzungen und Rechtsverordnungen zu den Rechtsvorschriften zu zählen sind. Satzungen und Rechtsverordnungen sind auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet. Das bedeutet allerdings nicht zwingend, dass der Begriff der Rechtsvorschriften nicht weiter zu verstehen sein und auch Regelungen des staatlichen Innenverhältnisses erfassen könnte. Zur Klärung dieser Frage sind Sinn und Zweck des Normenkontrollverfahrens heranzuziehen. Das Normenkontrollverfahren zielt darauf ab, eine untergesetzliche Rechtsvorschrift allgemeinverbindlich für unwirksam zu erklären (§ 47 Abs. 5 S. 2 VwGO). Das Verfahren dient erstens der Rechtsklarheit, indem eine für ungültig gehaltene Vorschrift nicht nur von den Gerichten unangewendet bleibt, sondern ihre Unwirksamkeit verbindlich und öffentlich festgestellt wird. Zweitens stärkt das Verfahren den von Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG garantierten individuellen Rechtsschutz dadurch, dass nicht jeder einzelne Betroffene dazu gezwungen ist, die Wirksamkeit der Vorschrift inzident in einem Antrags- oder Klageverfahren überprüfen zu lassen. Und drittens entlastet das Normenkontrollverfahren auf diese Weise die Verwaltungsgerichte. Diese Zwecke lassen sich – abgesehen von der Gewährleistung individuellen Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG – mit dem Normenkontrollverfahren auch dann verfolgen, wenn es nicht um subjektiv-öffentliche Rechte des Bürgers gegen den Staat geht, sondern um wehrfähige organschaftliche Rechtspositionen im Innenverhältnis kommunaler Gebietskörperschaften. Sinn und Zweck des Normenkontrollverfahrens sprechen daher für eine Auslegung des § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO dahingehend, dass der Begriff der Rechtsvorschriften auch Regelungen des staatlichen Innenverhältnisses erfasst.Zu alledem BVerwG, NVwZ 1988, 1119 (1120); NVwZ 2018, 1656 (Rn. 19); VGH Kassel, BeckRS 2007, 25879.

Die Bestimmungen der Geschäftsordnung des Kreistags sind damit Rechtsvorschriften im Sinne des § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO. Im Hauptsacheverfahren ist gegen diese Bestimmungen ein Normenkontrollantrag statthaft. Damit ist im einstweiligen Rechtsschutz ein Antrag des K auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 47 Abs. 6 VwGO statthaft.

Vertiefungshinweis zur prinzipalen und inzidenten NormenkontrolleAusführlich zur prinzipalen und inzidenten Normenkontrolle Ehlers, in: Ehlers/Schoch (Hrsg.), Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, 2021, § 32 Rn. 1 ff.

Greift der Rechtsschutzsuchende eine Rechtsnorm unmittelbar an, spricht man von einer prinzipalen Normenkontrolle. Dazu zählt das Verfahren nach § 47 Abs. 1 VwGO. Die Wirksamkeit untergesetzlicher Rechtsnormen (für Rechtsnormen im Rang des einfachen Gesetzes gilt das Verwerfungsmonopol des BVerfG nach Art. 100 Abs. 1 GG!) kann das Verwaltungsgericht auch in einem sonstigen Antrags- oder Klageverfahren inzident überprüfen, wenn es darauf ankommt. Hält das Gericht die Rechtsnorm für unwirksam, lässt es sie unangewendet. Man spricht hierbei von der inzidenten Normenkontrolle. Hier könnte beispielsweise eine aus den Abgeordneten der A- und der B-Partei gebildete „Fraktion“ im Kommunalverfassungsstreit eine Feststellungsklage nach § 43 Abs. 1 VwGO gegen den Kreistag erheben, gerichtet auf die gerichtliche Feststellung, dass die Fraktion wirksam gebildet ist. Inzident hätte das Verwaltungsgericht dann die Wirksamkeit der Bestimmung der Geschäftsordnung zu überprüfen und könnte der Klage stattgeben, wenn es dazu kommt, dass die Bestimmung unwirksam ist und die übrigen Voraussetzungen für die Bildung einer Fraktion vorliegen.

Antragsbefugnis

Der Antrag einer natürlichen oder juristische Person ist nach § 47 Abs. 2 S. 1 VwGO nur zulässig, wenn die Person geltend macht, durch die Rechtsvorschrift oder deren Anwendung in ihren Rechten verletzt zu sein oder in absehbarer Zeit verletzt zu werden. Diese Vorschrift ist, um Popularrechtsbehelfe zu vermeiden, entsprechend auf den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 47 Abs. 6 VwGOVgl. VGH Kassel, BeckRS 2020, 5242 (Rn. 12); Schoch, in: Ehlers/Schoch (Hrsg.), Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, 2021, § 35 Rn. 83. und darüber hinaus auf Anträge anzuwenden, die ein Organ oder Organteil stellt.BVerwG, NVwZ 2018, 1656 (Rn. 20). K muss daher geltend machen, durch die angegriffenen Bestimmungen der Geschäftsordnung des Kreistags in wehrfähigen organschaftlichen Rechtspositionen verletzt zu sein oder in absehbarer Zeit verletzt zu werden.

Vertiefungshinweis zu § 47 Abs. 2 S. 1 VwGO

§ 47 Abs. 2 S. 1 VwGO bestimmt nicht etwa diejenigen Rechtssubjekte, die überhaupt einen Antrag stellen können. Die Vorschrift regelt nicht die Beteiligungsfähigkeit oder eine „Antragsberechtigung“.VGH Kassel, ZfBR 2000, 194 (195), auch mit Nachweisen zur Gegenauffassung. Anders zum Beispiel auch Klenner, JURA 2021, 1502 (1503). Die Aufzählung der Rechtssubjekte hat vielmehr den Zweck, zu unterscheiden, welchen Antragsstellern eine Antragsbefugnis abverlangt wird. Das ist bei natürlichen und juristischen Personen der Fall, da sich auf sie der Relativsatz („die geltend macht, …“) bezieht, nicht aber bei Behörden, die erst nach dem Relativsatz genannt werden.

An die Geltendmachung einer Rechtsverletzung sind keine höheren Anforderungen zu stellen als an die Klagebefugnis nach § 42 Abs. 2 VwGO.BVerwG, NJW 1999, 592; Schoch, in: Ehlers/Schoch (Hrsg.), Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, 2021, § 35 Rn. 83. Es muss also möglich, das heißt nicht von vornherein offenkundig ausgeschlossen sein, dass K durch die angegriffenen Vorschriften der Geschäftsordnung in einer wehrfähigen organschaftlichen Rechtsposition verletzt wird.

§ 1a: Ausschluss der Zusammenarbeit mit Abgeordneten der A-Partei

Zu prüfen ist zunächst, ob die Bestimmung in § 1a über den Ausschluss der Zusammenarbeit mit Abgeordneten der A-Partei den K möglicherweise in einer wehrfähigen organschaftlichen Rechtsposition verletzt. Wie oben dargestellt ist von einer wehrfähigen organschaftlichen Rechtsposition dann auszugehen, wenn das Recht dem Organ oder dem Organteil mit einer Kompetenzzuweisung bewusst ermöglicht, eigene Zielvorstellungen einzubringen, die auch im Konflikt mit anderen Interessen stehen können. § 28 Abs. 1 HKO ermöglicht Kreistagsabgeordneten, ihre Tätigkeit nach ihrer freien, nur durch Rücksicht auf das Gemeinwohl bestimmten Überzeugung auszuüben und damit bei der Verwirklichung des Gemeinwohls eigene Zielvorstellungen einzubringen. Diese Vorschrift begründet damit die wehrfähige organschaftliche Rechtsposition für Kreistagsabgeordnete, an der Willensbildung im Landkreis mitzuwirken und öffentliche Überzeugungsbildung innerhalb und außerhalb der Gremien des Kreistags zu betreiben, und ist Grundlage zahlreicher Mitwirkungsrechte der Kreistagsabgeordneten. Zu diesen Mitwirkungsrechten zählen unter anderem die Rechte, zu reden, zu fragen, Informationen zu erhalten, Anträge zu stellen und an Abstimmungen und Wahlen teilzunehmen.

