Sachverhalt
N ist Eigentümer eines Grundstücks in einem größeren Gebiet in Gießen, für das ein Bebauungsplan besteht. Für die Art der baulichen Nutzung findet sich bezogen auf das gesamte Plangebiet die Festsetzung „(MD)“. Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung enthält der Bebauungsplan nicht. Das Grundstück des N ist mit einem baurechtlich genehmigten Wohngebäude bebaut. Auf dem unmittelbar angrenzenden Grundstück steht ein Gebäude, das bislang als Supermarkt genutzt wurde und auch über eine Parkfläche für ein paar wenige Autos verfügt.
B ist in die Handwerksrolle eingetragene Kfz-Mechatronikerin. Sie erwirbt das angrenzende Grundstück im Frühjahr 2022 und schließt den Supermarkt, baut den Innenraum des Gebäudes um und plant, das Gebäude fortan mit einigen Gesellen als Kfz-Werkstatt zu nutzen. B beantragt am 15. Juni 2022 beim Magistrat der Stadt Gießen für diese Nutzungsänderung eine Baugenehmigung und legt alle erforderlichen Unterlagen bei. Da sie vom Magistrat in der Folge nichts hört, öffnet B am 16. September 2022 den Betrieb. Schnell zeigt sich, dass in der Umgebung ein großes Bedürfnis nach einer Kfz-Werkstatt bestand: Der größte Teil der Kunden kommt aus dem Plangebiet. Um die große Nachfrage zu decken, arbeiten B und ihre Gesellen im Schichtbetrieb auch zur Nachtzeit.
N ist über das neue Geschäft der B wenig erfreut. B ist für ihren Betrieb nämlich auf Gerätschaften angewiesen, die sehr laut und daher in den Wohnräumen des N gut zu hören sind. Unmittelbar außerhalb seines dem Grundstück der B zugewandten Fensters misst N regelmäßig Lautstärkewerte von 65 dB(A). N stellt die B daher am 18. Oktober 2022 zur Rede. B hat Verständnis für die Position des N, behauptet aber, im Besitz einer rechtsgültigen Baugenehmigung zu sein. N fällt aus allen Wolken, da der Magistrat mit ihm zu keinem Zeitpunkt in Kontakt getreten ist.
N erhebt daher am 26. Oktober 2022 Widerspruch gegen die „Baugenehmigung“ der B. Zugleich beantragt er beim Verwaltungsgericht Gießen „sofortigen Rechtsschutz“ gegen die Stadt Gießen, weil er das Treiben der B keinen Tag länger dulden wolle. N zweifelt daran, dass eine Kfz-Werkstatt in dem Plangebiet überhaupt zulässig sei. Jedenfalls aber müsse er nicht hinnehmen, dass er in diesem Maße „beschallt“ werde.
Hat der Antrag des N Aussicht auf Erfolg?
Bearbeitungshinweise:
Es ist davon auszugehen, dass die Kfz-Werkstatt nicht immissionsschutzrechtlich genehmigungsbedürftig ist.
Die für die Bearbeitung relevanten Vorschriften der sechsten Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Bundes-Immissionsschutzgesetz (Technische Anleitung zum Schutz gegen Lärm – TA Lärm) lauten:
Nr. 6 Immissionsrichtwerte
Nr. 6.1 Immissionsrichtwerte für Immissionsorte außerhalb von Gebäuden
Die Immissionsrichtwerte für den Beurteilungspegel betragen für Immissionsorte außerhalb von Gebäuden
d) in Kerngebieten, Dorfgebieten und Mischgebieten
tags 60 dB(A)
nachts 45 dB(A)
Lösungsvorschlag
Der Antrag des N hat Aussicht auf Erfolg, soweit er zulässig und begründet ist.
Zulässigkeit
Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs
Mangels aufdrängender Sonderzuweisung richtet sich die Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs nach § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO. Der Streit um die Rechtmäßigkeit der Baugenehmigung richtet sich nach Normen des öffentlichen Baurechts, das ausschließlich einen Träger öffentlicher Gewalt als solchen berechtigt und verpflichtet und damit nach der Sonderrechtslehre (modifizierten Subjektstheorie) dem öffentlichen Recht angehört. Es handelt sich daher um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit. Da nicht Verfassungsorgane um Verfassungsrecht streiten, ist die Streitigkeit auch nichtverfassungsrechtlicher Natur. Eine abdrängende Sonderzuweisung ist nicht ersichtlich. Somit ist der Verwaltungsrechtsweg eröffnet.
Statthafte Rechtsschutzform
Die statthafte Rechtsschutzform richtet sich nach dem Begehren des Rechtsschutzsuchenden (vgl. §§ 88, 122 Abs. 1 VwGO). N begehrt „sofortigen Rechtsschutz“, weil er das Treiben der B keinen Tag länger dulden will. Er will somit schnell verhindern, dass B ihr Grundstück weiterhin als Kfz-Werkstatt nutzt. Da sein Widerspruch und etwaige Hauptsacheverfahren vor dem Verwaltungsgericht zu lange dauern, um diesem Begehren abzuhelfen, ist der Antrag des N auf einstweiligen Rechtsschutz gerichtet. Für den einstweiligen Rechtsschutz hält die VwGO (neben dem ersichtlich nicht einschlägigen § 47 Abs. 6 VwGO) einerseits Anträge nach §§ 80, 80a VwGO sowie andererseits nach § 123 Abs. 1 VwGO bereit. Zu prüfen ist, welcher konkrete Antrag statthaft ist.
Abgrenzung der Anträge nach §§ 80, 80a und § 123 Abs. 1 VwGO
Zunächst ist das einstweilige Rechtsschutzverfahren nach §§ 80, 80a VwGO von dem nach § 123 Abs. 1 VwGO abzugrenzen. Nach § 123 Abs. 5 VwGO gehen Verfahren nach §§ 80, 80a VwGO einem Verfahren nach § 123 Abs. 1 VwGO vor. Anträge nach §§ 80 Abs. 5 S. 1 und 80a Abs. 3 VwGO zeichnen sich dadurch aus, dass der gerichtliche Rechtsschutz in der Anordnung oder Aufhebung der sofortigen Vollziehbarkeit eines für einen Beteiligten belastenden Verwaltungsakts bzw. umgekehrt in der Herstellung oder Aufhebung der aufschiebenden Wirkung eines Hauptsacherechtsbehelfs gegen diesen Verwaltungsakt besteht. In einem Verfahren nach §§ 80, 80a VwGO wird also stets um die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs gegen einen Verwaltungsakt gestritten.
Vertiefungshinweis zur Abgrenzung der Anträge
Gängig ist die Abgrenzungsformel, wonach ein Antrag nach §§ 80, 80a VwGO dann statthaft sei, wenn in der Hauptsache eine Anfechtungsklage statthaft ist. Mehr als eine „grobe Faustformel“ ist diese Abgrenzungsformel nicht.
Zu prüfen ist also, ob das Rechtsschutzbegehren des N darin liegt, die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs vom 26. Oktober 2022 herzustellen. Das ist dann der Fall, wenn B aus einem Verwaltungsakt im Sinne des § 35 S. 1 HVwVfG – namentlich einer Baugenehmigung (§§ 74 Abs. 1, 62 Abs. 1 S. 1 HBO) – ein Recht ableiten kann, das Grundstück als Kfz-Werkstatt zu nutzen, und der Widerspruch des N gegen diesen Verwaltungsakt keine aufschiebende Wirkung entfaltet, aufgrund deren B von dem mit dem Verwaltungsakt gewährten Recht einstweilen keinen Gebrauch machen dürfte.