§ 1a der Geschäftsordnung entzieht diese Rechte nicht und schränkt sie auch nicht unmittelbar ein. Allerdings beschränkt sich § 28 Abs. 1 HKO nicht auf diese formalen Rechte. Organe bestehen nicht um ihrer selbst willen und nehmen keine eigenen subjektiven Rechte wahr. Sie handeln stattdessen auf Grund von Kompetenzen, die ihnen von der Kommune übertragen worden sind, um an der Erledigung derjenigen Aufgaben mitzuwirken, die der Kommune obliegen. Organe und Organteile sind also zu einer wirksamen und effizienten Erfüllung ihrer Funktion und Kompetenzen verpflichtet. Das setzt unter anderem voraus, dass das Organ selbst wie auch seine Untergliederungen und Mitglieder in dem durch Rechtsvorschriften gebildeten Rahmen alles Mögliche und Zumutbare unternehmen, um die Willensbildung eines anderen Organs oder Organteils zur Entfaltung zu bringen. Namentlich aus dem Grundsatz von Treu und Glauben aus § 242 BGB lässt sich mit dieser Begründung eine Pflicht von Organen und Organteilen ableiten, sich organtreu zu verhalten, das heißt gegenseitig Rücksicht zu nehmen und die jeweiligen Kompetenzen so auszuüben, dass der rechtliche Status der anderen Organe bzw. Organteile geachtet wird. Damit verbunden ist auch ein Verbot widersprüchlichen Verhaltens und der Blockade bzw. Behinderung anderer Organe und Organteile. Die Pflicht zur Organtreue geht mit dem Recht einher, auch von anderen Organen und Organteilen die entsprechende Organtreue einfordern zu können.Zu alledem VG Düsseldorf, BeckRS 2022, 12390 (Rn. 17, 31 ff.).

§ 1a der Geschäftsordnung bestimmt, dass die im Kreistag vertretenen Fraktionen und Einzel-Abgeordneten erklären, dass sie eine Zusammenarbeit mit Abgeordneten der A-Partei in jeder Art und Weise ausschließen. Dass die Anwendung dieser Bestimmung rechtswidrig ist und damit den Anspruch des K auf organtreues Verhalten aus § 28 Abs. 1 HKO i.V.m. § 242 BGB analog verletzt, ist nicht von vornherein offenkundig ausgeschlossen und damit möglich.

§ 5a: Ausschluss der Öffentlichkeit bei Anträgen von Abgeordneten der A-Partei

Zu prüfen ist weiter, ob die Bestimmung in § 5a über den Ausschluss der Öffentlichkeit bei Anträgen der Kreistagsabgeordneten der A-Partei den K möglicherweise in einer wehrfähigen organschaftlichen Rechtsposition verletzt. Denkbar ist, dass § 28 Abs. 1 HKO auch ein Recht des einzelnen Kreistagsabgeordneten darauf begründet, dass der Kreistag nicht rechtswidrig die Öffentlichkeit ausschließt. Dem Wortlaut von § 28 Abs. 1 HKO ist dazu nichts zu entnehmen. Systematisch sind daher zunächst die Vorschriften über die Öffentlichkeit selbst heranzuziehen. Dass der Kreistag seine Beschlüsse in öffentlichen Sitzungen fasst, ist in § 32 S. 2 HKO i.V.m. § 52 Abs. 1 S. 1 HGO geregelt. Die Möglichkeit, die Öffentlichkeit auszuschließen, ergibt sich aus § 32 S. 2 HKO i.V.m. § 52 Abs. 1 S. 2 und S. 3 HGO. Der Wortlaut dieser Vorschriften gibt keinen Hinweis auf eine etwaige drittschützende Wirkung zugunsten des einzelnen Gemeindevertreters. Seinem Zweck nach konkretisiert § 32 S. 2 HKO i.V.m. § 52 Abs. 1 S. 1 HGO Anforderungen des verfassungsrechtlichen Demokratieprinzips, das auch für das kommunale Organisationsrecht gilt (Art. 28 Abs. 1 GG). Die Öffentlichkeit des Staatshandelns soll Interesse, Verständnis, Vertrauen und Kontrollmöglichkeiten der Bürger fördern und gewährleisten. Auf diese Weise bleibt die Volksvertretung gegenüber dem Wahlvolk politisch verantwortlich und behält das Wahlvolk seinerseits effektiven Einfluss auf die Ausübung der Staatsgewalt (Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG).BVerwG, NVwZ 2022, 1067 (Rn. 17). Auch dieser Zweck der Vorschriften über die Öffentlichkeit lässt nicht unmittelbar darauf schließen, dass § 28 Abs. 1 HKO einzelne Kreistagsabgeordnete dazu berechtigen soll, die Einhaltung der Vorschriften über die Öffentlichkeit zu verlangen.

Systematisch ist aber weiter zu berücksichtigen, dass Kreistagsabgeordnete nach § 28 Abs. 2 S. 1 HKO ehrenamtlich Tätige im Sinne des § 18 Abs. 1 S. 1 HKO mit der Maßgabe sind, dass die §§ 2427 HGO entsprechend gelten. Daher trifft sie auch die Verschwiegenheitspflicht aus § 24 HGO: Nach § 24 Abs. 1 S. 1 HGO hat der ehrenamtlich Tätige, auch nach Beendigung seiner Tätigkeit, über die ihm bei der Tätigkeit bekannt gewordenen Angelegenheiten Verschwiegenheit zu bewahren. Er darf sich darüber also nicht öffentlich dazu äußern. Anderes gilt nach § 24 Abs. 1 S. 2 HGO vor allem für Tatsachen, die offenkundig sind. Offenkundig sind jedenfalls Tatsachen, die in öffentlicher Sitzung zutage getreten sind. Das bedeutet, dass der Kreistagsabgeordnete sich über Gegenstände einer öffentlichen Sitzung vollumfänglich öffentlich äußern darf; diese Gegenstände können Teil der öffentlichen Überzeugungsarbeit auch außerhalb der Sitzungen sein, die das freie Mandat aus § 28 Abs. 1 HKO gewährleistet. Umgekehrt heißt das, dass der einzelne Kreistagsabgeordnete in seiner öffentlichen Überzeugungsarbeit eingeschränkt ist, wenn eine Sitzung nichtöffentlich stattfindet und der Kreistagsabgeordnete daher angesichts der Bestimmung in § 24 Abs. 1 S. 1 HGO über die Gegenstände Verschwiegenheit zu bewahren hat. Diese systematischen Erwägungen machen deutlich, dass der Ausschluss der Öffentlichkeit eine wehrfähige organschaftliche Rechtsposition des einzelnen Kreistagsabgeordneten aus § 28 Abs. 1 HKO beeinträchtigt. Umgekehrt folgt daraus, dass einzelne Kreistagsabgeordnete auf Grundlage von § 28 Abs. 1 HKO verlangen können, dass der Kreistag die Öffentlichkeit nicht rechtswidrig ausschließt.Zum entsprechenden Recht der Gemeindevertreter VGH Kassel, NVwZ-RR 2009, 531 ff.; NVwZ-RR 2019, 875 (Rn. 36 ff.).

Dass § 5a der Geschäftsordnung des Kreistags, das heißt der Ausschluss der Öffentlichkeit von den Sitzungen unmittelbar durch diese Vorschrift, rechtswidrig ist und den K damit in seiner aus § 28 Abs. 1 HKO folgenden wehrfähigen organschaftlichen Rechtsposition verletzt, ist nicht von vornherein offenkundig ausgeschlossen und damit möglich.

Ergänzung von § 8: Anforderungen an die Mindeststärke und Zusammensetzung einer Fraktion

Zu prüfen ist schließlich, ob die Ergänzung von § 8 der Geschäftsordnung, wonach Fraktionen eine Mindeststärke von fünf Abgeordneten besitzen und Mitglieder einer Fraktion derselben Partei angehören müssen, den A möglicherweise in einer wehrfähigen organschaftlichen Rechtsposition verletzt. § 26a Abs. 1 S. 1 HKO bestimmt ausdrücklich, dass sich Kreistagsabgeordnete zu einer Fraktion zusammenschließen können. Der Zusammenschluss in einer Fraktion ermöglicht Kreistagsabgeordneten, ihre Stimmen zu bündeln, sich auf eine gemeinsame politische Linie festzulegen und auf diese Weise auch das kommunalpolitische Mandat aus § 28 Abs. 1 HKO effektiver wahrzunehmen.Vgl. Ogorek, in: BeckOK Kommunalrecht Hessen, 01.11.2022, § 36a HGO Rn. 2. § 26a Abs. 1 S. 1 HKO ermöglicht damit wie § 28 Abs. 1 HKO den Kreistagsabgeordneten bewusst, eigene Zielvorstellungen (noch wirksamer) einzubringen, und begründet eine wehrfähige organschaftliche Rechtsposition der KreistagsabgeordnetenOgorek, in: BeckOK Kommunalrecht Hessen, 01.11.2022, § 28 HKO Rn. 37. Siehe auch VGH Kassel, BeckRS 2007, 25879 (bezüglich der entsprechenden organschaftlichen Rechtsposition von Gemeindevertretern). und damit auch des A.

§ 26a Abs. 1 S. 4 HKO bestimmt, dass eine Fraktion aus mindestens drei Kreistagsabgeordneten bestehen muss. Die Ergänzung von § 8 der Geschäftsordnung des Kreistags, wonach es fünf Kreistagsabgeordneter bedarf und diese derselben Partei angehören müssen, erschwert den Zusammenschluss zu einer Fraktion. Dass diese Ergänzung von § 8 der Geschäftsordnung rechtswidrig ist und den A damit in seiner aus § 26a Abs. 1 S. 1 HKO folgenden wehrfähigen organschaftlichen Rechtsposition verletzt, ist nicht von vornherein offenkundig ausgeschlossen und damit möglich.

Zwischenergebnis

K wird durch die angegriffenen Bestimmungen der Geschäftsordnung des Kreistags möglicherweise in wehrfähigen organschaftlichen Rechtspositionen verletzt. Er ist somit antragsbefugt.

Richtiger Antragsgegner

Nach § 47 Abs. 2 S. 2 VwGO wäre der Antrag gegen den Rechtsträger zu richten, dessen Organ die Rechtsvorschrift erlassen hat, hier also gegen den Landkreis L als Rechtsträger des Kreistags. Allerdings wird hier nicht über Rechte und Pflichten gestritten wird, die L als Rechtsträger im Außenverhältnis zustehen, sondern um wechselseitige Rechte und Pflichten von Organen bzw. Organteilen des L. Im Kommunalverfassungsstreit bestimmt sich der richtige Klagegegner daher nach dem Funktionsträgerprinzip. Richtiger Antragsgegner ist dasjenige Organ bzw. derjenige Organteil, dem gegenüber die behauptete Innenrechtsposition bestehen soll,Zu alledem Burgi, Kommunalrecht, 6. Aufl. 2019, § 14 Rn. 12; Ogorek, JuS 2009, 511 (515 f.). im Anwendungsbereich von § 47 Abs. 2 S. 2 VwGO also das Organ, das die angegriffene Bestimmung der Geschäftsordnung erlassen hat.VGH Kassel, BeckRS 2007, 25879; BeckRS 2008, 38547. K hat die Klage damit zurecht gegen den Kreistag des Landkreises L gerichtet.

Beteiligungs- und Prozessfähigkeit

Zu prüfen sind weiter die Beteiligungs- und die Prozessfähigkeit von K und des Kreistags.

Beteiligungsfähigkeit

Der Kreistag ist selbst keine juristische Person, sondern Organ einer juristischen Person, nämlich des Landkreises L, der selbst aber nicht Beteiligter des Verfahrens ist. Daher ist der Kreistag nicht nach § 61 Nr. 1 Alt. 2 VwGO beteiligungsfähig. Das hessische Landesrecht bestimmt auch nicht im Sinne von § 61 Nr. 3 VwGO, dass Behörden beteiligungsfähig wären; im Übrigen betrifft diese Vorschrift Außenrechtsstreitigkeiten, an denen der Rechtsträger selbst beteiligt ist.Burgi, Kommunalrecht, 6. Aufl. 2019, § 14 Rn. 12; Ogorek, JuS 2009, 511 (516). Allerdings ist der Kreistag eine Vereinigung im Sinne von § 61 Nr. 2 VwGO. Die Beteiligungsfähigkeit von Vereinigungen reicht so weit, wie „ihnen ein Recht zustehen kann“. Hier streitet der Kreistag mit K gerade um wechselseitige wehrfähige organschaftliche Rechte und Pflichten. Der Kreistag ist daher in diesem Umfang nach § 61 Nr. 2 VwGO beteiligungsfähig.

K ist zwar eine natürliche Person. Er streitet hier allerdings nicht in seiner Rolle als natürliche Personen um ihm zustehende Individualrechte mit dem Kreistag, sondern in seiner Rolle als Organteil. Daher ist er nicht nach § 61 Nr. 1 Alt. 1 VwGO beteiligungsfähig. § 61 Nr. 1 Alt. 2 VwGO und § 61 Nr. 3 VwGO scheiden zur Begründung der Beteiligungsfähigkeit ebenfalls aus. Eine Beteiligungsfähigkeit von K kommt daher wiederum nur nach § 61 Nr. 2 VwGO in Betracht. Zwar handelt es sich bei K nicht um eine Vereinigung. Der gerade für den Kommunalverfassungsstreit passende Gedanke des § 61 Nr. 2 VwGO, eine Beteiligungsfähigkeit für andere Beteiligte als natürliche und juristische Personen (§ 61 Nr. 1 VwGO) insoweit zuzugestehen, als das materielle Recht diesen Beteiligten wehrfähige Rechte einräumt, passt aber für Einzelorgane oder Einzelorganteile in gleicher Weise für Kollegialorgane oder Kollegialorganteile. K ist daher analog § 61 Nr. 2 VwGO hinsichtlich seiner organschaftlichen Rechte als beteiligungsfähig anzusehen.

Prozessfähigkeit

Die Bestimmung der Prozessfähigkeit muss an diesen Überlegungen anknüpfen. Die Prozessfähigkeit von Vereinigungen richtet sich nach § 62 Abs. 3 VwGO. Der Kreistag lässt sich daher im Prozess durch seine Vorsitzende V vertreten (vgl. § 31 HKO). Da § 62 Abs. 1 Nr. 1 VwGO die Prozessfähigkeit natürlicher Personen regelt und K nicht in seiner Rolle als natürliche Person beteiligt ist, kann es bei K nicht auf die Geschäftsfähigkeit ankommen. Die Prozessfähigkeit des K bestimmt sich vielmehr analog § 62 Abs. 3 VwGO. Er kann sich als Organteil im Verfahren selbst vertreten.

Wirksamkeit der Antragsstellung

Nach § 67 Abs. 4 S. 1 VwGO müssen sich die Beteiligten vor dem Oberverwaltungsgericht, außer im Prozesskostenhilfeverfahren, durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen, ihnen selbst fehlt die Postulationsfähigkeit. Das gilt nach § 67 Abs. 4 S. 2 VwGO auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor einem Oberverwaltungsgericht eingeleitet wird. Der Antrag des K auf Erlass der einstweiligen Anordnung nach § 47 Abs. 6 VwGO ist damit nur dann wirksam gestellt, wenn K sich von einem nach § 67 Abs 2 S. 1 VwGO zugelassenen Bevollmächtigten hat vertreten lassen (§ 67 Abs. 4 S. 3 VwGO). Der mit K befreundete R ist Rechtsanwalt im Sinne von § 67 Abs. 2 S. 1 VwGO. Er konnte den Antrag damit wirksam für K stellen.

Zuständigkeit des Gerichts

Zuständig für eine einstweilige Anordnung ist nach § 47 Abs. 6 VwGO „das Gericht“. Gemeint ist das Gericht der Hauptsache, also der nach § 47 Abs. 1 Nr. 1 VwGO i.V.m. § 1 Abs. 1 HessAGVwGO sachlich und örtlich zuständige Hessische Verwaltungsgerichtshof in Kassel.

Rechtsschutzbedürfnis

Dem K fehlt es am Rechtsschutzbedürfnis, wenn eine stattgebende Entscheidung des Gerichts seine rechtliche Stellung nicht verbessern kann oder er auf andere Weise einfacher und schneller zu seinem Ziel kommt. Wie auch bei einem Antrag nach § 123 Abs. 1 S. 1 VwGO muss der Antragssteller noch nicht das Hauptsacheverfahren eingeleitet haben. Erforderlich ist aber, dass ein solches Hauptsacheverfahren gegenwärtig in zulässiger Weise eingeleitet werden könnte.VGH Kassel, BeckRS 2020, 5242 (Rn. 13); Marquardsen/Gerlach, JA 2020, 721 (726).

Nach § 47 Abs. 2 S. 1 VwGO muss der Normenkontrollantrag innerhalb eines Jahres nach Bekanntmachung der Rechtsvorschrift gestellt werden. Da Bestimmungen der Geschäftsordnung eines Vertretungsorgans nur im Innenverhältnis wirken, müssen sie anders als außenwirksame Rechtsvorschriften nicht der Allgemeinheit verkündet werden.BVerwG, NVwZ 1988, 1119 (1120). Die Bekanntmachung im Sinne von § 47 Abs. 2 S. 1 VwGO kann bei solchen Bestimmungen des Innenverhältnisses daher nur voraussetzen, dass das Ergebnis der Abstimmung über die Bestimmungen der Geschäftsordnung in der Sitzung des Vertretungsorgans verkündet wird, sodass die Mitglieder des Vertretungsorgans wissen, dass die Bestimmungen nunmehr in Kraft sind. Die Vorsitzende des Kreistags V hat das Abstimmungsergebnis und das Zustandekommen der Geschäftsordnung noch in der Sitzung verkündet und damit die Rechtsvorschriften im Sinne des § 47 Abs. 2 S. 1 VwGO bekannt gemacht. Dadurch wurde die einjährige Frist in Gang gesetzt, die im Begutachtungszeitpunkt noch nicht abgelaufen ist. Damit kann K gegenwärtig einen Normenkontrollantrag in zulässiger Weise erheben. Ihm fehlt somit nicht das Rechtsschutzbedürfnis für den Antrag nach § 47 Abs. 6 VwGO.