Bestehen einer Baugenehmigung
Ausdrücklich wurde der B keine Baugenehmigung erteilt. Möglicherweise gilt die von B beantragte Baugenehmigung aber nach § 65 Abs. 2 S. 3 HBO i.V.m § 42a Abs. 1 S. 1 HVwVfG als erteilt.
Die Änderung der Nutzung des Grundstücks der B hin zu einer Kfz-Werkstatt der B ist nach § 62 Abs. 1 S. 1 HBO grundsätzlich genehmigungsbedürftig. Die Voraussetzungen für ein verfahrensfreies Vorhaben nach § 63 i. V. m. der Anlage zur HBO liegen nicht vor. Denkbar ist allenfalls eine Genehmigungsfreistellung nach § 64 HBO. Nach § 64 Abs. 1 S. 1 HBO bedarf unter anderem die Nutzungsänderung von baulichen Anlagen, die keine Sonderbauten sind, unter bestimmten aufgezählten Voraussetzungen keiner Baugenehmigung. Da aber der Bebauungsplan, in dessen Geltungsbereich das Grundstück der B liegt, keine Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung enthält, fehlt es im Sinne von § 64 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 HBO schon an einem Bebauungsplan im Sinne des § 30 Abs. 1 BauGB. Die Voraussetzungen der Genehmigungsfreistellung nach § 64 HBO liegen damit nicht vor. Die Nutzungsänderung ist damit baurechtlich genehmigungsbedürftig.
Da das Vorhaben immissionsschutzrechtlich nicht genehmigungsbedürftig ist, geht dem Baugenehmigungsverfahren kein anderes Genehmigungsverfahren mit Konzentrationswirkung vor.
Die Prüfung im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren nach § 65 Abs. 1 S. 1 HBO setzt ein Vorhaben voraus, das kein Sonderbau ist, sowie das Fehlen der Voraussetzungen für eine Genehmigungsfreistellung nach § 64 HBO. Bei dem Gebäude auf dem Grundstück der B handelt es sich nicht um einen Sonderbau im Sinne von § 2 Abs. 9 HBO. Die Voraussetzungen einer Genehmigungsfreistellung nach § 64 HBO liegen wie geprüft nicht vor. Somit ist der Bauantrag im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren nach § 65 BHO zu prüfen und auch die Vorschrift über die Genehmigungsfiktion anwendbar.
B hat die vollständigen Antragsunterlagen am 15. Juni 2022 beim Magistrat der Stadt Gießen eingereicht. Der Magistrat (§ 9 Abs. 2 S. 2 HGO) der Sonderstatus-Stadt Gießen (§ 4a Abs. 2 S. 2 HGO) ist die dafür zuständige untere Bauaufsichtsbehörde (§ 60 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Buchst. a), S. 3 HBO). Die Einreichung der Antragsunterlagen war das fristauslösende Ereignis. Die Frist lief damit nach § 31 Abs. 1 HVwVfG i.V.m. §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 BGB am 15. September 2022 ab. Bis zu diesem Zeitpunkt hat der Magistrat nicht über den Bauantrag entschieden Seit dem 16. September 2022 um 0 Uhr gilt die Baugenehmigung somit nach § 65 Abs. 2 S. 3 HBO als erteilt.
Es besteht also mit der fingierten Baugenehmigung ein Verwaltungsakt im Sinne des § 35 S. 1 HVwVfG, aus dem die B ein Recht ableiten kann, das Grundstück als Kfz-Werkstatt zu nutzen.
Keine aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des N
Da nach § 42a Abs. 1 S. 2 HVwVfG die Vorschriften über das Rechtsbehelfsverfahren gegen eine fingierte Genehmigung entsprechend gelten, sind in der Hauptsache Widerspruch (§ 68 Abs. 1 S. 1 VwGO) und Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO) gegen die fingierte Baugenehmigung der B statthaft. N hat gegen die Baugenehmigung am 26. Oktober 2022 Widerspruch erhoben. Nach der Grundregel des § 80 Abs. 1 S. 1, S. 2 VwGO hätte der Widerspruch des N gegen die Baugenehmigung der B eigentlich aufschiebende Wirkung. Aufgrund dessen könnte B von der Baugenehmigung während der Dauer der aufschiebenden Wirkung keinen Gebrauch machen und müsste die Nutzung vorübergehend einstellen. Eines Antrags des N nach §§ 80, 80a VwGO bedürfte es dann nicht.
Allerdings greift die Grundregel des § 80 Abs. 1 S. 1, S. 2 VwGO nicht in den Fällen des § 80 Abs. 2 S. 1 VwGO. Nach § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 212a Abs. 1 BauGB haben Widerspruch und Anfechtungsklage eines Dritten gegen die bauaufsichtliche Zulassung eines Vorhabens keine aufschiebende Wirkung. Bei der Baugenehmigung handelt es sich um eine bauaufsichtliche Zulassung, auch dann, wenn die Baugenehmigung nur fingiert ist. Somit hat der Widerspruch des N kraft Gesetzes keine aufschiebende Wirkung.
Vertiefungshinweis zu § 212a Abs. 1 BauGB
§ 212a Abs. 1 BauGB erfasst nur die „bauaufsichtliche Zulassung eines Vorhabens“. Gemeint sind damit nur die Baugenehmigung nach § 74 HBO und die Teilbaugenehmigung nach § 77 HBO, denen gestattende Wirkung zukommt, die also tatsächlich den Bau zulassen. Der Bauvorbescheid nach § 76 HBO fällt ebenso wenig in den Anwendungsbereich von § 212a Abs. 1 BauGB wie die Maßnahmen der repressiven Bauaufsicht nach §§ 80 ff. HBO.
Zwischenergebnis
Das Rechtsschutzbegehren des N liegt darin, die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs herzustellen. Damit ist das einstweilige Rechtsschutzverfahren nach §§ 80, 80a VwGO statthaft.
Ermittlung des konkreten Antrags nach §§ 80, 80a VwGO
Schließlich ist zu ermitteln, welcher Antrag nach §§ 80, 80a VwGO konkret statthaft ist. Da es sich bei der Baugenehmigung um einen Verwaltungsakt mit Doppelwirkung handelt, der also eine Person begünstigt und eine andere Person belastet, greift § 80a VwGO. Gerichtliche Anträge richten sich nach § 80a Abs. 3 VwGO. Nach § 80a Abs. 3 S. 1 VwGO kann das Gericht Maßnahmen nach den Absätzen 1 und 2 ändern oder aufheben oder solche Maßnahmen treffen.
§ 80a Abs. 1 VwGO betrifft Fälle, in denen ein Dritter einen Rechtsbehelf gegen den an einen anderen gerichteten, diesen begünstigenden Verwaltungsakt erhebt. Die Baugenehmigung ist an B gerichtet und begünstigt B. N erhebt mit dem Widerspruch als Dritter, nämlich als Nicht-Adressat, einen Rechtsbehelf gegen den Verwaltungsakt. Damit ist § 80a Abs. 1 VwGO einschlägig. Die Vorschrift unterscheidet weiter zwischen einem Antrag des Begünstigten (§ 80a Abs. 1 Nr. 1 VwGO) und einem Antrag des Dritten (§ 80a Abs. 1 Nr. 2 VwGO), wobei dieser Antrag des Dritten darauf gerichtet ist, die Vollziehung auszusetzen, das heißt die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs anzuordnen. Genau das entspricht dem Rechtsschutzbegehren des N.
Vertiefungshinweis zur Binnensystematik des § 80a VwGO
Da in der Klausur in der Regel ein Antrag bei Gericht zu prüfen ist, lässt sich grundsätzlich an § 80a Abs. 3 S. 1 VwGO anknüpfen. Für die Unterscheidung, ob es um eine Maßnahme nach Abs. 1 oder Abs. 2 geht, ist maßgeblich, wer sich im Hauptsacheverfahren gegen den Verwaltungsakt wendet. Ist der Widerspruchsführer bzw. Anfechtungskläger der Adressat des Verwaltungsakts, ist Abs. 2 einschlägig („Legt ein Betroffener gegen einen an ihn gerichteten Verwaltungsakt …“). Ist der Widerspruchsführer bzw. Anfechtungskläger demgegenüber nicht Adressat, sondern Dritter, ist Abs. 1 einschlägig („Legt ein Dritter einen Rechtsbehelf gegen den an einen anderen gerichteten […] Verwaltungsakt …“). Innerhalb des § 80a Abs. 1 VwGO unterscheiden die beiden Nummern danach, ob der begünstigte Adressat (Nr. 1) oder der Dritte (Nr. 2) den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz stellt. § 80a Abs. 2 VwGO kennt nur einen Antrag des Dritten, obwohl auch der belastete Adressat ein Bedürfnis haben kann, nämlich nach Aussetzung der sofortigen Vollziehbarkeit. Als gerichtlicher Antrag lässt sich dieser Antrag allerdings über § 80a Abs. 3 S. 2 i.V.m. § 80 Abs. 5 S. 1 Alt. 1 oder 2 VwGO herleiten.
Zwischenergebnis
Statthaft ist damit ein Antrag des N auf gerichtliche Aussetzung der sofortigen Vollziehbarkeit nach § 80a Abs. 3 S. 1, Abs. 1 Nr. 2 VwGO.
Antragsbefugnis
Eilrechtsschutz soll nur derjenige beantragen können, der auch ein Hauptsacheverfahren einleiten kann. Analog § 42 Abs. 2 VwGO muss N folglich geltend machen, durch die fingierte Baugenehmigung in seinen Rechten verletzt zu sein. Eine solche Rechtsverletzung muss zumindest möglich, das heißt nicht offenkundig ausgeschlossen sein. Nach Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG werden Inhalt und Schranken des Eigentums durch die Gesetze bestimmt. Daher kann sich N jedenfalls nicht ohne weiteres verfassungsunmittelbar auf Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG berufen.
Klausurhinweis zum Verhältnis von Zulässigkeits- und Begründetheitsprüfung
In Konstellationen der Drittanfechtung ist der Umfang der Prüfung in der Antrags- bzw. Klagebefugnis relativ groß. Das liegt daran, dass die Baugenehmigung den Nachbarn nicht adressiert. Daher lässt sich nicht einfach auf den Adressatengedanken abstellen,
Dieser Schwerpunkt ist auf die Zulässigkeits- und Begründetheitsprüfung aufzuteilen. Denn für die Antragsbefugnis reicht es schon, dass nur ein Recht des Antragsstellers möglicherweise verletzt ist. Es empfiehlt sich daher, hier dasjenige der in Betracht kommenden verletzten Rechte aufzugreifen, das sich am einfachsten herleiten lässt. Dabei kann, wenn es um Rechte aus dem Bauplanungsrecht geht, die Anwendbarkeit der Vorschrift über den jeweils einschlägigen Gebietstypen (§ 30, § 34 oder § 35 BauGB) an dieser Stelle einfach stillschweigend unterstellt, in der Begründetheit dann begründet werden. Die übrigen Rechte des Antragsstellers werden erst in der Begründetheit hergeleitet (siehe unten).
N äußert Zweifel daran, dass eine Kfz-Werkstatt in dem Plangebiet überhaupt zulässig sei. Er spricht damit die Zulässigkeit der Art der baulichen Nutzung des Grundstücks durch die B an. Vorschriften über die Art der baulichen Nutzung innerhalb des Geltungsbereichs eines Bebauungsplans finden sich unter anderem in den §§ 2–14 BauNVO, deren Anwendbarkeit wie auch Verletzung hier nicht offenkundig ausgeschlossen und damit möglich ist.
Ob §§ 2–14 BauNVO den Interessen Einzelner zu dienen bestimmt sind, ist im Wege der Auslegung zu ermitteln: Aus dem Wortlaut ergibt sich eine drittschützende Wirkung nicht unmittelbar. Ein Blick auf die Systematik der §§ 2–14 BauNVO zeigt aber, dass die Vorschriften die Möglichkeiten der Bewohner eines Plangebiets einschränken, ihr eigenes Grundstück zu nutzen. Als Folge dieser öffentlich-rechtlichen Beschränkungen können die Bewohner gegenüber anderen Bewohnern verlangen, dass diese sich ebenfalls an die Vorgaben halten. Die Interessen der Bewohner sind so miteinander verwoben (man spricht von einer „Schicksalsgemeinschaft“), dass sie wechselseitig voneinander die Einhaltung der gebietstypischen Beschränkungen einfordern können (Gebietserhaltungsanspruch).
Vertiefungshinweise zum Gebietserhaltungsanspruch
Der Gebietserhaltungsanspruch lässt sich aus allen Baugebietsvorschriften der §§ 2–14 BauNVO ableiten. Die drittschützende Wirkung besteht unabhängig davon, ob die planende Gemeinde den jeweiligen Festsetzungen überhaupt drittbarschützende Wirkung beimessen wollte: Denn der Drittschutz folgt nicht erst aus der Festsetzung im jeweiligen Bebauungsplan, sondern unmittelbar aus den §§ 2–14 BauNVO, auf die die jeweilige die planende Gemeinde keinen Einfluss nehmen kann. Indem die planende Gemeinde also ein Baugebiet im Sinne von § 1 Abs. 2 BauNVO festsetzt und damit die §§ 2–14 BauNVO nach § 1 Abs. 3 S. 2 BauNVO maßgeblich werden, entsteht der Gebietserhaltungsanspruch. Und eine Festsetzung über die Art der baulichen Nutzung, mit welcher die planende Gemeinde den Drittschutz ausdrücklich ausschließt, um die §§ 2–14 BauNVO zu „überstimmen“, verstößt gegen das Abwägungsgebot des § 1 Abs. 7 BauGB und ist damit unwirksam.
Der Gebietserhaltungsanspruch gilt grundsätzlich ausschließlich innerhalb des jeweiligen festgesetzten Baugebiets und nicht über die Grenzen eines Baugebiets hinweg. Setzt der Bebauungsplan also für eine Hälfte des Plangebiets ein reines Wohngebiet und für die andere Hälfte ein allgemeines Wohngebiet fest, kann ein Nachbar, dessen Grundstück noch im allgemeinen Wohngebiet liegt, sich nicht auf die Bestimmungen über das benachbarte reine Wohngebiet berufen, die für den Bauherrn auf dem unmittelbar angrenzenden, schon im reinen Wohngebiet liegenden Grundstück gelten. Ein ausnahmsweise planübergreifender Drittschutz zugunsten von „Plannachbarn“ setzt voraus, dass sich im Rahmen einer Auslegung des Bebauungsplanes Anhaltspunkte ergeben, dass die planende Gemeinde außerhalb des Plangebiets bestehende Belange nicht nur in die planerische Abwägung einbeziehen, sondern darüber hinaus selbstständig durchsetzbare subjektive Rechte schaffen wollte.