Zwischenergebnis

Der Antrag des K ist zulässig.

Begründetheit

Der Antrag ist begründet, wenn der Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist (§ 47 Abs. 6 VwGO). Prüfungsmaßstab sind zunächst die Erfolgsaussichten des in der Hauptsache statthaften Normenkontrollantrags. Ergibt die Prüfung der Erfolgsaussichten der Hauptsache, dass der Normenkontrollantrag voraussichtlich unzulässig oder unbegründet sein wird, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung jedenfalls unbegründet. Ist der Antrag in der Hauptsache dagegen voraussichtlich zulässig und begründet, ist der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung begründet, wenn der (weitere) Vollzug der Rechtsvorschrift vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange des Antragsstellers, betroffener Dritter oder der Allgemeinheit so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit einer für den Antragssteller günstigen Hauptsacheentscheidung unaufschiebbar ist. Lassen sich die Erfolgsaussichten in der Hauptsache noch nicht abschätzen, ist über den Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden: Gegenüberzustellen sind die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, der Normenkontrollantrag in der Hauptsache aber Erfolg hätte, und die Nachteile, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Normenkontrollantrag in der Hauptsache aber erfolglos bliebe.

Vertiefungs- und Klausurhinweis zum Obersatz der Begründetheit

Diesen Maßstab legt die Rechtsprechung seit einer Entscheidung des BVerwG aus dem Jahr 2015 an die Begründetheit des Eilantrags an.Grundlegend (mit Blick auf Bebauungspläne nach § 47 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) BVerwG, ZfBR 2015, 381 f.; daran anschließend auch für Fälle des § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO VGH Kassel, NVwZ 2020, 732 (Rn. 16). Zuvor war grundsätzlich nur eine Folgenabwägung vorzunehmen, ohne dass zuvor die Erfolgsaussichten in der Hauptsache geprüft worden wären.Mit zahlreichen Nachweisen und Kritik Schoch, in: Ehlers/Schoch (Hrsg.), Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, 2021, § 35 Rn. 94 f. Da sich in der Klausur die Erfolgsaussichten in der Hauptsache immer beurteilen lassen, kommt es dort nicht zu einer solchen Folgenabwägung. Dieser Teil des Obersatzes muss daher nicht zwingend angehängt werden.

Erkennbar ist, dass der Obersatz der Begründetheit eines Antrags nach § 47 Abs. 6 VwGO den Obersätzen der Begründetheit von Anträgen nach § 80 Abs. 5 S. 1 (Alt. 1) VwGO und nach § 123 Abs. 1 VwGO ähnlich ist. Bei all diesen Anträgen stehen die Erfolgsaussichten im Hauptsacheverfahren im Vordergrund (bei § 123 Abs. 1 VwGO geprüft unter dem Gliederungspunkt „Anordnungsanspruch“Schoch, in: Ehlers/Schoch (Hrsg.), Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, 2021, § 35 Rn. 100.). Mit dem Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO hat der Antrag nach § 47 Abs. 6 VwGO zudem gemeinsam, dass neben den Erfolgsaussichten in der Hauptsache gewichtige Gründe vorliegen müssen, die den Erlass der einstweiligen Anordnung erfordern (bei § 123 Abs. 1 VwGO geprüft unter dem Gliederungspunkt „Anordnungsgrund“).Schoch, in: Ehlers/Schoch (Hrsg.), Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, 2021, § 35 Rn. 100. Die Folgenabwägung für den Fall, dass sich die Erfolgsaussichten in der Hauptsache noch nicht abschätzen lassen, haben die Anträge nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO und § 47 Abs. 6 VwGO gemeinsam.

Erfolgsaussichten im Hauptsacheverfahren

K wird in einem noch einzuleitenden Hauptsacheverfahren Erfolg haben, soweit der Normenkontrollantrag zulässig und begründet ist.

Zulässigkeit eines Normenkontrollantrags

An der Zulässigkeit eines Normenkontrollantrags bestehen keine Zweifel (siehe oben).

Begründetheit eines Normenkontrollantrags

Ein Normenkontrollantrag wäre begründet, soweit die angegriffenen Vorschriften der Geschäftsordnung des Kreistags ungültig sind (§ 47 Abs. 5 S. 2 VwGO). Anders als etwa nach § 113 Abs. 1 S. 1 und § 113 Abs. 5 S. 1 VwGO ist eine tatsächliche Rechtsverletzung des Antragstellers nicht erforderlich.

Vertiefungshinweis zum Charakter des Normenkontrollverfahrens als objektives Beanstandungsverfahren

Das Normenkontrollverfahren ist ein objektives Beanstandungsverfahren. Das bedeutet, dass der Antrag auch dann begründet ist, wenn sich der Rechtsfehler, der die Rechtsvorschrift ungültig macht, nicht auf die Rechte des Antragsstellers auswirkt. Trotzdem (oder gerade deswegen) verlangt § 47 Abs. 2 S. 1 VwGO im Rahmen der Zulässigkeit natürlichen und juristischen Personen – nicht: Behörden – eine Antragsbefugnis ab, das heißt die Geltendmachung einer Rechtsverletzung. Dort reicht die Möglichkeit der Rechtsverletzung aus. Das führt dazu, dass der Antrag im Ergebnis Erfolg haben kann, wenn eine drittschützende Rechtsvorschrift zwar „möglicherweise“ verletzt ist, sich bei der Prüfung der Begründetheit dann aber als nicht verletzt herausstellt, solange nur irgendeine andere – nicht notwendig drittschützende – Vorschrift verletzt ist. Anders gewendet: Die natürliche oder juristische Person muss die Hürde der Möglichkeit einer Rechtsverletzung für die Zulässigkeit des Antrags nehmen. Welcher Rechtsfehler den Antrag dann aber begründet macht, kann dem Antragssteller egal sein.Hierzu Ehlers, in: Ehlers/Schoch (Hrsg.), Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, 2021, § 32 Rn. 1, 38.

§ 1a: Ausschluss der Zusammenarbeit mit Abgeordneten der A-Partei

Zu prüfen ist damit zunächst, ob die Bestimmung in § 1a der Geschäftsordnung des Kreistags über den Ausschluss der Zusammenarbeit mit Abgeordneten der A-Partei ungültig ist, ob die Bestimmung also wegen Verstoßes gegen höherrangiges Recht unwirksam ist.

Ermächtigungsgrundlage

Nach dem aus dem Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 2, Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG) und dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3, Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG) abzuleitenden Vorbehalt des Gesetzes sind wesentliche Entscheidungen vom Gesetzgeber zu treffen; zudem bedürfen Eingriffe in Rechte einer zumindest materiell-gesetzlichen Rechtsgrundlage. Dies gilt auch dann, wenn die Rechtsposition – wie hier – nicht aus Grundrechten abzuleiten ist und selbst dann, wenn es sich bei der Rechtsposition um ein organschaftliches Recht handelt.Vgl. VG Kassel, LKRZ 2012, 105 (106); VG Gießen, NVwZ-RR 2002, 598 (599).

Die Befugnis das Landkreises L, seine inneren Angelegenheiten zu regeln, folgt bereits aus der verfassungsrechtlichen Gewährleistung in Art. 137 Abs. 3 HV, seine Angelegenheiten selbst zu verwalten. Einfachgesetzlich ermächtigt § 32 S. 2 HKO i.V.m. § 60 Abs. 1 S. 1 HGO den Kreistag dazu, seine inneren Angelegenheiten wie die Aufrechterhaltung der Ordnung, die Form der Ladung sowie die Sitz- und Abstimmungsordnung durch eine Geschäftsordnung zu regeln. Diese Ermächtigung soll den Kreistag dazu befähigen, seine Aufgaben zu erfüllen. Die Geschäftsordnung muss regeln, wie die einzelnen Kreistagsabgeordneten die ihnen aus § 28 Abs. 1 HKO zustehenden Statusrechte ausüben können. Diese Statusrechte bestehen nur als Mitgliedschaftsrechte, sind also einander zugeordnet und müssen aufeinander abgestimmt werden. Daher dürfen und müssen Regelungen der Geschäftsordnung immer auch Rechtspositionen des einzelnen Kreistagsabgeordneten beschränken oder Pflichten begründen.So zur Geschäftsordnung des Bundestags BVerfGE 84, 304 (321). Diese Erwägungen sind auf die Geschäftsordnung des Kreistags übertragbar.