Da alle dinglich an Grundstücken Berechtigten im Plangebiet den Beschränkungen der §§ 2–14 BauNVO unterworfen sind, haben persönlich alle dinglich Berechtigten im Plangebiet diesen Gebietserhaltungsanspruch inne. Damit fällt N, dessen Grundstück im selben Plangebiet liegt wie das Grundstück der B, persönlich in den Schutzbereich der §§ 2–14 BauNVO. Sachlich gilt der Gebietserhaltungsanspruch unabhängig davon, ob es im Einzelfall tatsächlich zu einer spürbaren Beeinträchtigung des Anspruchsstellers kommt (sog. genereller Drittschutz). Damit fällt N auch sachlich in den Schutzbereich der §§ 2–14 BauNVO.
Unterscheidung generellen und partiellen Drittschutzes
Im Baurecht werden genereller und partieller Drittschutz begrifflich voneinander unterschieden. Genereller Drittschutz bedeutet, dass sich ein Dritter auch dann auf die Einhaltung einer Vorschrift berufen kann, wenn er selbst von einer Verletzung der Vorschrift nicht individuell in irgendeiner Weise nachteilig betroffen ist. Bloß partiellen Drittschutz entfalten demgegenüber solche Vorschriften, die eine bestimmte nachteilhafte individuelle Betroffenheit des Dritten voraussetzen (dazu noch später bei der Prüfung der Begründetheit).
Es ist somit nicht offenkundig ausgeschlossen und daher möglich, dass die fingierte Baugenehmigung den N in einem subjektiv-öffentlichen Recht verletzt. N ist antragsbefugt.
Richtiger Antragsgegner
N hat den Antrag analog § 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO zurecht gegen die Stadt Gießen als Rechtsträgerin des Magistrats gerichtet, der für die Baugenehmigung zuständig war und dem die fingierte Baugenehmigung daher zuzurechnen ist.
Beteiligungs- und Prozessfähigkeit
Der Antragssteller N ist als natürliche und nach dem bürgerlichen Recht geschäftsfähige Person (§§ 2, 104 ff. BGB) nach § 61 Nr. 1 Var. 1 VwGO beteiligungsfähig und nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 VwGO prozessfähig. Die Antragsgegnerin, die Stadt Gießen, ist als juristische Person (§ 1 Abs. 2 HGO) nach § 61 Nr. 1 Var. 2 VwGO beteiligungsfähig und lässt sich im Prozess nach § 62 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 71 Abs. 1 S. 1 HGO durch den Magistrat vertreten.
Zuständigkeit des Gerichts
Gemäß § 80a Abs. 3 S. 2 i.V.m. § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO ist das Gericht der Hauptsache für die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes zuständig. Gericht der Hauptsache ist hier gemäß §§ 45, 52 Nr. 1 VwGO i.V.m. § 1 Abs. 2 Nr. 3 HessAGVwGO das Verwaltungsgericht Gießen.
Rechtsschutzbedürfnis
Dem N fehlte es am Rechtsschutzbedürfnis, wenn eine stattgebende Entscheidung des Gerichts seine rechtliche Stellung nicht verbessern kann oder er auf andere Weise einfacher und schneller zu seinem Ziel kommt.
Erfordernis eines vorherigen behördlichen Aussetzungsverfahrens
Möglicherweise fehlt N das Rechtsschutzbedürfnis, weil er nicht zunächst einen behördlichen Antrag bei der Stadt Gießen selbst gestellt hat mit dem Ziel, die sofortige Vollziehbarkeit der Baugenehmigung auszusetzen. Ein solcher Antrag ist nach § 80 Abs. 4 S. 1 VwGO möglich und nach § 80 Abs. 6 S. 1 VwGO notwendig, auf den § 80a Abs. 3 S. 2 VwGO für Anträge nach § 80a Abs. 3 S. 1 i.V.m. § 80a Abs. 1 Nr. 2 VwGO verweist. Handelt es sich bei dem Verweis auf § 80 Abs. 6 VwGO um eine Rechtsfolgenverweisung, ist ein solcher Aussetzungsantrag nicht nur in den von § 80 Abs. 6 S. 1 VwGO genannten Fällen des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VwGO, also bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten geboten, sondern auch im vorliegenden Fall. Anderes gilt, wenn man den Verweis als Rechtsgrundverweisung versteht.
Gegen das Verständnis als Rechtsgrundverweisung spricht, dass Kosten- und Abgabenbescheide regelmäßig keine Verwaltungsakte mit Doppelwirkung sind, sodass eine Rechtsgrundverweisung auf § 80 Abs. 6 VwGO ins Leere liefe. Folge eines Verständnisses als Rechtsfolgenverweisung wäre allerdings, dass ein Aussetzungsantrag auch in den Fällen des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO erforderlich wäre, wo er wenig Sinn ergibt, weil sich die Behörde bereits mit der Frage der sofortigen Vollziehbarkeit auseinandergesetzt hat. Hinzu kommt, dass sich die Behörde auch bei einem sofortigen gerichtlichen Antrag vor der Kostenlast schützen kann, wenn sie analog § 156 VwGO die Begründetheit des Antrags sofort anerkennt. Damit sprechen die besseren Argumente für ein Verständnis als Rechtsgrundverweisung, was einen vorherigen Aussetzungsantrag entbehrlich macht.
Im Übrigen ist nach § 80 Abs. 6 S. 2 Nr. 2 VwGO ein Aussetzungsantrag jedenfalls dann nicht erforderlich, wenn eine Vollstreckung des Verwaltungsaktes droht. Bei sofort vollziehbaren Verwaltungsakten mit Doppelwirkung droht eine Vollstreckung in der Regel bereits dann, wenn der Begünstigte von der im Verwaltungsakt enthaltenen Regelung Gebrauch machen will.
N musste damit nicht vorher erfolglos einen behördlichen Aussetzungsantrag stellen.
Erfordernis einer mindestens gleichzeitigen Erhebung eines Hauptsacherechtsbehelfs
Auf die Frage, ob N mindestens gleichzeitig mit dem Antrag nach § 80a Abs. 3 S. 1 i.V.m. § 80a Abs. 1 Nr. 2 VwGO einen Hauptsacherechtsbehelf erheben muss, kommt es angesichts des bereits erhobenen Widerspruchs des N nicht an.
Keine offensichtliche Unzulässigkeit des Hauptsacherechtsbehelfs
Da jedenfalls nur ein nicht offensichtlich unzulässiger Hauptsacherechtsbehelf aufschiebende Wirkung auslösen kann, entfällt das Rechtsschutzbedürfnis für einen Antrag nach § 80a Abs. 3 S. 1, Abs. 1 Nr. 2 VwGO dann, wenn der von N erhobene Widerspruch offensichtlich unzulässig ist.
Zu prüfen ist, ob der Widerspruch verfristet und die Baugenehmigung damit bestandskräftig geworden ist. Der Widerspruch ist nach § 70 Abs. 1 S. 1 VwGO innerhalb eines Monats zu erheben, nachdem der Verwaltungsakt dem Beschwerten bekanntgegeben worden ist. Das gilt nach § 42a Abs. 1 S. 2 HVwVfG auch im Fall einer fingierten Genehmigung. Beschwert ist hier N, demgegenüber die fingierte Baugenehmigung aber nicht im Sinne von § 41 HVwVfG bekannt gegeben worden ist. Damit wurde die Widerspruchsfrist nicht in Gang gesetzt und der Widerspruch ist nicht verfristet.