Formelle Rechtswidrigkeit der Bestimmung

Am formell rechtmäßigen Zustandekommen der Bestimmung bestehen keine Zweifel.

Materielle Rechtswidrigkeit der Bestimmung

In materiell-rechtlicher Hinsicht stellt sich die Frage, ob die Bestimmung in § 1a der Geschäftsordnung des Kreistags die mit dem Recht des einzelnen Kreistagsabgeordneten aus § 28 Abs. 1 HKO i.V.m. § 242 BGB analog korrespondierende Pflicht des Kreistags verletzt, sich organtreu zu verhalten.

Dafür ist zunächst im Wege der Auslegung analog §§ 133, 157 BGB zu bestimmen, ob es sich bei der Bestimmung in § 1a der Geschäftsordnung inhaltlich um eine verbindliche Geschäftsordnungsbestimmung handelt, die dem Kreistag zuzurechnen ist, oder ob es sich – wie von der Kreistagsvorsitzenden V vorgetragen – um eine bloße politische Absichtserklärung der vier im Kreistag vertretenen Fraktionen und Einzel-Abgeordneten handelt. Das Verständnis als politische Absichtserklärung legt der Wortlaut der Bestimmung nahe, demzufolge gerade die im Kreistag vertretenen Fraktionen und Einzel-Abgeordneten erklären, eine künftige Zusammenarbeit mit Kreistagsabgeordneten der A-Partei auszuschließen. Allerdings sind in die Auslegung auch die Begleitumstände der Erklärung einzubeziehen. Die Fraktionen und die übrigen Kreistagsabgeordneten haben gerade nicht die Form einer gemeinsamen Erklärung gewählt, die sie innerhalb oder außerhalb einer Sitzung des Kreistags hätten abgeben können, sondern die Form einer Bestimmung der Geschäftsordnung. Die Geschäftsordnung soll die inneren Angelegenheiten des Kreistags nach § 32 S. 2 HKO i.V.m. § 60 Abs. 1 S. 1 HGO gerade „regeln“. Die Kreistagsabgeordneten beschließen die Geschäftsordnung, unterwerfen sich ihr und können umgekehrt beanspruchen, dass sich auch andere Kreistagsabgeordnete an die Geschäftsordnung halten. Bestimmungen der Geschäftsordnung sind daher nicht die Handlungsform für gemeinsame Absichtserklärungen von Fraktionen oder Einzel-Abgeordneten. Vielmehr macht sich der Kreistag die Erklärung mit dem Mehrheitsbeschluss zu eigen und versieht sie als Teil der Geschäftsordnung mit Verbindlichkeit. Nach alledem ist § 1a der Geschäftsordnung nicht im Sinne einer bloßen politischen Absichtserklärung der im Kreistag vertretenen Fraktionen und Einzel-Abgeordneten zu verstehen.Vgl. VG Düsseldorf, BeckRS 2022, 12390 (Rn. 39 ff.) zu einem ähnlichen Beschluss einer Gemeindevertretung.

Damit stellt sich die Frage, ob § 1a der Geschäftsordnung zu einem Verhalten verpflichtet, das gegenüber den beiden Abgeordneten der A-Partei nicht hinreichend organtreu ist. Die beiden Abgeordneten haben aufgrund des Beschlusses zu befürchten, dass nicht nur die Fraktionen und Einzel-Abgeordneten als solche eine Zusammenarbeit verweigern, sondern dass auch der Kreistag als Organ und seine Organteile die Arbeit der beiden Abgeordneten der A-Partei blockieren und die beiden ausgrenzen. Im Übrigen droht eine Ausgrenzung auch von der Kreistagsvorsitzenden V, die zwar eigentlich nach § 31 Abs. 4 S. 1 HKO dazu verpflichtet ist, die Arbeiten des Kreistags gerecht und unparteiisch zu fördern, die aber durch die Bestimmung in § 1a der Geschäftsordnung an einem solchen unparteiischen Verhalten gegenüber A gehindert wird. All das wird dazu führen, dass die beiden Abgeordneten der A-Partei nicht effektiv und öffentlichkeitswirksam an der politischen Willensbildung im Landkreis L mitwirken können. Die Bestimmung in § 1a der Geschäftsordnung des Kreistags verstößt also gegen die Pflicht des Kreistags, sich organtreu zu verhalten.

Zwischenergebnis

Die Bestimmung in § 1a der Geschäftsordnung des Kreistags über den Ausschluss der Zusammenarbeit mit Abgeordneten der A-Partei ist wegen Verstoßes gegen höherrangiges Recht unwirksam und damit ungültig.

§ 5a: Ausschluss der Öffentlichkeit bei Anträgen von Abgeordneten der A-Partei

Zu prüfen ist weiter, ob die Bestimmung in § 5a der Geschäftsordnung des Kreistags über den Ausschluss der Öffentlichkeit bei Anträgen der Abgeordneten der A-Partei ungültig ist.

Ermächtigungsgrundlage

Auch für diese Bestimmung folgt die Ermächtigungsgrundlage aus § 32 S. 2 LKO i.V.m. § 60 Abs. 1 S. 1 HGO.

Formelle Rechtswidrigkeit der Bestimmung

Am formell rechtmäßigen Zustandekommen der Bestimmung bestehen keine Zweifel.

Materielle Rechtswidrigkeit der Bestimmung

In materiell-rechtlicher Hinsicht stellt sich die Frage, ob die Bestimmung in § 5a der Geschäftsordnung des Kreistags die Vorschriften in § 32. S. 2 HKO i.V.m. § 52 Abs. 1 S. 2 und S. 3 HGO verletzt. Nach § 52 Abs. 1 S. 2 HGO kann die Gemeindevertretung für einzelne Angelegenheiten die Öffentlichkeit ausschließen. § 52 Abs. 1 S. 3 HGO bestimmt, dass Anträge auf Ausschluss der Öffentlichkeit in nichtöffentlicher Sitzung begründet, beraten und entschieden werden; die Entscheidung kann in öffentlicher Sitzung getroffen werden, wenn keine besondere Begründung oder Beratung erforderlich ist.

(1) Beschränkung auf einzelne Angelegenheiten

§ 52 Abs. 1 S. 2 HGO beschränkt den Ausschluss der Öffentlichkeit auf „einzelne Angelegenheiten“. Was mit einzelnen Angelegenheiten gemeint ist, besagt das Gesetz nicht. Der Wortlaut deutet an, dass die Öffentlichkeit jedenfalls nicht pauschal für die gesamte Sitzung noch für bestimmte Gattungen von Angelegenheiten ausgeschlossen werden darf.So auch Engels, in: BeckOK Kommunalrecht Hessen, 01.11.2022, § 52 HGO Rn. 10. Das wird auch deutlich durch den systematischen Bezug zu § 52 Abs. 1 S. 3 HGO, wonach Anträge auf Ausschluss der Öffentlichkeit jeweils in nichtöffentlicher Sitzung begründet, beraten und entschieden werden: Erkennbar wird die gesetzgeberische Vorstellung, dass eine Entscheidung über den Ausschluss der Öffentlichkeit im jeweiligen Einzelfall erfolgt.

Anträge, die von Abgeordneten der A-Partei gestellt werden, können inhaltlich völlig unterschiedlicher Natur sein. § 5a der Geschäftsordnung erfasst daher mit „Anträge[n] der Abgeordneten der A-Partei“ inhaltlich eine unbestimmte Vielzahl von Angelegenheiten. Diese Angelegenheiten lassen sich, außer dass sie von Abgeordneten der A-Partei stammen, nicht einmal gattungsmäßig individualisieren. § 5a der Geschäftsordnung ist daher nicht im Sinne von § 32 S. 2 HKO i.V.m. § 52 Abs. 1 S. 2 HGO auf einzelne Angelegenheiten beschränkt.

(2) Erfordernis eines sachlichen Grunds für den Ausschluss

Weitere Anforderungen als die Beschränkung auf einzelne Angelegenheiten sind dem Wortlaut des § 52 Abs. 1 S. 2 HGO nicht zu entnehmen. Bei der Auslegung ist aber auch die verfassungsrechtliche Ableitung des Öffentlichkeitsgrundsatzes zu berücksichtigen: Der Grundsatz der Öffentlichkeit folgt, wie im Rahmen der Antragsbefugnis dargestellt, aus dem verfassungsrechtlichen Demokratieprinzips (Art. 28 Abs. 1 GG) und soll Interesse, Verständnis, Vertrauen und Kontrollmöglichkeiten der Bürger fördern und gewährleisten. Eine Abweichung von diesem Grundsatz muss daher zum einen die Ausnahme und zum anderen sachlich begründet sein.VGH Kassel, NVwZ-RR 2009, 531 (533).

Ein sachlicher Grund kann darin liegen, dass der Schutz des allgemeinen Wohls oder berechtigte Interessen Dritter einen Ausschluss der Öffentlichkeit verlangen.Lange/Schöndorf-Haubold, in: Hermes/Reimer (Hrsg.), Landesrecht Hessen, 10. Aufl. 2022, § 4 Rn. 59. Berechtigte Interessen Einzelner können darin liegen, dass persönliche oder wirtschaftliche Verhältnisse zur Sprache kommen können, an deren Kenntnis kein berechtigtes Interesse der Allgemeinheit bestehen kann und deren Bekanntgabe für den Einzelnen nachteilig sein könnte.Lange/Schöndorf-Haubold, in: Hermes/Reimer (Hrsg.), Landesrecht Hessen, 10. Aufl. 2022, § 4 Rn. 59. Solche Interessen sind vorliegend nicht pauschal für alle Anträge von Abgeordneten der A-Partei erkennbar. Zum öffentlichen Wohl zählen vor allem die Interessen des Landkreises und anderer öffentlich-rechtlicher Körperschaften.Vgl. Engels, in: BeckOK Kommunalrecht Hessen, 01.11.2022, § 52 HGO Rn. 12 f. Denkbar ist hier allein, ein Interesse des Landkreises daran anzuerkennen, dass – wie von G vorgetragen – „zerstörerisches und rechtes Gedankengut“ von Abgeordneten der A-Partei kein öffentliches Gehör erhält. Allerdings ist der Kreistag als Forum der politischen Auseinandersetzung und Willensbildung ein Ort der Rede und Gegenrede. Ziel dieser Auseinandersetzung ist es, andere mit rationalen Argumenten von der Wahrheit und Richtigkeit der eigenen Auffassung zu überzeugen oder sich von den Ansichten anderer überzeugen zu lassen. Genau dieser Diskurs – wie auch der Umgang der Mehrheit mit Vertretern der Minderheit – soll grundsätzlich öffentlich stattfinden. Dass die Abgeordneten der A-Partei Meinungen äußern, die der Mehrheit in der Gemeindevertretung und möglicherweise auch der Mehrheit der Kreisangehörigen unliebsam sind, bedeutet nicht, dass der Kreistag und die Kreisangehörigen die Äußerung dieser Meinungen nicht grundsätzlich zu ertragen hätten. Umgekehrt müssen Gleichgesinnte grundsätzlich beanspruchen können, dass diejenigen Meinungen, die sie mit den gewählten Kreistagsabgeordneten teilen, grundsätzlich öffentliches Gehör finden können. Dass die Abgeordneten der A-Partei ihre Meinung im Rahmen von selbst gestellten Anträgen nicht öffentlichkeitswirksam zu Gehör bringen können sollen, ist daher kein berechtigtes Interesse des Kreistags und zählt damit auch nicht zum öffentlichen Wohl. Der Ausschluss der Öffentlichkeit lässt sich damit nicht in dieser Pauschalität sachlich begründen.

(3) Ausschluss durch gesonderten Beschluss

Schließlich stellt sich die Frage, ob der Kreistag mit einer Bestimmung in der Geschäftsordnung die Öffentlichkeit unmittelbar ausschließen kann, sodass ein gesonderter Beschluss über den Ausschluss im jeweiligen Einzelfall nicht erforderlich ist.

§ 32 S. 2 HKO i.V.m. § 52 Abs. 1 S. 3 HGO regelt das Verfahren für den Ausschluss der Öffentlichkeit, indem die Vorschrift einen Antrag, eine Begründung, eine Beratung und eine Entscheidung verlangt, und zwar grundsätzlich in nichtöffentlicher Sitzung. Die Vorschrift macht damit – wie schon oben dargelegt – die gesetzgeberische Vorstellung erkennbar, dass eine Entscheidung über den Ausschluss der Öffentlichkeit durch Beschluss im jeweiligen Einzelfall erfolgt. Dem Wortlaut des § 32 S. 2 HKO i.V.m. § 52 Abs. 1 S. 3 HGO lässt sich nicht entnehmen, dass von dieser Regelung in der Geschäftsordnung abgewichen werden könnte. Dagegen spricht vor allem der Umstand, dass eine hinreichende, dem § 52 Abs. 1 S. 2 HGO gerecht werdende Individualisierung der Angelegenheit in der Geschäftsordnung schwierig erscheint und eine einzelfallbezogene Begründung, deren es nach § 52 Abs. 1 S. 3 HGO und aufgrund der verfassungsrechtlichen Fundierung des Öffentlichkeitsgrundsatzes bedarf,Das Erfordernis einer einzelfallbezogenen Begründung hebt auch der VGH Kassel, NVwZ-RR 2009, 531 (533) hervor. kaum möglich ist. Denkbar ist daher zwar, dass die Geschäftsordnung eine Rahmenordnung für den Umgang mit der Öffentlichkeit schafft und auch „einzelne Angelegenheiten“ benennt, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden sollen. Es bedarf dann aber trotzdem im jeweiligen Einzelfall einer gesonderten Begründung, Beratung und Entscheidung durch Beschluss im Sinne von § 52 Abs. 1 S. 3 HGO, um die Öffentlichkeit wirksam auszuschließen.Engels, in: BeckOK Kommunalrecht Hessen, 01.11.2022, § 52 HGO Rn. 10.

Unmittelbar durch die Geschäftsordnung kann der Kreistag die Öffentlichkeit damit nicht ausschließen. Insoweit verstößt die Bestimmung in § 5a der Geschäftsordnung des Kreistags gegen § 32 S. 2 HKO i.V.m. § 52 Abs. 1 S. 3 HGO.

(4) Zwischenergebnis

§ 5a der Geschäftsordnung des Kreistags verletzt die Vorschriften in § 32 S. 2 HKO i.V.m. § 52 Abs. 1 S. 2 und S. 3 HGO und ist damit materiell rechtswidrig.

Zwischenergebnis

Die Bestimmung in § 5a der Geschäftsordnung des Kreistags über den Ausschluss der Öffentlichkeit bei Anträgen der Abgeordneten der A-Partei ist wegen Verstoßes gegen höherrangiges Recht unwirksam und damit ungültig.

Ergänzung von § 8: Anforderungen an die Mindeststärke und Zusammensetzung einer Fraktion

Schließlich ist zu prüfen, ob die Ergänzung von § 8 der Geschäftsordnung des Kreistags ungültig ist, wonach Fraktionen eine Mindeststärke von fünf Abgeordneten besitzen und Mitglieder einer Fraktion derselben Partei angehören müssen.

Ermächtigungsgrundlage

§ 26a Abs. 1 S. 3 HKO bestimmt, dass unter anderem das Nähere über die Bildung einer Fraktion und die Fraktionsstärke in der Geschäftsordnung zu regeln ist. Die Vorschrift dient somit als Ermächtigungsgrundlage für die Ergänzung von § 8 der Geschäftsordnung des Kreistags.

Formelle Rechtswidrigkeit der Bestimmung

Am formell rechtmäßigen Zustandekommen der Bestimmung bestehen keine Zweifel.

Materielle Rechtswidrigkeit der Bestimmung

In materiell-rechtlicher Hinsicht stellt sich die Frage, ob der Kreistag dazu befugt war, zu verlangen, dass Mitglieder einer Fraktion derselben Partei angehören müssen, und die Mindestfraktionsstärke abweichend § 26a Abs. 1 S. 4 HKO auf fünf Kreistagsabgeordnete festzusetzen, obwohl § 26a Abs. 1 HKO keine entsprechende Bestimmung enthält.

(1) Zugehörigkeit der Mitglieder zur selben Partei

§ 26a Abs. 1 S. 3 HKO verhält sich nicht ausdrücklich dazu, ob der Kreistag in der Geschäftsordnung vorsehen darf, dass Mitglieder einer Fraktion derselben Partei angehören müssen. Der Wortlaut in § 26a Abs. 1 S. 1 HKO, demzufolge sich „Kreistagsabgeordnete“ zu einer Fraktion zusammenschließen können, nimmt auf eine Parteizugehörigkeit jedenfalls keine Rücksicht.Ogorek, in: BeckOK Kommunalrecht Hessen, 01.11.2022, § 26a HKO Rn. 7. Die Frage ist daher anhand der Funktionen der Fraktionen zu beantworten, die zugleich den Zweck von § 26a HKO konturiert.