Denkbar ist damit allein noch, dass N seinen Widerspruch analog § 242 BGB verwirkt hat. Die Verwirkung setzt ein Zeit- und ein Umstandsmoment voraus. Ab dem Zeitpunkt zuverlässiger Kenntniserlangung oder dem Zeitpunkt, in dem ein Nachbar zuverlässige Kenntnis von dem Bauvorhaben hätte haben müssen (Umstandsmoment), muss der Nachbar sich so behandeln lassen, als wäre ihm die Genehmigung bekannt gegeben worden. Da es dann aber dennoch an einer Rechtsbehelfsbelehrung fehlt, ist für die Erfüllung des Zeitmoments nach dem Gedanken des § 58 Abs. 2 S. 1 VwGO zu fordern, dass mindestens ein Jahr vergangen ist.
Der Widerspruch des N ist somit nicht offensichtlich unzulässig.
Kein Vorrang des Rechtswegs zu den ordentlichen Gerichten
N hat möglicherweise nachbarliche Unterlassungs- und Beseitigungsansprüche nach §§ 1004 Abs. 1, 823 Abs. 1 BGB, zu deren Durchsetzung er den Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten beschreiten könnte (§ 13 GVG). Da der öffentlich-rechtliche und der privatrechtliche Nachbarschutz aber gleichrangig nebeneinanderstehen, schließt diese Möglichkeit das Rechtsschutzbedürfnis im Verwaltungsrechtsweg nicht aus.
Zwischenergebnis
Der Antrag des N ist zulässig.
Prüfung der Beiladung unter B.?
Analog § 65 Abs. 2 VwGO ist B notwendig beizuladen, weil die begehrte Entscheidung – Aussetzung der sofortigen Vollziehbarkeit der Baugenehmigung – so gegenüber N und B nur einheitlich ergehen kann. Häufig wird vorgeschlagen, die Beiladung unter B. zwischen Zulässigkeit und Begründetheit des Rechtsbehelfs zu prüfen.
Begründetheit
Der Maßstab der Begründetheit eines Antrags auf Aussetzung der sofortigen Vollziehbarkeit nach § 80a Abs. 3 S. 1, Abs. 1 Nr. 2 VwGO lässt sich dem Gesetz nicht ausdrücklich entnehmen. Er ergibt sich aber aus der Gesamtsystematik der §§ 80, 80a VwGO, insbesondere der Vorschrift des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO (hinsichtlich der dort geforderten Interessenabwägung). Das Gericht hat eine eigene Ermessensentscheidung zu treffen, innerhalb deren es das Interesse des N an der Aussetzung der sofortigen Vollziehbarkeit mit dem öffentlichen Interesse und dem Interesse der B an der sofortigen Vollziehbarkeit der Baugenehmigung abwägt. Da die sofortige Vollziehbarkeit der Baugenehmigung nach § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 212a Abs. 1 BauGB der gesetzliche Regelfall ist, von dem N abweichen möchte, ist der Antrag des N nur begründet, wenn sein Aussetzungsinteresse das Vollziehungsinteresse überwiegt.
Klausurhinweis zum Obersatz der Begründetheit des Antrags
Der Obersatz wird hier sehr ausführlich aus der gesetzlichen Systematik hergeleitet. Diese Ausführlichkeit wird in Klausuren nicht vorausgesetzt, aber sehr positiv ins Gewicht fallen, gerade weil sich der Obersatz nicht ohne weiteres aus dem Gesetz ergibt. Der Hinweis auf die Folgenabwägung am Ende des Obersatzes kann allerdings in Klausuren unterbleiben. Zu einer solchen Abwägung wird es in der Prüfung nicht kommen, da sich die Erfolgsaussichten des Hauptsacherechtsbehelfs anhand des Sachverhalts immer beurteilen lassen werden.
Erfolgsaussichten im Hauptsacheverfahren
Der Widerspruch des N hat Aussicht auf Erfolg, soweit er zulässig und begründet ist.
Zulässigkeit des Widerspruchs
N ist nach denselben Maßstäben für den Widerspruch befugt (analog § 42 Abs. 2 VwGO) wie für den gerichtlichen Antrag auf Aussetzung der sofortigen Vollziehbarkeit (siehe oben). Der Widerspruch ist auch nicht verfristet (siehe oben). Auch im Übrigen ist nicht ersichtlich, warum der Widerspruch unzulässig sein sollte.
Begründetheit des Widerspruchs
Im Widerspruchsverfahren sind grundsätzlich Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit des Verwaltungsakts nachzuprüfen (§ 68 Abs. 1 S. 1 VwGO). Im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ist von positiven Erfolgsaussichten des Widerspruchs allerdings nach den Maßgaben, die nach § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO für die Anfechtungsklage gelten, nur dann auszugehen, wenn der angegriffene Verwaltungsakt gerade solche Vorschriften verletzt, die dem Widerspruchsführer subjektiv-öffentliche Rechte einräumen. Daher ist vorliegend nur eine Verletzung subjektiv-öffentlicher Rechte des N zu prüfen.
Klausurhinweis zum Aufbau der Begründetheitsprüfung bei der Drittanfechtung
Bei einer Anfechtung durch einen belasteten Adressaten führt wegen der Elfes-Doktrin jede Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts grundsätzlich zur Rechtsverletzung. Die Prüfung der Rechtsverletzung hat daher in solchen Klausuren keine große Bedeutung. Das ist bei der hier vorliegenden Konstellation einer Drittanfechtung durch den Nachbarn anders: Rechtsfehler des Verwaltungsakts, die nicht gerade den Dritten in seinen Rechten betreffen, bleiben folgenlos (siehe zu alledem schon den Vertiefungshinweis bei der Antragsbefugnis). Die Prüfung der Begründetheit kann daher in der Klausur auf zwei unterschiedliche Arten aufgebaut werden, die gleichrangig nebeneinanderstehen:
Man kann „klassisch“ zunächst die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts vollständig prüfen. Die festgestellten Rechtsfehler werden dann bei der Prüfung der Rechtsverletzung daraufhin untersucht, ob sie den klagenden Nachbarn in eigenen Rechten verletzten, ob also die verletzten Vorschriften den Nachbarn schützen.
Ein Schema für diesen Aufbau findet sich bei Hermes, in: Hermes/Reimer (Hrsg.), Landesrecht Hessen, 10. Aufl. 2022, § 6 Rn. 164. Nachteilig an diesem Aufbau ist, dass die Prüfung der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts anhand von Vorschriften, die letztlich keine subjektiv-öffentlichen Rechte des Nachbarn begründen, im Ergebnis überflüssig ist: Die (objektive) Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts ist, soweit gerade nicht drittschützende Vorschriften verletzt sind, für die Begründetheit der Klage irrelevant.Vor allem die gerichtliche Praxis prüft daher die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts demgegenüber nicht vollständig, sondern beschränkt sich von vornherein auf die Prüfung, ob solche Vorschriften verletzt sind, die den klagenden Nachbarn schützen. Dieser Aufbau wird hier gewählt.
Ihn empfiehlt auch Will, in: Gornig/Horn/Will, Öffentliches Recht in Hessen, 2. Aufl. 2022, 3. Teil Öffentliches Baurecht § 5 Rn. 641. Es empfiehlt sich, die nachfolgende Prüfung anhand der in Betracht kommenden Rechte des N zu gliedern und innerhalb dieser Gliederungspunkt jeweils zunächst die Anwendbarkeit der jeweiligen Vorschrift zu begründen, sodann die drittschützende Wirkung zugunsten des N herzuleiten und schließlich die Verletzung dieses Rechts zu prüfen.