Das Recht zur Bildung von Fraktionen ist Teil des Grundsatzes des Minderheitenschutzes, der sich seinerseits aus dem Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 2, Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG) ableiten lässt. Der Grundsatz des Minderheitenschutzes verlangt eine organisatorische und verfahrensmäßige Gestaltung in der Volksvertretung, die es auch Minderheiten ermöglicht, nicht nur Bedenken und Kritik an den Vorstellungen der Mehrheit anzubringen, sondern auch eine eigene politische Auffassung wirksam zu vertreten. Dazu gehört auch die Möglichkeit, Rechte kollektiv auszuüben, insbesondere durch Bildung von Fraktionen.VGH Kassel, NVwZ 1984, 54; Ogorek, in: BeckOK Kommunalrecht Hessen, 01.11.2022, § 36 HGO Rn. 11 (mit Blick auf die Fraktionen der Gemeindevertretung). Auch auf die Handlungsfähigkeit des Kreistags wirkt sich die Existenz von Fraktionen insoweit positiv aus, als eine kollektive Vorbereitung der Willensbildung in Gruppen politisch Gleichgesinnter den Meinungs- und Entscheidungsprozess fördert und dieser Bündelungseffekt die Arbeit im Kreistag strafft und konzentriert.VGH Kassel, LKRZ 2007, 262 (264); BeckRS 2007, 25879.

Diese Funktionen der Fraktionen zeigen, dass sich Fraktionen aus politisch Gleichgesinnten zusammensetzen müssen.Ogorek, in: BeckOK Kommunalrecht Hessen, 01.11.2022, § 26a HKO Rn. 7. Nur dann kann ein Mitglied einer Fraktion seine Bedenken und Kritik gerade durch das Zusammenwirken mit anderen wirksamer vorbringen als allein und nur dann kommt es tatsächlich zu einem Bündelungseffekt, der nicht durch zahlreiche abweichende Stimmen innerhalb einer Fraktion gestört wird. Dafür ist erforderlich, aber auch ausreichend, dass sich die Mitglieder einer Fraktion hinsichtlich der zentralen Fragen einig sind, dass also von einem politischen Grundkonsens ausgegangen werden kann. Da sich aber auch verschiedene Parteien oder einzelne Mitglieder verschiedener Parteien hinsichtlich zentraler Fragen einig sein können, gibt es keinen sachlichen Grund dafür, zu verlangen, dass die Mitglieder einer Fraktion derselben Partei angehören müssen.Ogorek, in: BeckOK Kommunalrecht Hessen, 01.11.2022, § 26a HKO Rn. 7. Gerade das Beispiel aus dem Landkreis L zeigt, dass zwei Parteien dem gleichen politischen Spektrum zuzurechnen sein können und diese Parteien – trotz extremer Ausprägung bestimmter Standpunkte bei der einen Partei – einen politischen Grundkonsens haben können.

Nach alledem ergibt sich aus § 26a Abs. 1 S. 3 HKO kein Recht des Kreistags, in der Geschäftsordnung vorzusehen, dass Mitglieder einer Fraktion derselben Partei angehören müssen.VG Darmstadt, NVwZ 1983, 494 f. (mit Blick auf die entsprechende Fragestellung bei Fraktionen der Gemeindevertretung).

(2) Mindestfraktionsstärke von fünf Kreistagsabgeordneten

§ 26a Abs. 1 S. 4 HKO bestimmt, dass eine Fraktion aus mindestens drei Kreistagsabgeordneten bestehen muss, und deutet für sich genommen auf eine unveränderliche Regel hin. Indessen besagt § 26a Abs. 1 S. 3 HKO, dass der Kreistag die Fraktionsstärke in der Geschäftsordnung regeln darf. Mit Blick auf die „Fraktionsstärke“ würde die Regelung leerlaufen, wenn sich aus ihr nicht die Befugnis ergeben würde, von § 26a Abs. 1 S. 4 HKO abzuweichen. § 26a Abs. 1 S. 3 HKO begründet damit ein Recht des Kreistags, in der Geschäftsordnung eine abweichende Mindestfraktionsstärke festzulegen.VGH Kassel, NVwZ 2007, 107 (108). S. auch Ogorek, in: BeckOK Kommunalrecht Hessen, 01.11.2022, § 36 HGO Rn. 11 (mit Blick auf die entsprechende Fragestellung bei Fraktionen der Gemeindevertretung).

Der Kreistag hat bei der Festlegung der Mindestfraktionsstärke ein weites Ermessen. Dieses Ermessen wird aber rechtlich insbesondere durch den aus dem aus dem Demokratieprinzip abzuleitenden Grundsatz des Minderheitenschutzes begrenzt. Mit dem Grundsatz des Minderheitenschutzes ist die Festlegung der Mindestfraktionsstärke auf fünf Kreistagsabgeordnete nur dann vereinbar, wenn sie verhältnismäßig und nicht subjektiv willkürlich bzw. missbräuchlich ist.

Vertiefungshinweis zu den rechtlichen Grenzen der Festlegung einer Mindestfraktionsstärke

Der VGH Kassel stellt den Grundsatz des Minderheitenschutzes, den aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3, Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG) abzuleitenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und das aus den verfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgeboten folgende Willkürverbot als drei gesonderte rechtliche Grenzen in den Raum.VGH Kassel, LKRZ 2007, 262 (264); BeckRS 2007, 25879. Jedenfalls der Grundsatz des Minderheitenschutzes und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit lassen sich aber sinnvoll zusammen prüfen, weil der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gerade als Maßstab dient, um die widerstreitenden Interessen – Minderheitenschutz und Handlungsfähigkeit des Kreistags – auszugleichen. Mit anderen Worten: Ist die Regelung unverhältnismäßig, verstößt sie gerade deshalb gegen den Grundsatz des Minderheitenschutzes. Aus dem Grundsatz des Minderheitenschutzes lässt sich zudem – wie auch aus den verfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgeboten, die in den Entscheidungen des VGH Kassel aber nicht näher normativ angeknüpft werden – auch die Anforderung ableiten, dass die Einschränkung nicht subjektiv willkürlich bzw. missbräuchlich sein darf. Daher erscheint es auch sinnvoll, diese weitere rechtliche Grenze im Zusammenhang mit dem Grundsatz des Minderheitenschutzes zu prüfen. Zwingend ist das aber nicht.

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt, dass die Festlegung der Mindestfraktionsstärke auf fünf Kreistagsabgeordnete geeignet, erforderlich und angemessen ist, um ein legitimes Ziel zu verfolgen. Als legitimes Ziel kommt die Handlungsfähigkeit des Kreistags in Betracht. Kreistage weisen je nach Einwohnerzahl eine unterschiedliche Zahl an Abgeordneten auf (§ 25 Abs. 1 HKO). Da bei der Kreistagswahl keine Sperrklausel (etwa Fünf- oder Drei-Prozent-Hürde) besteht, ist es insbesondere in großen Kreistagen möglich, dass eine Vielzahl von Parteien mit nur wenigen Kreistagsabgeordneten in den Kreistag einzieht und sich bei einer niedrigen Mindestfraktionsstärke zahlreiche Kleinstfraktionen bilden. Eine Vielzahl an Fraktionen kann angesichts der besonderen Fraktionsrechte – insbesondere des Rechts zur Benennung der Ausschussmitglieder (§ 33 Abs. 2 HKO i.V.m. § 62 Abs. 2 S. 2 HGO), des Anspruchs auf Einrichtung eines Akteneinsichtsausschusses (§ 29 Abs. 2 S. 2 a.E. HKO) und des Anspruchs auf Fraktionsfinanzierung (§ 26a Abs. 4 S. 1 HKO) – die Handlungsfähigkeit des Kreistags beeinträchtigen. Die Handlungsfähigkeit des Kreistags ist damit unter diesem Gesichtspunkt ein legitimes Ziel.VGH Kassel, BeckRS 2008, 38547.

Da die Festlegung einer höheren Mindestfraktionsstärke die Zahl der Fraktionen verringern kann und im Fall des Kreistags des Landkreises L tatsächlich auch von potenziell fünf auf vier Fraktionen verringert, ist sie auch geeignet, das legitime Ziel zu verfolgen. Ein milderes Mittel wäre die Erhöhung der Mindestfraktionsstärke nur auf vier Kreistagsmitglieder. Da sich aber die Ergänzung von § 8 der Geschäftsordnung schon insoweit als unwirksam erwiesen hat, als sie verlangt, dass die Mitglieder einer Fraktion derselben Partei angehören, könnten sich bei einer Mindestfraktionsstärke von vier Kreistagsabgeordneten fünf statt nur vier Fraktionen bilden. Diese niedrigere Mindestfraktionsstärke wäre also nicht gleich geeignet. Die Festlegung der Mindestfraktionsstärke von fünf Kreistagsabgeordneten ist damit auch erforderlich.

Die Prüfung der Angemessenheit erfordert eine Abwägung der widerstreitenden Interessen. Dabei gilt: Je höherrangig das beeinträchtigte Interesse und je intensiver die Beeinträchtigung, desto gewichtiger muss das zu schützende Interesse und desto höher auch der Nutzen für dieses Interesse sein. Welche Bedeutung die (hier erschwerte) Bildung von Fraktionen als Teil des Statusrechts der Abgeordneten für den Minderheitenschutz einnimmt, wurde schon dargelegt. Damit gleichrangig ist das geschützte Interesse der Handlungsfähigkeit des Kreistags. Mit Blick auf die Intensität der Beeinträchtigung ist zu berücksichtigen, dass den betroffenen vier Kreistagsabgeordneten alle übrigen Abgeordnetenrechte verbleiben. An Ausschusssitzungen können sie immerhin als Zuhörer teilnehmen (§ 33 Abs. 2 HKO i.V.m. § 62 Abs. 4 S. 3 HGO). Dennoch ermöglichte die Bildung einer Fraktion eine noch wirksamere Vertretung der eigenen politischen Auffassung dadurch, dass Rechte kollektiv ausgeübt werden könnten. Und die Hürde von fünf Kreistagsabgeordneten ist bei einer Abgeordnetenzahl von 51 (§ 25 Abs. 1 HKO) und damit einem nötigen Prozentsatz von fast 10 % der Kreistagsabgeordneten ziemlich hoch. Die Beeinträchtigung des Statusrechts der Abgeordneten ist damit als mindestens mittelmäßig schwer einzustufen.

Vertiefungshinweis zur absoluten Höchstgrenze der Mindeststärke

Die Höchstgrenze der Mindeststärke einer Fraktion muss sich abhängig von der Mitgliederzahl der Kommunalvertretung bestimmen. Der VGH Kassel scheint bei einer Darstellung der Rechtsprechung aus anderen Bundesländern eine Mindestfraktionsstärke von 10 % der Mitgliederzahl noch nicht für problematisch zu halten, eine Mindestfraktionsstärke von über 20 % dagegen schon.VGH Kassel, LKRZ 2007, 262 (266). Die zahlenmäßige Grenzziehung ist (naturgemäß) willkürlich und daher für die Klausur auch nicht bedeutsam. Entscheidend ist, strukturiert abzuwägen und alle Informationen des Sachverhalts aufzugreifen.

Der Nutzen der Festlegung der Mindestfraktionsstärke auf fünf Kreistagsabgeordnete erschöpft sich demgegenüber darin, dass der Kreistag weiterhin aus vier anstelle der sonst möglichen fünf Fraktionen besteht. Dass in einem Kreistag mit 51 Abgeordneten eine fünfte Fraktion die Handlungsfähigkeit des Kreistags besonders einschränken würde, ist weder ersichtlich noch vorgetragen. Auch dass sich bei einer geringeren Mindestfraktionsstärke noch weitere Fraktionen bilden könnten, ergibt sich nicht aus dem Sachverhalt. Demgegenüber könnte die Bildung einer zusätzlichen Fraktion, bestehend aus den jeweils zwei Abgeordneten der A- und der B-Partei, gerade die oben beschriebenen positiven Effekte auf die Handlungsfähigkeit des Kreistags entfalten, nämlich den Meinungs- und Entscheidungsprozess zu fördern und damit die Arbeit im Kreistag zu straffen und zu konzentrieren. Der Nutzen der Festlegung der Mindestfraktionsstärke auf fünf Abgeordnete ist also allenfalls gering. Mit Blick auf die mindestens mittelmäßig schwere Beeinträchtigung des Statusrechts der Abgeordneten und den allenfalls geringen Nutzen für die Handlungsfähigkeit des Kreistags stellt sich die Regelung damit als unangemessen und somit insgesamt unverhältnismäßig dar.

Der Kreistag hat zusätzlich dann gegen den Grundsatz des Minderheitenschutzes verstoßen, wenn die in der Geschäftsordnung getroffene Regelung zwar – wie oben gesehen – objektiv einen legitimen Zweck verfolgt, subjektiv aber nicht auf sachgerechten Erwägungen beruht, sondern willkürlich bzw. missbräuchlich ist. Davon ist vor allem dann auszugehen, wenn sich eine Regelung gegen eine bestimmte politische Gruppierung oder bestimmte Abgeordnete richtet und nur oder vorrangig darauf abzielt, deren Tätigkeit zu beeinträchtigen und sie als unerwünschte politische Kraft auszuschalten.VGH Kassel, NVwZ 1984, 54; Ogorek, in: BeckOK Kommunalrecht Hessen, 01.11.2022, § 36 HGO Rn. 11 (mit Blick auf die entsprechende Fragestellung bei Fraktionen der Gemeindevertretung). Vorliegend begründet schon der allenfalls geringe Nutzen der Festlegung der Mindestfraktionsstärke für die Handlungsfähigkeit des Kreistags den Verdacht, dass die Handlungsfähigkeit nicht das eigentliche Ziel der Regelung ist. Hinzu treten aber weitere Umstände: Der Kreistag hat die Regelung als Abschluss einer Debatte darüber erlassen, wie mit den Abgeordneten der A- und der B-Partei im Kreistag umzugehen ist. Auch faktisch greift die Regelung, soweit ersichtlich, ausschließlich in die Rechte der Abgeordneten der A- und der B-Partei ein. Schließlich wurde die Regelung auch gemeinsam mit einer weiteren Regelung erlassen, nämlich dem Verlangen, dass Mitglieder einer Fraktion derselben Partei angehören müssen. All diese Umstände begründen den durch objektive Gesichtspunkte nicht zu entkräftenden Verdacht, dass es dem Kreistag gerade darum ging, durch die Kombination der beiden neuen Regelungen zu verhindern, dass gerade die Mitglieder der A- und der B-Partei eine Fraktion bilden können. Die Festlegung der Mindestfraktionsstärke richtet sich damit gegen bestimmte Abgeordnete und ist missbräuchlich. Sie verstößt auch insofern gegen den Grundsatz des Minderheitenschutzes.

(3) Zwischenergebnis

Sowohl die Regelung, wonach Mitglieder einer Fraktion derselben Partei angehören müssen, als auch die Festlegung der Mindestfraktionsstärke auf fünf Kreistagsabgeordnete ist materiell rechtswidrig.

Zwischenergebnis

Die Ergänzung von § 8 der Geschäftsordnung des Kreistags, wonach Fraktionen eine Mindeststärke von fünf Abgeordneten besitzen und Mitglieder einer Fraktion derselben Partei angehören müssen, ist wegen Verstoßes gegen höherrangiges Recht unwirksam und damit ungültig.

Zwischenergebnis

Alle drei angegriffenen Vorschriften der Geschäftsordnung sind ungültig. Ein Normenkontrollantrag des K wäre damit vollumfänglich begründet.

Zwischenergebnis

Ein noch einzuleitender Normenkontrollantrag des K ist zulässig und begründet. Er hat damit Aussicht auf Erfolg.

Drohen gewichtiger Nachteile

Weitere Voraussetzung der Begründetheit ist, dass der Vollzug der angegriffenen Vorschriften der Geschäftsordnung vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange des K, betroffener Dritter oder der Allgemeinheit so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit einer für den K günstigen Hauptsacheentscheidung unaufschiebbar ist.

Dem K und dem anderen Kreistagsabgeordneten der A-Partei drohen beim Vollzug durch alle drei angegriffenen Bestimmungen schon in der nächsten Sitzung des Kreistags unmittelbare Nachteile; für die Abgeordneten der B-Partei betrifft das immerhin die Ergänzung von § 8 der Geschäftsordnung. Während der Dauer eines Hauptsacheverfahrens drohen die Statusrechte der betroffenen Kreistagsabgeordneten mit hoher Wahrscheinlichkeit, erheblich und wiederholt verletzt zu werden. Diese Nachteile sind angesichts der Bedeutung des Statusrechts für die freie Willens- und Entscheidungsbildung im Landkreis auch so gewichtig, dass eine Regelung, welche die angegriffenen Bestimmungen vorläufig außer Vollzug setzt, unaufschiebbar ist.

Zwischenergebnis

Der Antrag des K ist begründet.

Gesamtergebnis

Der Antrag des K ist zulässig und begründet. Er hat somit Aussicht auf Erfolg.