Verletzung eines Rechts des N aus §§ 2–14 BauNVO (Gebietserhaltungsanspruch)
In Betracht kommt zunächst, dass die fingierte Baugenehmigung den N in einem Recht aus §§ 2–14 BauNVO verletzt. Das setzt voraus, dass die §§ 2–14 BauNVO überhaupt auf das Vorhaben der B anwendbar sind, dass die Vorschriften drittschützende Wirkung zugunsten des N entfalten und dass eine der Vorschriften der §§ 2–14 BauNVO verletzt ist.
Anwendbarkeit der §§ 2–14 BauNVO
Die Baugenehmigung ist nach § 74 Abs. 1 HBO zu erteilen, wenn dem Vorhaben keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegenstehen, die im Baugenehmigungsverfahren zu prüfen sind. Im hier einschlägigen vereinfachten Baugenehmigungsverfahren ist nach § 65 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 HBO unter anderem die Zulässigkeit des Vorhabens nach den Vorschriften des Baugesetzbuchs und aufgrund des Baugesetzbuchs zu prüfen.
Die Anwendbarkeit der §§ 30–37 BauGB setzt ein Vorhaben nach § 29 Abs. 1 BauGB voraus. Die Nutzungsänderung mit den erhöhten Lärmimmissionen kann bodenrechtliche Spannungen
Das Grundstück der B befindet sich im Geltungsbereich eines Bebauungsplans, sodass sich die Nutzungsänderung nach § 30 BauGB richtet.
Vertiefungshinweis: Inzidente Normenkontrolle
Soweit der Sachverhalt dazu Anlass gibt, ist an dieser Stelle die Wirksamkeit des Bebauungsplans inzident zu überprüfen. Ist der Bebauungsplan unwirksam, so ist er vom Verwaltungsgericht nicht zu beachten. Die Zulässigkeit des Vorhabens richtet sich dann nach § 34 oder § 35 BauGB. Zur Prüfung der Wirksamkeit eines Bebauungsplans siehe Übungsfall 5: Bloß keine Geisterstadt!
Im Geltungsbereich eines Bebauungsplans, der allein oder gemeinsam mit sonstigen baurechtlichen Vorschriften mindestens Festsetzungen über die Art und das Maß der baulichen Nutzung, die überbaubaren Grundstücksflächen und die örtlichen Verkehrsflächen enthält (sog. qualifizierter Bebauungsplan), ist ein Vorhaben nach § 30 Abs. 1 BauGB zulässig, wenn es diesen Festsetzungen nicht widerspricht und die Erschließung gesichert ist. Nach § 30 Abs. 3 BauGB richtet sich die Zulässigkeit von Vorhaben im Geltungsbereich eines Bebauungsplans, der die Voraussetzungen des § 30 Abs. 1 BauGB nicht erfüllt (einfacher Bebauungsplan), im Übrigen nach § 34 oder § 35 BauGB. Mit der Wendung „im Übrigen“ macht § 30 Abs. 3 BauGB deutlich, dass sich die Zulässigkeit nur insoweit nach § 34 oder § 35 BauGB richtet, als der Bebauungsplan keine Festsetzungen enthält. Umgekehrt formuliert: Soweit der Bebauungsplan Festsetzungen enthält, gehen diese Festsetzungen den §§ 34 und 35 BauGB vor und richtet sich die Zulässigkeit im Sinne von § 30 Abs. 1 BauGB nach diesen Festsetzungen.
Vertiefungshinweis zur Planersatzfunktion der §§ 34 und 35 BauGB
Hier wird die sog. Planersatzfunktion
Hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung findet sich im Bebauungsplan die Festsetzung „(MD)“. Damit setzt der Bebauungsplan, wie nach § 1 Abs. 2 Nr. 5 der aufgrund von § 9a BauGB erlassenen BauNVO ersichtlich, ein Dorfgebiet fest. Durch diese Festsetzung werden nach § 1 Abs. 3 S. 2 BauNVO die Vorschriften der §§ 2–14 BauNVO Bestandteil des Bebauungsplans. Das bedeutet, dass sich die zulässige Art der baulichen Nutzung nach den §§ 2–14 BauNVO bestimmt.
Drittschützende Wirkung der §§ 2–14 BauNVO zugunsten des N
Aus den §§ 2–14 BauNVO können im Geltungsbereich eines Bebauungsplans alle dinglich Berechtigten im Plangebiet unabhängig von einer individuellen Betroffenheit ein subjektiv-öffentliches Recht darauf ableiten, dass die Bauaufsichtsbehörde die Einhaltung der Vorschriften über die Art der baulichen Nutzung durchsetzt (Gebietserhaltungsanspruch, siehe oben). Die §§ 2–14 BauNVO entfalten also drittschützende Wirkung zugunsten des N.
Verletzung von §§ 2–14 BauNVO
Da der Bebauungsplan ein Dorfgebiet festsetzt, richtet sich das Vorhaben der B nach § 5 BauNVO. Der Gebietserhaltungsanspruch des N aus § 5 BauNVO ist verletzt, wenn die Nutzungsänderung der B nicht nach dieser Vorschrift zulässig ist (und nicht rechtmäßig nach § 31 Abs. 2 BauGB von den Festsetzungen befreit wurde).
Die in § 5 Abs. 2 BauNVO genannten Vorhaben sind allgemein zulässig. § 5 Abs. 3 BauNVO bestimmt, welche Vorhaben ausnahmsweise (§ 31 Abs. 1 BauGB) zugelassen werden können. Nach § 5 Abs. 2 Nr. 6 BauNVO sind unter anderem „sonstige Gewerbebetriebe“ im Dorfgebiet zulässig. Dass zu den Gewerbebetrieben auch Handwerksbetriebe zählen, lässt sich systematisch aus § 5 Abs. 1 S. 1 BauNVO ableiten. Der Beruf des Kfz-Mechatronikers ist ein Handwerksberuf; B ist in die Handwerksrolle eingetragen. Ihre Kfz-Werkstatt ist damit ein Handwerksbetrieb.
§ 5 Abs. 1 S. 1 BauNVO macht in der Zweckbestimmung des Dorfgebiets deutlich, dass Dorfgebiete der Unterbringung von „nicht wesentlich störenden Gewerbebetriebenen“ dienen. Diese Einschränkung schlägt auf § 5 Abs. 2 Nr. 6 BauNVO durch: Sonstige Gewerbebetriebe sind grundsätzlich nur dann zulässig, wenn sie nicht wesentlich stören. Diese Anforderung an die Gebietsverträglichkeit eines Vorhabens am Maßstab der Zweckbestimmung des Gebietstypen ist typisierend anhand der Art eines Betriebs, also nicht im konkreten Einzelfall wie nach § 15 Abs. 1 S. 1 BauNVO zu prüfen.
Die Nutzungsänderung hin zu einer Kfz-Werkstatt ist damit nach § 5 Abs. 2 Nr. 6 BauNVO allgemein zulässig. § 5 BauNVO ist damit nicht verletzt.
Zwischenergebnis
Die fingierte Baugenehmigung verletzt nicht den Gebietserhaltungsanspruch des N aus §§ 2–14 BauNVO.
Verletzung eines Rechts des N aus § 15 Abs. 1 S. 1 BauNVO (Gebietsprägungserhaltungsanspruch)
Möglicherweise verletzt die fingierte Baugenehmigung ein Recht des N aus § 15 Abs. 1 S. 1 BauNVO.
Anwendbarkeit des § 15 Abs. 1 S. 1 BauNVO
Nach § 15 Abs. 1 S. 1 BauNVO sind die in den §§ 2–14 BauNVO aufgeführten baulichen und sonstigen Anlagen im Einzelfall unzulässig, wenn sie nach Anzahl, Lage, Umfang oder Zweckbestimmung der Eigenart des Baugebiets widersprechen. Die Vorschrift setzt damit ein Vorhaben voraus, das nach den §§ 2–14 BauNVO an sich zulässig ist. Das ist bei dem Vorhaben der B, wie gesehen, der Fall. Damit ist § 15 Abs. 1 S. 1 BauNVO anwendbar.
Drittschützende Wirkung von § 15 Abs. 1 S. 1 BauNVO zugunsten des N
§ 15 Abs. 1 S. 1 BauNVO versteht sich als Korrektiv zu den §§ 2–14 BauNVO:
Die Vorschrift knüpft daher der Sache nach an dem Gebietserhaltungsanspruch an – sie gewährleistet aber nicht die Gebietserhaltung durch Abwehr gebietsfremder Vorhaben, sondern die Erhaltung der Gebietsprägung.
Auch der Gebietsprägungserhaltungsanspruch hängt nicht von einer individuellen Betroffenheit des Anspruchsstellers ab und wirkt damit generell drittschützend zugunsten der Eigentümer von Grundstücken im Plangebiet. Damit fällt N, dessen Grundstück im selben Plangebiet liegt, persönlich und sachlich in den Schutzbereich von § 15 Abs. 1 S. 1 BauNVO.
Verletzung von § 15 Abs. 1 S. 1 BauNVO
Dass das Vorhaben der B nach Anzahl, Lage, Umfang oder Zweckbestimmung der Eigenart des Baugebiets widersprechen würde, ist allerdings nicht ersichtlich. § 15 Abs. 1 S. 1 BauNVO ist damit nicht verletzt.
Zwischenergebnis
Die fingierte Baugenehmigung verletzt nicht den Gebietsprägungserhaltungsanspruch des N aus § 15 Abs. 1 S. 1 BauNVO.
Verletzung eines Rechts des N aus § 15 Abs. 1 S. 2 BauNVO
Anwendbarkeit des § 15 Abs. 1 S. 2 BauNVO
Nach § 15 Abs. 1 S. 2 BauNVO sind die in den §§ 2–14 BauNVO aufgeführten baulichen und sonstigen Anlagen auch dann unzulässig, wenn von ihnen Belästigungen oder Störungen ausgehen können, die nach der Eigenart des Baugebiets im Baugebiet selbst oder in dessen Umgebung unzumutbar sind, oder wenn sie solchen Belästigungen oder Störungen ausgesetzt werden. Da das Vorhaben der B nach § 5 Abs. 2 Nr. 6 BauNVO an sich zulässig ist, ist es auch an § 15 Abs. 1 S. 2 BauNVO zu messen.
Drittschützende Wirkung von § 15 Abs. 1 S. 2 BauNVO zugunsten des N
§ 15 Abs. 1 S. 2 BauNVO macht deutlich, dass der Bauherr Rücksicht zu nehmen hat. Die Norm ist somit Ausfluss des baurechtlichen Gebots der Rücksichtnahme. Diese Erkenntnis allein genügt allerdings nicht, um § 15 Abs. 1 S. 2 BauNVO drittschützende Wirkung beizumessen. Vielmehr begründet das Gebot der Rücksichtnahme im Ausgangspunkt eine rein objektive Verpflichtung des Trägers der Bauaufsichtsbehörde, die jeweils gebotene Rücksichtnahme mit öffentlich-rechtlichen Handlungsformen zu gewährleisten, also etwa bei der Erteilung einer Baugenehmigung. Das dient in erster Linie den Interessen der Allgemeinheit. Eine subjektiv-rechtliche Wirkung dergestalt, dass Einzelne vom Träger der Bauaufsichtsbehörde verlangen können, das gebotene Maß an Rücksichtnahme durchzusetzen, entfaltet das Gebot der Rücksichtnahme nur durch solche Vorschriften, bei denen sich aus individualisierenden Tatbestandsmerkmalen ein Personenkreis entnehmen lässt, der sich von der Allgemeinheit unterscheidet.
Vertiefungshinweis zur drittschützenden Wirkung des Rücksichtnahmegebots
Die vorstehenden Ausführungen sind – orientiert man sich streng an der Schutznormlehre – im Grunde selbstverständlich und zudem umständlich. Sie erklären sich historisch aus der Wandlung der dogmatischen Figur des Rücksichtnahmegebots. Mittlerweile ist anerkannt, dass sich Drittschutz im Baurecht ausschließlich aus konkreten Vorschriften des einfachen Rechts ableiten lässt und diese Vorschriften dahingehend auszulegen sind, ob sie drittschützende Wirkung entfalten oder nicht. Dass es dafür individualisierender Tatbestandsmerkmale bedarf, besagt der Sache nach schon die Schutznormlehre.
Individualisierendes Tatbestandsmerkmal in § 15 Abs. 1 S. 2 BauNVO ist die Wendung „im Baugebiet selbst oder in dessen Umgebung“. Mit diesem Merkmal macht die Vorschrift den Personenkreis bestimmbar, auf dessen Interessen Rücksicht zu nehmen ist. Zugunsten dieses Personenkreises entfaltet § 15 Abs. 1 S. 2 BauNVO damit drittschützende Wirkung.
N ist unmittelbar angrenzender Nachbar und wohnt im Baugebiet selbst; er fällt damit persönlich in den Schutzbereich von § 15 Abs. 1 S. 2 BauNVO. Sachlich setzt die Vorschrift als Ausprägung des Gebots der Rücksichtnahme voraus, dass N mit einem schutzwürdigen Belang in qualifizierter Weise individuell betroffen ist (sog. partieller Nachbarschutz).
Verletzung von § 15 Abs. 1 S. 2 BauNVO
Zur Bestimmung der von § 15 Abs. 1 S. 2 BauNVO angesprochenen Zumutbarkeitsgrenze sind die Interessen des Bauherrn, die Schutzwürdigkeit des Dritten, die Intensität der Beeinträchtigung und das, was beiden Seiten billigerweise zumutbar oder unzumutbar ist, gegeneinander abzuwägen.
Die TA Lärm sieht in Nr. 6.1 in Dorfgebieten einen Immissionsrichtwert außerhalb von Gebäuden in Höhe von 60 dB(A) tags und 45 db(A) nachts vor. Unmittelbar außerhalb seines dem Grundstück der B zugewandten Fensters misst N regelmäßig Lautstärkewerte von 65 dB(A). Dieser Wert überschreitet die Immissionsrichtwerte nach Nr. 6.1 der TA Lärm erheblich. Vor diesem Hintergrund sind die Störungen, die N aufgrund des Betriebs der Kfz-Werkstatt erleidet, nicht mehr zumutbar.
Vertiefungshinweis zur nachrangig erforderlichen einzelfallbezogenen Abwägung
Fehlt es an einer normativen Festlegung der Zumutbarkeitsgrenze wie in der TA Lärm, ist die Zumutbarkeitsgrenze im Wege einer einzelfallbezogenen Abwägung zu bestimmen (so wie in Übungsfall 3: Ganz schön hoch). Die Abwägung hat sich an der jeweiligen Situation der benachbarten Grundstücke zu orientieren. Der Gebietsart kommt in der Abwägung eine hohe, aber nicht notwendigerweise entscheidende Bedeutung zu. Liegt das Baugrundstück in einem Dorfgebiet, in dem Gewerbebetriebe nicht gänzlich ausgeschlossen sind, ist der Eigentümer eines Wohnhauses situationsbedingt nicht in demselben Maße schutzwürdig, wie er es in einem gegen gewerbliche Nutzungen vollständig abgeschirmten Gebiet wie einem reinen Wohngebiet wäre. Auch faktische Vorbelastungen können dazu führen, dass sich die Pflicht zur gegenseitigen Rücksichtnahme vermindert und Beeinträchtigungen in weitergehendem Maße zumutbar sind, als sie sonst in dem betreffenden Baugebiet hinzunehmen wären.
Mit Blick auf den vorliegenden Fall ließen sich dann unter anderem folgende Erwägungen anstellen: Das Dorfgebiet, in dem das Grundstück der B liegt, wird von den tatsächlichen Gegebenheiten her durch das auf dem Nachbargrundstück des N vorhandene Wohngrundstück mitgeprägt. Dessen Existenz ist Rechnung zu tragen. Das Wohngebäude ist in der Vergangenheit baurechtlich genehmigt worden und genießt passiven Bestandsschutz. In diesem Kontext steht das sich aus dem Bebauungsplan ergebende Recht, ein Grundstück als Handwerksbetrieb zu nutzen, unter dem Vorbehalt, dass es die Wohnqualität des Grundstücks des N nicht wesentlich beeinträchtigt. Von einer solchen wesentlichen Beeinträchtigung ist aber auszugehen, wenn die Lärmimmissionen innerhalb des Gebäudes des N gut zu hören sind.
Von der Kfz-Werkstatt der B können Störungen ausgehen, die nach der Eigenart des Baugebiets im Baugebiet selbst für N unzumutbar sind. § 15 Abs. 1 S. 2 BauNVO ist damit verletzt.
Zwischenergebnis
Die fingierte Baugenehmigung verletzt das Recht des N auf hinreichende Rücksichtnahme aus § 15 Abs. 1 S. 2 BauNVO.
Verletzung eines Rechts des N aus § 31 Abs. 2 BauGB
Auch § 31 Abs. 2 BauGB ist auf Vorhaben im Geltungsbereich eines Bebauungsplans anwendbar. Allerdings setzt die Vorschrift eine Befreiung von Festsetzungen des Bebauungsplans voraus. Da das Vorhaben der B nicht von Festsetzungen des Bebauungsplans abweicht, beurteilt sich seine Zulässigkeit nicht nach § 31 Abs. 2 BauGB.
Vertiefungshinweis zum Verhältnis von § 31 Abs. 2 BauGB zu § 15 Abs. 1 BauNVO
Hinsichtlich der Zulässigkeit eines Vorhabens nach der Art der baulichen Nutzung kann nur entweder § 15 Abs. 1 BauNVO oder § 31 Abs. 2 BauGB anwendbar sein. Denn § 15 Abs. 1 BauNVO setzt ein Vorhaben voraus, das nach den §§ 2–14 BauNVO an sich zulässig ist, während eine Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB nur dann erforderlich ist, wenn ein Vorhaben von Festsetzungen des Bebauungsplans abweicht, mit Blick auf die Art der baulichen Nutzung den §§ 2–14 BauNVO also gerade nicht entspricht. In der Klausur können beide Vorschriften angesprochen werden, aber nur eine der beiden ist im Ergebnis auch anwendbar.
Für andere Festsetzungen als diejenigen über die Art der baulichen Nutzung gilt § 15 Abs. 1 BauNVO demgegenüber nicht – § 31 Abs. 2 BauGB schon. Das bedeutet zum Beispiel, dass ein Vorhaben, das den Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung entspricht, insofern ohne weiteres zulässig ist, während ein Vorhaben, das diesen Festsetzungen widerspricht, insoweit an § 31 Abs. 2 BauGB zu messen ist.
Ein etwaiges Recht des N aus § 31 Abs. 2 BauGB ist damit nicht verletzt.
Vertiefungshinweis zur drittschützende Wirkung von § 31 Abs. 2 BauGB
§ 31 Abs. 2 BauGB bestimmt, dass unter bestimmten Voraussetzungen von den Festsetzungen des Bebauungsplans befreit werden kann. Unter anderem vorausgesetzt wird eine „Würdigung nachbarlicher Interessen“. Die Vorschrift drückt also schon ihrem Wortlaut nach deutlich ihre drittschützende Wirkung aus und zwar auch dann, wenn von Festsetzungen befreit werden soll, die ihrerseits nicht drittschützend sind.
Wer Nachbar ist, ergibt sich aus § 31 Abs. 2 BauGB nicht. Jedenfalls erfasst sind aber die an unmittelbar angrenzenden Grundstücken dinglich Berechtigen. Sachlich setzt die Vorschrift als Ausprägung des Gebots der Rücksichtnahme voraus, dass N mit einem schutzwürdigen Belang in qualifizierter Weise individuell betroffen ist (sog. partieller Nachbarschutz).
Verletzung eines Rechts des N aus § 71 Abs. 1 S. 1 HBO
Nach § 71 Abs. 1 S. 1 und S. 2 HBO soll die Bauaufsichtsbehörde die Nachbarschaft benachrichtigen und Einwendungen entgegennehmen, bevor von Vorschriften, die ihrem Schutz dienen, Abweichungen, Ausnahmen oder Befreiungen zugelassen werden. Die Vorschrift verdrängt nach § 71 Abs. 3 S. 2 HBO die allgemeinen Beteiligungsvorschriften in §§ 13 und 28 HVwVfG,
Zwischenergebnis
Die Baugenehmigung verletzt das Recht des N aus § 15 Abs. 1 S. 2 BauNVO. Der Widerspruch des N ist damit begründet.
Zusammenfassung zum bauplanungsrechtlichen Drittschutz im Geltungsbereich von Bebauungsplänen
Generell drittschützende Wirkung entfalten im Geltungsbereich eines Bebauungsplans
§ 15 Abs. 1 S. 1 BauNVO (Gebietsprägungserhaltungsanspruch).
Auf diese Vorschriften können sich alle im Plangebiet dinglich Berechtigten unabhängig von einer individuellen Betroffenheit berufen. Die Vorschriften betreffen ausschließlich die Art der baulichen Nutzung. Im Übrigen lässt sich genereller Drittschutz nur im Einzelfall aus den Festsetzungen des Bebauungsplans selbst herleiten, wenn die planende Gemeinde diesen Festsetzungen aufbauend auf dem Gedanken des wechselseitigen Austauschverhältnisses erkennbar generell drittschützende Wirkung beimessen wollte. Diese Frage stellt sich insbesondere bei Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung, über die überbaubaren Grundstücksflächen und über die Bauweise.
Partiell drittschützende Wirkung entfalten im Geltungsbereich eines Bebauungsplans
§ 15 Abs. 1 S. 2 BauNVO („Belästigungen oder Störungen im Baugebiet oder in dessen Umgebung“) und
§ 31 Abs. 2 BauGB („Würdigung nachbarlicher Interessen“).
Der geschützte Personenkreis ist im Einzelfall zu bestimmen. In der Regel geht es um dinglich Berechtigte in der näheren Umgebung. § 31 Abs. 2 BauGB betrifft nicht nur die Art der baulichen Nutzung, sondern auch andere Festsetzungen wie etwa über das Maß der baulichen Nutzung.
Zwischenergebnis
Der Widerspruch des N hat Aussicht auf Erfolg.
Zwischenergebnis
Angesichts der positiven Erfolgsaussichten des angestrengten Hauptsacheverfahrens des N überwiegt sein Aussetzungsinteresse gegenüber dem Vollziehungsinteresse der B und der Allgemeinheit. Der Antrag des N ist damit begründet.
Ergebnis
Der Antrag des N ist zulässig und begründet. Er hat Aussicht auf Erfolg.